Dienstag, 23. April 2024

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Edouard Louis: "Das Ende von Eddy"
"Ich suche die Wahrheit, indem ich die Wirklichkeit nachbaue"

Mit "Das Ende von Eddy" hat der Autor Edouard Louis vor einem Jahr in Frankreich einen Skandal verursacht. Obwohl als Roman geschrieben, weist das Buch stark autobiografische Züge auf und lässt reale Orte und Personen durchscheinen. An sich kein Problem, wenn die Figuren nicht gewalttätig, ungebildet, rassistisch und schwulenfeindlich wären.

Edouard Louis im Corso-Gespräch mit Dirk Fuhrig | 12.03.2015
    Dirk Fuhrig: Ihr Buch hat ja einen großen Aufruhr verursacht, nicht nur im literarischen Betrieb, sondern auch in der gesellschaftlichen Debatte in Frankreich und in ihrer Familie. Wie leben Sie jetzt nach diesem Jahr?
    Edouard Louis: Na ja, ich lebe genauso wie vorher, würde ich sagen. Ich schreibe an meinem neuen Buch. - Dieser Skandal letztes Jahr hat mich überhaupt nicht in dem beeinflusst, was ich tue. Wenn Sie die Geschichte der Literatur betrachten, dann sehen Sie, dass es immer wieder Anfeindungen gegen Autoren gegeben hat. - Der Ausgangspunkt für jeden, der schreibt, ist doch die Weigerung, die Welt ganz platt eins zu eins abzubilden: das zu sagen, was alle sagen; das zu sehen, was alle sehen. Ich wollte einen anderen Blick auf meine Kindheit anbieten. Auf die Gesellschaftsschicht, aus der ich stamme, auf diese Familie in Nordfrankreich, die im Elend lebt.
    "Ich finde nicht, dass ein Roman immer fiktional sein muss"
    Fuhrig: Ihr Buch ist ja eine ganz scharfe Abrechnung mit Ihrer Herkunft. Aber es ist ja auch keine Autobiografie, wie Sie immer wieder betont haben. Es steht auch Roman auf dem Umschlag. Die Öffentlichkeit, die Journalisten haben daraus aber einen Tatsachenbericht herausgelesen, herauslesen wollen. Jetzt frage ich Sie: Wie kann man mit 18 - so alt waren sie, als Sie das Buch geschrieben haben - einen solchen Roman schreiben? Heute sind Sie 22, wie kann man mit 18 Jahren einen so dichten, so ausgefeilten Roman schreiben?
    Louis: Ich wollte unbedingt, dass "Roman" auf dem Titel steht, weil ich nicht finde, dass ein Roman zwangsläufig immer fiktional sein muss. Vielleicht hat man das früher gedacht - aber umso besser, wenn man das dann eben ändert. Ein "Roman" ist für mich eine "Konstruktion", mit der ich mich meinem eigenen Leben angenähert habe. Es geht um meine eigene Kindheit. Um die von Eddy Bellegueule, der anders ist und deshalb von seiner Familie und den Mitschülern mehr oder weniger ausgestoßen wird. Mir war es dabei wichtig, die jeweilige Sprachebene richtig zu treffen - zu Hause oder in der Schule. Wenn ich über meinen Vater sage, dass er meine Homosexualität ablehnt oder dass er ein Rassist ist - dann ist das etwas völlig anderes, als wenn ich ihn selbst die echten Wörter benutzen lasse: "Schwuchtel", "Tunte" - oder Ausdrücke wie "dreckiger Araber" oder so. Dadurch habe ich versucht, der Wirklichkeit so nah wie möglich zu kommen.
    "Ich suche die Wahrheit"
    Fuhrig: Das heißt, die Sprache des Romans hat Ihnen überhaupt erst ermöglicht, eine Form, zu finden, diese Dinge so plastisch beschreiben zu können?
