Unter den Lehrern in der DDR kursierte folgender Witz: Dürfen Lehrer eigentlich an Gott glauben? Die Antwort: Ja – aber nur an Margot! Gemeint war natürlich die Volksbildungsministerin Margot Honecker; die von 1963 bis zur Wende im Jahr 1989 das Ministerium für Volksbildung leitete und darüber hinaus durch ihre Ehe mit dem Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker einen Sonderstatus unter allen staatlichen Funktionären genoss.
Um die Person Margot Honecker ranken sich bis heute die Gerüchte – von der Boulevard–Presse wurden ihr alle denkbaren Verfehlungen angedichtet, dort wurde sie mit dem Beinamen "Hexe Honecker" versehen, aber auch seriösere Publikationen haben in ihr oft die " blaue" Eminenz der DDR vermutet. Wohl keine Persönlichkeit der ehemaligen DDR–Funktionäre, außer Erich Mielke vielleicht, ist mit dermaßen intensivem Hass verfolgt worden. Um so wichtiger ist es, dass nunmehr eine wirklich lesenswerte und im Rahmen der Möglichkeiten objektive Biografie zu Margot Honecker vorliegt. Der Autor Ed Stuhler hat über ein Jahr in Archiven recherchiert und mit vielen Zeitzeugen gesprochen. Margot Honecker selbst hat sich allen Anfragen des Autors verweigert. So war der Autor ausschließlich auf Informationen Dritter angewiesen, wobei sich mitunter sehr schnell herausstellte, dass Berichte von Zeitzeugen oft einer Überprüfung auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen nicht standhalten. Ob es sich dabei nur um Gedächtnislücken handelt oder ob die Betreffenden bewusst falsche Angaben machten, ist nicht zu klären. Auch über zwölf Jahre nach der deutschen Einheit ist dieses Thema immer noch von einiger Brisanz, zumal Margot Honecker durchaus aufmerksam die Vorgänge in Deutschland von ihrer chilenischen Wahlheimat aus verfolgt.
Margot Honecker wurde als Margot Feist am Ostersonntag 1927 in Halle geboren. Aufgewachsen in einem kommunistischen Elternhaus, der Vater war von 1934 – 1939 in verschiedenen Gefängnissen und KZ inhaftiert, prägten sie die frühkindlichen Erfahrungen: die Hausdurchsuchungen durch die Gestapo, der frühe Tod der Mutter, aber auch die Solidarität der illegalen Roten Hilfe. Diese Erfahrungen wurden bestimmend für ihr Leben. Nie, auch nicht in der Endphase der DDR, ist sie von ihrem antifaschistischen Credo abgewichen, nie hat sie die kommunistische Ideologie in Frage gestellt. Wenn in späteren Jahren Zweifel auftauchten, hat sie, mit Blick auf ihre Kindheit und den dort gemachten Erfahrungen, immer die Grundsatzfragen gestellt.
Nach dem Ende des Krieges wird Margot Feist politisch aktiv und tritt der KPD bei. Als Jugendfunktionärin in Halle will sie die neue Ordnung durchzusetzen helfen, getreu dem Auftrag der Partei und in keiner Phase abweichend von der jeweils herrschenden Lehre. Ihre Karriere entspricht der vieler, die in diesen Jahren politische Funktionen übernehmen. Bewährt im Jugendverband FDJ, wird sie bereits 1949 Mitglied des Deutschen Volkskongresses und Abgeordnete der ersten Volkskammer der DDR. Als jüngstes Mitglied des DDR–Parlaments darf sie dem ersten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, die Blumen zu seiner Wahl überreichen und findet darüber hinaus in ihm einen Mentor, der auch in schwierigen Phasen ihrer Karriere seine schützende Hand über sie hält.
