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Edward Gibbon: Der Sieg des Islam. Eichborn Verlag.

Edward Gibbon - der britische Tacitus. Der ehrenvolle Titel verweist auf die große Bedeutung des Historikers. Sein monumentales Hauptwerk, die "Geschichte des Verfalls und Untergangs des römischen Reiches", erschien Ende des 18. Jahrhunderts und umfasst rund 3000 Seiten. Auf dem deutschen Buchmarkt ist es seit 140 Jahren vergriffen. Jetzt aber hat der Eichborn Verlag immerhin einige Kapitel wieder veröffentlicht, unter dem etwas irreführenden Titel: "Der Sieg des Islam". In schillernden Farben beschreibt Edward Gibbon das Leben Mohammeds, die Feldzüge, Triumphe und Niederlagen auf drei Kontinenten bis zum Ende des arabischen Kalifats. Ein Meisterwerk. Peter Haischer hat es für uns gelesen:

Rezensiert von Peter Haischer | 27.10.2003
    Auszüge sind immer fragwürdig. Doch manchmal bereichern sie die Diskussion um Argumente, die in der gewaltigen Textmasse eines Werkes wie dem von Gibbon wohl sonst verloren gehen würden. Was unverzeihlich wäre, denn Gibbons Deutung ist erstaunlich aktuell: Er beschreibt den Islam als Teil des westlichen Kulturkreises - eine Perspektive, die seit dem 11. September 2001 zunehmend ins Hintertreffen gerät. Lieber hört man da auf einflussreiche Politologen wie Samuel Huntington:

    Einige Politiker des Westens argumentieren, dass der Westen keine Schwierigkeiten mit dem Islam hat, sondern nur mit gewalttätigen islamistischen Extremisten. Vierzehnhundert Jahre Geschichte zeigen das Gegenteil. Die Beziehungen zwischen Islam und Christentum waren oft stürmisch. Der Konflikt zwischen liberaler Demokratie und Marxismus-Leninismus ist nur ein oberflächliches geschichtliches Phänomen verglichen mit der anhaltenden und konfliktbeladenen Beziehung zwischen Islam und Christentum.

    In seinem politischen Entwurf "Der Kampf der Kulturen" geht Huntington von der schier unaufhebbaren Differenz zwischen islamischer und christlicher Kultur aus. Diese These beruht allerdings auf einer tendenziösen Geschichtsschreibung. Denn erst die Historiker des 19. Jahrhunderts haben den Antagonismus von Islam und Christentum konstruiert. Gibbon vermittelt da ein ganz anderes Bild. Statt der Unterschiede betont er die Nähe des Islam zu den anderen monotheistischen Religionen. Ausgangspunkt ist die Biographie Mohammeds. In Mohammeds Offenbarung, so Gibbon, spielt die Vernunft eine wichtige Rolle:
    Der Prophet von Mekka verwarf die Verehrung von Götzen und Menschen, Sternen und Planeten, aus dem vernünftigen Grundsatze, dass alles, was aufgeht, sterben, was vergänglich ist, verfallen und vergehen muss. In dem Urheber des Weltalls bekannte und betete sein vernünftiger Enthusiasmus ein unendliches und ewiges Wesen ohne Gestalt und Raum an, unseren innersten Gedanken gegenwärtig, vorhanden durch die Notwendigkeit seiner eigenen Natur und aus sich selbst alle moralische und intellektuelle Vollkommenheit schöpfend.

    Um die positiven Züge des Islam noch mehr hervorzuheben, fügt Gibbon hinzu:

    Ein philosophischer Deist könnte den Volksglauben der Mohammedaner unterzeichnen.

    ... und rückt den Islam so in die Nähe des Deismus, der aufklärerischen Vernunftreligion. Nach Gibbon diskreditiert Mohammed seine vernunftgemäße Erkenntnis allerdings selbst, indem er sich als Prophet Gottes ausgibt. Damit und durch sein Machstreben begibt sich der Religionsstifter seiner Integrität. Tugend und Vernunft, für Gibbon die Pfeiler der Stabilität eines Staates, werden dem Machtdenken aufgeopfert:

    Statt einer immerwährenden und vollkommenen Urkunde des göttlichen Willens wurden die Bruchstücke des Korans nach Mohammeds Ermessen vorgebracht; jede Offenbarung ist den Anforderungen seiner Politik oder Leidenschaft angepaßt, und aller Widerspruch wird durch die rettende Maxime entfernt, dass jeder Text der Schrift durch jede folgende Stelle abgeschafft oder verändert werden könne.
    Ob Islam, Judentum oder Christentum: Alle Religionen durchlaufen dieselbe historische Entwicklung. Ihren rationalen und moralischen Anspruch zerstören sie durch ihre Anpassung an die Macht. Für den Islam heißt das, laut Gibbon: Die Vernunftreligion wird zur Kriegerreligion. Denn der Aufstieg des Islam verdankt sich der Umlenkung von Aggression nach außen:

    Die feindlichen Stämme wurden in Glauben und Gehorsam vereinigt, aber die Tapferkeit, welche in einheimischen Fehden nutzlos vergeudet worden war, mit Kraft gegen einen auswärtigen Feind gelenkt.

