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Egoismus, Gier, Familienhölle

Im Jahr 1908 schrieb Maxim Gorki das Stück "Die Letzten", in dem er die zaristische Gewaltherrschaft Russlands thematisiert. Auch seine verrohte und abgründige Familie ließ der Autor nicht zu kurz kommen. Diese hat Regisseur Sebastian Nübling am Schauspiel Köln nun auf Rollschuhe gestellt.

Von Dorothea Marcus | 26.05.2013
    Da sausen sie auf Rollschuhen heran, die Wege in der Expo-Halle des Schauspielhauses Köln sind sehr lang. Um den roten runden Diwan in der Mitte kreisen die Familienmitglieder des arbeitslosen, korrupten Kreispolizeichefs Iwan wie Kugeln um einen Roulettetisch, wie gierige Fliegen um ein Stück Torte. Im Diwan hat der gutmütige Onkel Jakov auch sein Geld versteckt, das er freigebig nun schon fast bis zum letzten Cent verteilt hat. Gierig, niedrig und gemein, unfähig, egoistisch und bösartig – so könnte man alle anderen charakterisieren. Die Mutter Sofja ist eine überforderte, überkostümierte Babuschka-Figur, die Älteste Nadeshda eine platinblonde, materialistische Glitzerpuppe, Sohn Sascha ein selbstgefälliger Nichtsnutz.

    Als einzige hat die verkrüppelte, zerzauste Tochter Liubow den Durchblick, von Lina Beckmann wie ein überdrehter Kobold gespielt, nicht ganz von dieser Welt, aber durch und durch verbittert und böse. Nur die beiden "Letzten", die Kinder Wera und Piotr, haben so etwas wie Unschuld bewahrt, die sich aber auch schon in Alkoholexzessen und Machtspielchen auflöst.

    Und der, der sie alle auf dem Gewissen hat, ist ihr cholerischer, korrupter Tyrannen-Vater, der hurt, säuft, schlägt und für die Verkrüppelung seiner Tochter verantwortlich ist. Markus John spielt ihn sehr schön mehrdimensional als sinnenfreudigen Lebemann und pseudofürsorglichen Vater, dem man die Verkommenheit erst auf den zweiten Blick anmerkt:

    "Ich habe mich entschlossen das Haus wohnlicher umzugestalten! Solange ich im Amt war, habe ich nicht mitbekommen, wie ekelerregend die Kinder von dir erzogen worden sind. Erstens: Das Fenster zur Straße muss zugemauert werden. Liubow muss arbeiten. Heiraten kann sie ja nicht."

    "Weil Du Schuld an diesem Buckel bist!"

    "Ach Gott, jetzt kommt das wieder ... das hast du mir schon 20.000 Mal aufs Butterbrot geschmiert ... vielleicht hast du es ihr sogar gesteckt, und sie ist deshalb so bösartig."

    "Ich hab ihr gar nichts gesteckt."

    "Ich weiß nicht, wer sie hat fallenlassen!"

    "Na, Du im Vollsuff!"

    Im Hintergrund laufen Bilder aus dem Film "Panzerkreuzer Potemkin" vorbei - denn Gorki schuf sein Stück am Vorabend der Russischen Revolution, die Familienhölle sollte die Herrschaftsverhältnisse im Land spiegeln. Doch mehr als ein mediales Hintergrundrauschen ist das hier nicht. Drei schwarze Sichtkästen hat Bühnenbildnerin Muriel Gerstner in die Rollschuh-Halle montiert, ein Heimkino, in das so etwas wie Politik nur von Ferne eindringt. In einem der Kästen steht ein Walter-Benjamin-Zitat über die Schrecken des bürgerlichen Wohnungsinventars im 19. Jahrhundert, darüber, dass Nihilismus der Kern der bürgerlichen Gemütlichkeit ist.

    Und so inszeniert Nübling Gorkis scheußliches Drama auch: das Böse sitzt in der Familienzelle, was soll man sich um Außen kümmern. Permanent muss die hilflose Mutter Sofja allem gerecht werden, jeder zerrt an ihr, zuletzt auch noch eine aufrechte Revolutionärin, deren Sohn vom Vater willkürlich in den Knast geworfen wurde.

    Jeder ist sich selbst der Nächste, keiner hat den Überblick. Sie streiten wie die Kesselflicker, es ist mehr das soziale Psychogramm einer Unterschichtfamilie, die heillos in ihre Abhängigkeiten verstrickt ist, jeder hat daran Schuld.

    All das wirkt auf die Dauer ziemlich ermüdend verroht. Letztlich fragt sich auch, was das unermüdliche Rollschuhfahren erzählen soll, außer dass hier viel Dynamik im gottlosen Raum erzeugt wird. Das Bild der unaufhörlichen, rasend schnellen Gesellschaft, die um das Nichts kreist, ist letztlich zu teuer erkauft: Marie Rosa Tietjen hatte die kleinste Tochter Wera auf dem Weg von kindlicher Desorientiertheit zur gebrochenen Schlampe interpretiert. Doch mittendrin stürzt sie auf den Rollschuhen und bricht sich auf offener Bühne den Fuß. Bravourös spielt sie auf Krücken weiter, und doch muss man sich fragen, ob hier nicht eine Regie-Eitelkeit auf Kosten der Schauspielerkörper zu weit getrieben wurde. "Die Letzten" von Maxim Gorki bei Sebastian Nübling führt also wieder einmal vor, wie verroht die Menschheit ist, mit wie viel Hektik sie auf der Stelle kreist und genau das geradewegs in den Abgrund führt. Doch so gekonnt das auch ausgeführt ist, hilft es uns letztlich nicht sehr viel weiter.