Eine andere Begegnung wird aber weit mehr Einfluss auf ihr Leben haben: Als Mitglied des Landesvorstandes der FDJ in Halle lernt sie den FDJ–Vorsitzenden Erich Honecker kennen, der sie Ende 1949 in den Zentralrat der FDJ nach Berlin holt. Zu diesem Zeitpunkt hat er gerade seine Stellvertreterin Edith Baumann geheiratet, die ein Kind von ihm erwartet. Inwieweit es bereits zu dieser Zeit ein Verhältnis zwischen Margot Feist und Erich Honecker gab, ist umstritten. Kurze Zeit später jedoch ist es offensichtlich, dass die beiden Jugendfreunde mehr als nur die politische Arbeit verbindet. Da die sozialistische Moral in dieser Frage gerade in den 1950er Jahren offiziell keine Kompromisse kennt, gerät die Karriere des FDJ–Chefs in Gefahr. Bereits 1950 schreibt Edith Honecker, geborene Baumann einen Brief an Walter Ulbricht, um diesen auf das parteischädigende Verhalten ihres Ehemannes hinzuweisen. Aber die Staatsräson entscheidet wie immer nach den politischen Erfordernissen, und Ulbricht will und kann auf seinen treuen Gefolgsmann nicht verzichten. So kommt es zur von oben abgesegneten Scheidung, und Erich und Margot dürfen mit höchster Billigung ihr Verhältnis legalisieren. Doch erst nach der Geburt ihrer Tochter Sonja 1953 und der Aufforderung, endlich " die Verhältnisse zu klären", heiraten die beiden 1955.
Margot Feist hat zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Funktion als Vorsitzende der Pionierorganisation verloren und wartet nach einem Studium an der Komsomolhochschule in Moskau auf ihre Berufung zu höheren Aufgaben. Ende 1954 ruft Walter Ulbricht daher den kommissarisch eingesetzten Bildungsminister an und fordert ihn auf, Margot Feist unterzubringen. Bis zum Jahr 1963 gelingt es ihr, in die Spitzenposition des Ministers für Volksbildung aufzusteigen. Dort regiert sie uneingeschränkt, und nicht nur ihre politische Laufbahn, sondern sicherlich auch ihre private Verbindung zu " Ulbrichts Kronprinz" helfen ihr dabei. Sie, die nie eine höhere Ausbildung absolviert hat, wird zur maßgeblichen Instanz für alle Lehrer der DDR.
Zu Beginn der 1960er Jahre, nach dem Mauerbau und der relativen Konsolidierung der DDR, beginnt eine Zeit der Reformen und des Aufbruchs. Walter Ulbricht selbst ist es, der neue Wege in Ökonomie, Kultur und auch in der Jugendarbeit gehen will. Die junge, attraktive und selbstbewusste Margot Honecker bringt einen frischen Wind in die Volksbildung. Sie gehört zu einer neuen Garde, die einen anderen Politikstil und ein anderes Selbstverständnis mitbringt als die Generation der Republikgründer. Sie wird zum Initiator einer hervorragenden Lehrerausbildung in der DDR, sie schafft die Grundlagen für die Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschulen, einem System, das auch westliche Fachleute bis heute als ein modernes Bildungskonzept ansehen. Nicht zuletzt die Übernahme vieler praktischer Erfahrungen des DDR–Bildungssystems durch Länder wie Finnland zeigt, dass diese Form der Volksbildung bis zum heutigen Tage bessere Ergebnisse hervorbringt als das Bildungssystem der alten Bundesrepublik.
Doch in der DDR bleibt das Primat der herrschenden Ideologie das Allbestimmende. Am Grundsatz " Die Partei hat immer recht" darf nicht gezweifelt werden. So schreitet die Ministerin auch schon einmal direkt ein, wenn ein Buch über die Schule in der DDR erscheinen soll, das nach ihrer Auffassung nicht mit den von ihr vorgebenden Richtlinien übereinstimmt. Bereits in der relativ liberalen Phase vor dem 11. Plenum der SED 1965 gehört sie eher der Falkenfraktion an, die im Zweifelsfall lieber verbietet als erlaubt. Nachdem Ulbricht scheitert und Erich Honecker ihn in einer "Palastrevolution" mit Hilfe der sowjetischen Genossen stürzt, ist es mit den Experimenten bald endgültig vorbei, die Stagnation regiert in allen Bereichen. Margot Honecker nimmt die Veränderungen in der DDR zwar wahr, aber bis zum Schluss bleibt sie eine treue Gefährtin ihres Mannes. Zunehmend halten Despotismus und Ignoranz auch in der "Volksbildung" Einzug.
