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Egon Bahr 25 Jahre nach der Maueröffnung
"Kohl hat geerntet, was Brandt gesät hat"

25 Jahre nach seinem Besuch in Treffurt erinnert sich Egon Bahr im Deutschlandfunk an diesen besonderen Moment in seinem Leben. Er sei damals sicher gewesen, dass es mit der DDR zu ende gehe. Dass sich heute in seiner thüringischen Heimat Linkspartei, SPD und Grüne zu Koalitionsgesprächen zusammen finden, das sei ein Stück demokratischer Normalisierung, findet Bahr.

Egon Bahr im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Den Spaziergang in Treffurt unternahm Egon Bahr neun Tage nach dem Fall der Berliner Mauer. Heute sagt er dem Deutschlandfunk, er sei damals schon sicher gewesen, dass es zu Ende gehe würde mit der DDR. Der in jenen Tagen regierende Kanzler Helmut Kohl sei "klug genug" gewesen, die einst von Willy Brandt und ihm, Bahr, entworfene Politik der Entspannung und Zusammenarbeit mit Moskau fortgesetzt zu haben. Kohl habe die Früchte der Anstrengung andere geerntet.
    "Rot-rot-grün ein Stück Normalisierung"
    Egon Bahr schlägt im Gespräch mit dem DLF den Bogen in die Gegenwart und schaut auf sein Herkunfts-Bundesland: Dass sich Linke, SPD und Grüne im Jahr 2014 in Thüringen anschicken, den ersten linken Ministerpräsidenten der Bundesrepublik ins Amt zu wählen, sei ein Stück "Normalisierung der demokratischen Entwicklung".

    Das Gespräch bezieht sich auf folgendes "Dokument der Woche": Dokument der Woche - Wochenendjournal, 18.11.1989