    Der Aufstieg wurzelte auch in der altrömischen Tugendhaftigkeit der ersten Kalifen:

    Eine kluge Mischung aus Gerechtigkeit und Güte bewahrte die Zucht der Sarazenen, und sie vereinigten durch ein seltenes Glück die Kürze und Schnellkraft des Despotismus mit den gleichen und mäßigen Grundsätzen einer republikanischen Regierung.

    Den Niedergang des arabischen Kalifats sieht Gibbon in vier Faktoren begründet: die ungebremste Dynamik der Eroberung, der übermäßige Ehrgeiz einzelner Feldherren, die innere Korruption und der zivilisatorische Einfluss benachbarter Kulturen. Er bremst die expansive Dynamik der Araber:

    Als die arabischen Eroberer sich über den Osten ausgebreitet hatten und mit den Knechtesscharen von Persien, Syrien und Ägypten vermengt worden waren, verloren sie allmählich die freiangeborenen, kriegerischen Tugenden der Wüste.

    Das Muster von Aufstieg und Fall, so Gibbons Analyse, ist für alle Imperien das gleiche. Die expansive Aggression kehrt sich schließlich irgendwann wieder nach innen. Eigennütziges Streben nach Wohlstand und Machterhalt schwächen den Expansionsdrang der Herrschenden. Das dekadente, von inneren Machtkämpfen blockierte Imperium ist schließlich seinen Feinden hilflos ausgeliefert.

    Bei aller stilistischer Brillanz interessierte sich Gibbon nicht für das bloße Nacherzählen. Er sah die Aufgabe des Historikers darin, die Mechanismen der Geschichte freizulegen. Auch für Gibbon ist die Geschichte ein "Kampf der Kulturen". Beim Studium der Gründe, die zum Niedergang der Reiche führen, gilt sein Hauptaugenmerk kulturellen Faktoren, und hier besonders der Religion - ein Standpunkt, den auch Huntington einnimmt. Doch um die Parallele zwischen dem sarazenischen und dem römischen Reich auffälliger zu machen, und den raschen Aufstieg des Islam zu erklären, hebt Gibbon die Toleranz der arabischen Eroberer gegenüber anderen Religionen hervor:
    Sie war ein wichtiges Charakteristikum der islamischen Herrschaft, das Huntington allerdings nicht besonders hoch bewertet. Für seine Deutung ist es wichtiger, die lange Feindschaft beider Religionen hervorzuheben.

    Wie Huntington seinen "Kampf der Kulturen", schrieb Gibbon das Werk in einer Zeit der Krise. Die Zeitereignisse sollten auch sein Werk zum Menetekel machen. Gibbons "Verfall und Untergang des römischen Reiches" wurde seinen Zeitgenossen zur Warnung: Unmittelbar nach Veröffentlichung des ersten Bandes 1776 begann die amerikanische Revolution. Das britische Königreich verlor wichtige Kolonien. Gibbon selbst bemerkte, er habe während des Schreibens den Niedergang zweier Weltreiche durchlebt, den des römischen und den des britischen Reiches. Die Erschütterung Großbritanniens jedenfalls war ein Grund für den großen Erfolg von Gibbons Geschichtswerk. Ein weiterer war die überragende Kenntnis und sein packender Stil, mit dem er eine ungeheure Stoffmasse darstellerisch bewältigte.

    Die schön gestaltete Neuausgabe des Eichborn-Verlages greift auf eine Übersetzung zurück, die 1837 geschlossen vorlag. Trotz ihres Alters vermittelt sie einen guten Eindruck vom lebendigen, dramatischen Stil Gibbons, der ihn zu einem Klassiker der englischen Literatur gemacht hat. Leider vermisst der heutige Leser Anmerkungen, die ihm so manche Unklarheiten des Textes erhellen könnten. Wichtige Hinweise geben zwar das vorzügliche Nachwort des Berner Islamwissenschaftlers Reinhard Schulze, eine Zeittafel und ein Register. Doch die Beigaben entschädigen nicht für fehlende Erläuterungen.

    Peter-Henning Haischer besprach Edward Gibbon: Der Sieg des Islam. Erschienen ist das Buch in der Reihe "Die Andere Bibliothek" beim Eichborn Verlag. 340 Seiten kosten 27 Euro 50.