Byzantinismus wird in den 1980er Jahren die vorherrschende Herrschaftsform in Margot Honeckers Ministerium. Sie hat sich zunehmend mit Ja-Sagern umgeben, Vorschläge von Wissenschaftlern zur Weiterentwicklung des Bildungssystems lehnt sie zumeist ab. Zunehmend werden Formen des Personenkults sichtbar. Nie hat sie sich auch von der Illusion lösen können, Staatsbürgerkunde sei entscheidet für die Erziehung treuer, der Partei ergebener Sozialisten. Dass sie das Gegenteil von dem erreicht, was sie postuliert, will sie nicht wahrhaben. Noch im Sommer 1989, als der beginnende Zerfall der DDR bereits sichtbar wurde, gibt sie in ihrer vierstündigen Grundsatzrede auf dem IX. Pädagogischen Kongress eine grandiose Fehleinschätzung der politischen Lage. Was sie theoretisch formuliert, findet praktisch keinen Eingang in das von ihr gepriesene DDR–Bildungsystem.
Beim Aufbau und bei der weiteren Ausgestaltung des Sozialismus in unserem Lande – war ein Schritt in eine neue Welt. Ein ständiger Prozess des Suchens nach den besten Wegen zur Lösung herangereifter Aufgaben. Widersprüche zu erkennen, sie als Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen und zu nutzen, das war und bleibt immer eine Aufgabe auf unserem Wege.
Das Ende kommt schneller als erwartet – im November 1989 schreibt Margot Honecker ihr Rücktrittsgesuch. Nach einer Odyssee an der Seite ihres Mannes fliegt sie schließlich 1992 nach Chile, wo ihre Tochter lebt. Seit dem Tod Erich Honeckers 1994 lebt sie zurückgezogen in ihrem Haus in Santiago de Chile.
Warum jetzt eine Biografie über Margot Honecker? Sie hat ohne Zweifel auf diese und jene Weise die Geschicke des Staates DDR nicht wenig beeinflusst. Durch "ihre" Schule sind mehrere Generationen von DDR–Kindern gegangen, die heute Bürger der Bundesrepublik sind. Ihre Biografie und die gesellschaftlichen Hintergründe haben ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Der Autor Ed Stuhler versucht alle Facetten ihres Werdegang darzustellen. So, wenn er ein spezielles Kapitel dem Verhältnis Margot Honeckers zu Wolf Biermann widmet oder dem tragischen Tod ihres Enkelkindes. Er findet interessante neue Aspekte, räumt mit diversen falschen Urteilen auf und versucht ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wahrscheinlich setzt er sich damit zwischen alle Stühle: Die wenigen letzten Getreuen der Margot Honecker werden ihn für seine Kritik verdammen, die vielen anderen werden nicht verstehen, warum man dieser Frau eine Biografie zugesteht. Es ist sehr interessant, dass ein österreichischer Verlag das Buch veröffentlicht. War ein deutscher Verlag hier nicht zu finden ob der Brisanz des Themas? Der Autor hat es sich nicht einfach gemacht. Neben der Faktenfülle war von ihm auch immer das Verhältnis von Distanz und Nähe zum Gegenstand zu beachten. Das ist ihm hervorragend gelungen. Vor allem ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich nicht zum Handlanger einseitiger Geschichtsbetrachtung machen ließ. Dass das Buch darüber hinaus durch seine gute Lesbarkeit besticht, rundet das Gesamtbild ab und sollte allen Interessierten den Kauf wert sein. Im Vorwort spricht der Autor über den ihm gemachten Vorwurf, eine solche Frau hätte eine Biografie nicht verdient: Es gehe gar nicht um Verdienst, sondern um Verdienen. Verlage stellen Bücher her, die sie glauben verkaufen zu können. Auch in diesem Sinne ist dem Buch Erfolg zu wünschen.
Wolf Dietrich Fruck über Ed Stuhler: "Margot Honecker. Eine Biografie". Das Buch erscheint im Carl Ueberreuter Verlag Wien, 208 Seiten für 19 Euro und 95 Cent.