    Louis: Ich suche die Wahrheit, indem ich die Wirklichkeit nachbaue. Als damals der öffentliche Skandal losging, haben manche Journalisten gesagt: Das stimmt doch alles nicht. Und andere meinten: Na ja, egal "Eddy Bellegueule" ist doch nur ein Roman. Das fand ich blöd. - Ja, es ist ein Roman, aber trotzdem ist alles, was da drin steht, wahr. Ich finde, ein autobiografischer Roman ist viel kraftvoller, denn das hat jemand wirklich erlebt, auch wenn man das vielleicht kaum ertragen kann. Aber ich sage eben: Empört Euch dagegen! Nehmt eine solche Realität nicht hin!
    Fuhrig: Sie wollten ja auch eine soziale Realität darstellen – zwar einen jungen Homosexuellen, der in einem kleinen Dorf aufwächst, aber auch die soziale Realität in diesem Landstrich. Und wenn man dieses Buch durchliest, man kann es ja kaum glauben, dass noch Gegenden gibt, die geprägt sind von so einfachen, bornierten, eingeschränkten Leuten. Ist das denn wirklich noch so rückständig dort?
    Louis: Ja klar, solche Milieus gibt es. Auch wenn man das Gefühl hat, solche elenden sozialen Schichten gehören der Vergangenheit an. Aber das ist genau das Problem. Diese Lebenswelten werden in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Ich lasse meine Mutter einmal sagen: Die Arbeiter, das ist das Bürgertum: Weil sie ein regelmäßiges Einkommen haben. Die Welt, von der ich berichte, ist nicht das Proletariat - sondern eine Schicht darunter: Das "Lumpenproletariat", wie Marx es genannt hat. Mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister, die Menschen in meinem Dorf oder in meiner Schule - das alles sind Leute, von denen ansonsten nie gesprochen wird. Ich wollte ihnen eine Stimme geben.
    Dass wir nur wenig und manchmal überhaupt nichts zu essen hatten - das ist übrigens etwas, was es nicht nur bei uns in der Picardie gibt. Als ich mein Buch in den USA oder im Kosovo vorgestellt habe, habe ich gemerkt: solche sozialen Milieus gibt es dort genauso. Auch in Deutschland gibt es das bestimmt. Das Schlimme dabei ist: Irgendwann wählen diese Leute aus lauter Verzweiflung marine Le Pen. Eddys Mutter sagt: Madame Le Pen, die spricht von uns. - Natürlich täuscht sie sich. Aber: Wer spricht eigentlich über Leute wie meine Mutter? - Wozu sollen Bücher denn gut sein, wenn nicht dazu: Das, was nicht wahrgenommen wird, ins allgemeine Bewusstsein zu bringen.
    "Mir ging es um allgemeingültige Fragen"
    Fuhrig: Wenn Sie das so sagen, klingt das ja so, sie möchten diese Milieus zeigen, damit sie sichtbar werden. Aber andererseits sind Sie ja sehr gewalttätig Ihrer Familie gegenüber und den Leuten, die in dieser Gegend wohnen. Indem sie auch viele Namen direkt aussprechen. Das muss ja eine große Aggression bei den Menschen hervorgerufen haben, die müssen sich ja sehr angegriffen gefühlt haben.
    Louis: Nein, ich habe die Namen der Personen und auch des Ortes geändert, erst die Journalisten haben das nachträglich rekonstruiert. Mir ging es um allgemeingültige Fragen: um die Unterdrückung einer Persönlichkeit und wie man es schafft, ein anderer zu werden. Mit diesen Mechanismen der Unterdrückung sind wir doch alle konfrontiert: Du bist ein Schwuler, oder eine Frau, ein Araber, ein Looser, ein dreckiger Schwarzer, ein Trottel vom Land.