    Hier das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Herr Bahr, 1989, Mitte November, da war der Deutschlandfunk dabei. Da waren Sie wieder in Ihrem Geburtsort in Treffurt in Westthüringen. Das liegt wirklich wenige Meter, wenige Kilometer von der damaligen innerdeutschen Grenze entfernt. Finden Sie sich heute immer noch so gut zurecht in Treffurt?
    Egon Bahr: Also zunächst mal: Ich erinnere mich natürlich ganz genau an den Tag, an dem ich in meinem Geburtsort war und dort von einer Einwohnerin umarmt wurde, und ich hatte das Gefühl, als ob ich die ganze DDR umarmen könnte.
    Grieß: Welche anderen Erinnerungen haben Sie? Sie haben uns damals gesagt, dem Deutschlandfunk gesagt, Sie würden sich immer noch praktisch blind zurecht finden. Sie waren einmal vorher, glaube ich, da gewesen, 1985, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber dennoch: Sie waren ja viele Jahre, Jahrzehnte nicht mehr dort gewesen. Hatte sich das alles so wenig verändert?
    Bahr: Es hat sich in einigen Punkten natürlich überhaupt nichts verändert. Erstens: Das Kopfsteinpflaster gab es immer noch und der Ort, das Haus, in dem ich geboren war, das gab es auch noch. Und der Mann, den ich damals begrüßt hatte mit einer Frage, der gegenüber meinem Geburtshaus war, da bin ich auf den zugegangen und habe gesagt, kann es sein, dass hier eine Familie Urban wohnt. Und er antwortete mit tiefer Stimme: „Mein Name ist Urban!" Das heißt, der hatte sich überhaupt nicht verändert, während ich in der Zwischenzeit, na ja, in vielen Staaten in der Welt gewesen war. Das war sehr eindrucksvoll.
    Grieß: Verbinden Sie mit Treffurt ein Gefühl der Heimat?
    Bahr: Ja! Wo man geboren ist, ist natürlich ein Ort, mit dem man verbunden bleibt. Das war 500 Meter auf der östlichen Seite des vorhergehenden Eisernen Vorhangs gewesen, und daran hat sich auch nichts verändert.
    Grieß: Sie haben vorhin die Begegnung beschrieben, die Sie mit einer Einwohnerin, mit einer Bürgerin von Treffurt gehabt hatten. Sie hat Sie umarmt und sie hatten das Gefühl, die ganze DDR habe Sie umarmt. Wie fühlt sich das an, wenn ein ganzes Land einen umarmt?
    "Einheit eigentlich großartig gelungen"
    Bahr: Na ja, es war ein Glücksgefühl, dass der eiserne Vorhang nun weg war und dass wir jetzt beginnen konnten, die Einheit zu entwickeln. Wenn ich jetzt zurückblicke, komme ich zu dem Ergebnis: Das ist eigentlich großartig gelungen. Es ist unbestreitbar: Die Erfolge, die Neuerungen, das Gewicht der Bundesrepublik in der Mitte Europas ist gewachsen bis zu einem Punkt, in dem unsere umliegenden Nachbarn das anerkennen, bewundern, ein bisschen mit Neid verbunden, und die Frage aufwerfen, sollte Deutschland nicht führen, während die Bundesrepublik, das vereinte Land vorsichtig ist, vorsichtig sein muss, weil auf der einen Seite Führung verlangt, auf der anderen Seite Führung auch gefürchtet wird.
    Grieß: Wir kehren noch einmal zurück in die Zeit Mitte November 1989. Damals, als Sie unter anderem auch in Treffurt unterwegs waren, sicherlich auch in anderen Gegenden der damaligen DDR, ist Ihnen durch den Kopf gegangen, dass die Tatsache, dass Sie dort unterwegs sein konnten, auch mit einer Politik zu tun gehabt haben kann, die Sie maßgeblich mit geprägt haben?
    Bahr: Na ja, damals war meine Überlegung, nachdem die Mauer gefallen war, ist das das Ende der DDR in jedem Falle, es ist egal, wie lange das noch dauert. Es war auch die Überlegung, wir haben eine Situation, in der der damalige Bundeskanzler Kohl klug genug war, die Politik fortgesetzt zu haben der Zusammenarbeit und der Entspannung mit Moskau, die Brandt entworfen hatte und Brandt durchgeführt hatte. Das heißt, unabhängig davon, dass er nun derjenige war, der die Ernte eingeheimst hat, wo er die Saat hatte verhindern wollen, hatten wir Glück, dass das eine Situation war, in der beide, nämlich Kohl und Brandt, der Auffassung gewesen sind, nachdem wir die äußere Einheit haben ist das nächste große Ziel die innere Einheit. Das verlangt noch einmal von denen, die am meisten gelitten haben, das meiste, aber ohne Aussöhnung wird es nicht gehen. Das ist leider verloren gegangen, weil sich die andere Auffassung durchgesetzt hat, Aufarbeitung, und Aufarbeitung hieß diese „fabelhafte" Behörde von Gauck und bis Jahn heute, Aufarbeitung geht nicht und hat das Gegenteil von Versöhnung zum Inhalt. Das heißt mit anderen Worten: Im Rückblick bleibt die innere Einheit noch ungelöst. Ein Volk, das Volk, das wir sind, ist abgelöst worden, dass wir auch heute noch von Ossis und Wessis sprechen. Da ist also noch einiges zu vollenden.
    Grieß: In diesen Tagen bildet sich womöglich in Thüringen eine neue Landesregierung. Ich spreche deshalb über Thüringen, weil Treffurt ja nun auch in Thüringen liegt und Sie damit gewissermaßen ein gebürtiger Thüringer sind. Rot-Rot-Grün, womöglich der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik. Wie fühlt sich ein Egon Bahr dabei?
    "Demokratische Normalität in Thüringen"
    Bahr: Das ist doch ganz einfach! Erstens ist das keine Neuigkeit, denn eine rot-rote Regierung unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit war unentbehrlich, um unmittelbar nach dem Ende der Spaltung die Stadt zu vereinen und weiterzuentwickeln.
    Grieß: Aber diesmal ist es ja anders herum: Die SPD verhilft mit ihren Stimmen einem linken Ministerpräsidenten womöglich ins Amt.
    Bahr: Na und! Es geht doch gar nicht anders. Wir müssen doch anfangen, zu normalisieren das Land. Wir hatten doch mal eine Situation, in der die CDU die Deutsche Partei aufgesogen hat, wenn Sie so wollen demokratisiert hat. Wir hatten eine Situation, in der die Grünen dazukamen, und die mussten auch damals zu Lasten der SPD eingebunden werden in die Normalisierung der demokratischen Entwicklung. Und im Prinzip muss das doch auch das Ziel sein, dass Die Linke eine, na ja, leider links von uns stehende Partei wird, die aber selbstverständlich Teil des demokratischen Spektrums dieser Bundesrepublik Deutschland wird.
    Grieß: Bei aller Euphorie, die 1989 geherrscht hat, haben Sie sich angesichts dessen, was auch die Unsicherheit dieser Zeit ausgemacht hat, auch Sorgen gemacht?
    Bahr: Offen gestanden nein. Ich fand es toll, dass Kohl das Glück hatte, den Mut hatte und die Unterstützung hatte, die Einheit herbeizuführen und mit dem anderen, ohne den er in diese Situation gar nicht gekommen wäre, nämlich Brandt, der Auffassung war, jetzt ist die innere Einheit das höchste, nächste Ziel, aber ohne Aussöhnung wird es nicht gehen.
    Grieß: Egon Bahr, ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Egon Bahr

    Wenn die Bundesrepublik wie in diesen Monaten wieder diskutiert, wie sie es denn hält mit ihrem Verhältnis zu Russland, dann sind seine Schlagworte wieder aktuell. Der "Wandel durch Annäherung", die "Neue Ostpolitik" – diese Kategorien werden für immer mit Egon Bahr in Verbindung gebracht. Die Deutschlandpolitik, die während seiner Zeit an der Seite Willy Brandts immer auch Außenpolitik war und sich im Gewebe der Vier-Mächte-Interessen zurecht finden musste, hat Bahr federführend neu justiert. Von schroffer Ablehnung der Machthaber in Ost-Berlin und Moskau kommend, entwickelte die Bundesrepublik in den soziallliberalen Jahren eine andere Haltung: Sie glich die Interessen der anderen Seite mit den eigenen ab, suchte Gemeinsamkeiten und gab denen dann eine vertragliche Form. "Moskauer Vertrag" und "Grundlagenvertrag " sind zwei der Ostverträge, die Egon Bahr mit verhandelte.

    "Wandel durch Annäherung" in der DDR als Grund dafür, dass die Grenzen letztlich fielen? Sicher nicht allein, aber eben auch. Egon Bahr war zur Zeit der Friedlichen Revolution kein Minister, kein Berater des Kanzlers mehr, sondern Bundestagsabgeordneter und führte das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. In Medien wurde er als Abrüstungsexperte gehandelt. Als DDR und Ostblock implodierten und die deutsche Einheit am Horizont als Möglichkeit erschien, war Egon Bahr gefragt: als Kommentator, Publizist und Interviewpartner, auch im Deutschlandfunk. Gefragt ist er auch heute noch mit über 90 Jahren.