    Es hätte deshalb nichts gebracht, alle Namen zu nennen. Und nein, ich bin auch nie gewalttätig oder bösartig zu den Einzelnen. Ich habe versucht, allen als komplexe Persönlichkeiten gerecht zu werden. Wenn der Vater seinem Sohn vorwirft: Du bist eine Schande für unsere Familie, Du bist nicht das, was ich wollte! Das ist unglaublich gewalttätig. Aber mir ging es doch darum, das soziale System deutlich zu machen, das solche Verhaltensweisen erzeugt. Die untersten Schichten bringen immer wieder die selben Milieus hervor.
    "Dieses Angespucktwerden habe ich selbst erlebt"
    Die gesellschaftliche Gewalt ist oft nicht sichtbar, das ist das Perfide an ihr. Zum Beispiel wenn die Brüder oder die Cousins von Eddy, die die Schule abbrechen, sagen: Ach, die Schule, das ist nichts für mich. Kinder aus bürgerlichen Familien stellen sich eine solche Frage gar nicht, die machen automatisch das Abitur, jedenfalls in Frankreich. Das ist wie essen oder schlafen. Eddys Brüder machen nicht die Unterdrückung durch ein System verantwortlich, das für Kinder aus ihrem Milieu das Abitur halt einfach nicht vorsieht.
    Ich will noch einmal auf die Eingangsszene in meinem Buch zurückkommen, als der kleine Eddy von seinen beiden Mitschülern angespuckt wird.
    Dieses Angespucktwerden habe ich Tag für Tag über Wochen und Monate und Jahre selbst erlebt. Diese Demütigung, diese Erfahrung von Gewalt, ist für Eddy aber so etwas wie der Beginn seines neuen Lebens; jetzt weiß er, was er ist: Ein Schwuler, einer, der anders ist, der nicht akzeptiert wird.
    Fuhrig: Sie haben vorhin schon beschrieben, dass die Leute in der Picardie dazu neigen, aus lauter Verzweiflung heraus die Rechte, den Front National zu wählen. Nun ist die Veröffentlichung Ihres Buchs vor einem Jahr genau in eine Epoche gefallen, wo man über die Konfrontation Recht-Links hinaus eine strake Bewegung gegen die Homo-Ehe gegeben hat. Das hat das Land übe Monate hinweg gespalten. Sehen sie Ihr Buch als eine Kampfschrift gegen den Konservatismus, gegen die religiöse Rechte?
    Louis: Das war natürlich ein Zufall. Als ich das Buch begonnen hatte, war ich 18. Und das war drei Jahre, bevor diese aggressiven homophoben Demonstrationen in Frankreich losgingen. Die Veröffentlichung des Romans war fiel dann genau in diesen Moment. Ich kämpfe aber nicht gegen diese sogenannte "Manif pour tous", die Bewegung gegen die Homo-Ehe. Die ist mir völlig schnurzegal. Das sind schwulenfeindliche Faschisten und Rassisten.
    Man hat mich öfter zu Veranstaltungen über die gleichgeschlechtliche Ehe eingeladen. Ich sollte mit Gegnern diskutieren. Ich bin da nie hingegangen, denn für mich ist das keine Debatte. So wie vor 100 Jahren in den USA Schwarze und Weiße nicht heiraten durften, genauso ist es heute mit zwei Männern. Da gibt es nichts zu diskutieren. Da geht es schlicht um Diskriminierung. Was ich mit meinem Buch über Eddy zeigen wollte, ist, mit welcher Gewalt Homosexuelle in diesem Milieu unterdrückt werden. Aber auch wie stark die Unterdrückung der Frauen ist. Es kommen ja sehr viele Frauen in dem Buch vor. Ich fühlte mich mit denen irgendwie in einer Schicksalsgemeinschaft.
    Klar kämpfe ich gegen die Konservativen - aber ich diskutiere nicht über diese Fragen, denn aus meiner Sicht ist es einfach ein intellektueller Mangel, wenn man gegen die Gleichberechtigung ist.
    Der Roman "Das Ende von Eddy" ist im S. Fischer Verlag erschienen und kostet 18,99 Euro
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    Edouard Louis ist zur Zeit auf Lesereise durch Deutschland. Termine zur Lesereihe