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Egon Bahr: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal

Als Kanzler Schröder im letzten Bundestagswahlkampf den "Deutschen Weg" ausrief, stieg seine Popularitätskurve. Wo immer er der us-amerikanischen Kriegspolitik sein kategorisches "Nicht mit uns!" entgegensetzte, jubelte das Wahlvolk. Schröder hatte den einst als Einbahnstraße in den Krieg gefürchteten deutschen Sonderweg in die entgegen gesetzte Richtung beschritten und richtig kalkuliert, dass er damit einen Pfad einschlug, auf dem sich die übergroße Mehrheit der Deutschen seit langem bewegt. Die Opposition und ihre publizistischen Fußtruppen schäumten: Aus wahltaktischem Opportunismus gefährde der Kanzler das "heilige" Bündnis mit den USA, er isoliere die Republik, und die Rede vom "deutschen Weg" wecke Erinnerungen an den kriegerischen deutschen Nationalismus. Auch einige Genossen äußerten sich besorgt über die nationalen Obertöne ihres Vorsitzenden, und Außenminister Fischer riet im Pressegespräch: "Vergessen Sie das mit dem deutschen Weg." "Im Gegenteil", sagt nun Egon Bahr, das Bekenntnis zum nationalen Weg sei überfällig, die Interessengegensätze zu den Amerikanern unübersehbar.

Hermann Theißen | 16.10.2003
    Offen gesagt: Ich kann im Irak-Krieg einen Gewinn sehen - ohne die menschlichen Tragödien zu vergessen und die politischen Probleme zu übersehen: Zum ersten Mal seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat in Deutschland eine leidenschaftliche Debatte über Macht und politische Interessen begonnen.

    An den Anfang seiner kurzen Schrift setzt Egon Bahr persönliche "Erinnerungen": Miniaturen, die das Denken dieses Mannes erklären, der wie kaum ein anderer die Außenpolitik der alten Bundesrepublik geprägt hat. Einige Anekdoten sind Lehrstücke über Praxis und Zynismus der gewöhnlichen Machtpolitik.

    Bei einer Sitzung in Oslo, auf der Richard Perle anwesend war, wollte er, damals Staatssekretär im Pentagon, die Norweger davon überzeugen, dass die Pershing II und Cruise Missiles in Europa stationiert werden müssten. Ich: Das sei eine Desolidarisierung Amerikas von Europa, denn es gestatte den Versuch, im Ernstfall einen atomaren Krieg auf Europa beschränkt zu führen, um sein Sanktuarium zu verschonen. Das sei zwar im Interesse Amerikas, aber nicht im Interesse Europas. Ich dachte, er würde das entrüstet zurückweisen. Im Gegenteil aber erwiderte er: Das könne man so sehen.

    Dass Realpolitik so und nicht anders funktioniert, wusste Egon Bahr bereits, als er Anfang der sechziger Jahre das strategische Konzept für die neue Ostpolitik entwarf. Ausgangspunkt war eine nüchterne "Analyse der Situation, wie sie wirklich ist" sowie deren Konfrontation mit den nationalen Interessen.

    Die Politik des "Wandels durch Annäherung" wurde zur Erfolgsgeschichte. Sie brachte den Deutschen die Vereinigung, den osteuropäischen Staaten Souveränität und dem europäischen Staatensystem Stabilität jenseits der Vernichtungsdrohung. Warum also die Prinzipien dieser Politik nicht revitalisieren, wenn es um den überfälligen Entwurf einer neuen Westpolitik geht? Warum nicht europäische und nationale Interessen benennen, auch wenn damit der Konflikt mit den USA vorprogrammiert ist? Warum über die imperiale Politik der Bush-Administration schimpfen und jammern, statt selbstbewusst die eigenen Interessen zu definieren und den eigenen Weg zu gehen?

    "Antiamerikanismus" sei dumm, befindet Bahr, und unterzieht sodann die us-amerikanische Politik einer distanziert-sachlichen Analyse. Das Streben nach Überlegenheit sei keine Erfindung von Bush junior, alle amerikanischen Präsidenten der Nachkriegszeit hätten es geteilt. Es entspreche dem religiös fundierten Sendungsbewusstsein und dem machtpolitischen Hunger einer jungen Nation. George W. Bush habe das Hegemonialstreben lediglich radikalisiert. Der 11. September habe dann dem amerikanischen Präsidenten Gelegenheit und Anlass gegeben zu tun, was er ohnehin tun wollte, nämlich den "totalen Krieg" erklären.

    Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, ist aus der Psyche eines Mannes erklärbar, der sich im totalen Krieg fühlt, ihn mit letzter Entschlossenheit führen will, Neutralität verächtlich findet und Verbündete und andere schont, soweit sie ihm nützen können. Europa sollte sich darauf einstellen, dass der Krieg weitergeht, dass Bush für die gesamte Zeit seiner Präsidentschaft ein Kriegspräsident sein wird.

    Dass die Deutschen den US-Amerikanern bei dieser Militarisierung der Politik nicht folgen wollen und können, ist auch ein Resultat der von den Amerikanern selbst eingeleiteten Pazifizierung Deutschlands. Mit der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition, die Bahr als ersten Schritt in Richtung nationaler Souveränität bewertet, hätten die Deutschen sodann bewiesen, dass sie auf friedlichem Wege "Entspannung in Europa und für Europa bewirken können".

    Kohl als Beobachter aus der Opposition und Genscher als Nachfolger des Außenministers Scheel hatten die Bedeutung dieses gewaltigen Kapitals verstanden. Es musste gemehrt und verzinst werden bis zu jenem unbestimmbaren Tag, an dem unsere Spekulation sich bestätigte, mit der Entspannung den Prozess zur Einheit eingeleitet zu haben. Sie schafften das bis zu jenem Augenblick, der in der Logik des deutschen Nachkriegsweges den theoretisch letzten kleinen Schritt bedeutete: die Wiederherstellung der vollen deutschen Souveränität.

    Und die gelte es jetzt zu gestalten. Für Bahr bedeutet das zweierlei, und beides dürfte als Provokation verstanden werden. Da ist zum einen das bislang vor allem aus dem konservativen Lager gehörte Postulat, die deutsche Politik müsse endlich aus dem Schatten der Vergangenheit heraustreten, "selbstverständlich und normal" die eigenen Interessen vertreten und ein "normales" Verhältnis zur Nation entwickeln. Zum anderen sollten Deutschland und Europa zu der Erkenntnis stehen und daraus operative Konsequenzen ziehen, dass nämlich die Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks in entscheidenden Punkten nicht kompromissfähig seien, dass nicht einmal mehr die Rede von der europäisch-amerikanischen Wertegemeinschaft durch die Wirklichkeit gedeckt sei. Mit diesem Befund ist die Tiefenstruktur der durch den Irakkrieg ja nur angestoßenen innenpolitischen, deutsch-amerikanischen, innereuropäischen und transatlantischen Zerwürfnisse beschrieben. Es ging und geht dabei nicht um diplomatische Ungeschicklichkeiten, nicht darum, wie die Chemie zwischen Schröder, Chirac und Bush funktioniert, es ging und geht um die Rechtmäßigkeit der internationalen Politik, um die Bedeutung der Vereinten Nationen, um die Alternative präventive Schläge oder präventive Diplomatie; es geht um antagonistische Konzepte und um nationale Interessen.

    Es ist der Unterschied zwischen einer Hegemonialmacht, die ihre Dominanz ausdehnen will, und einem Kontinent, der friedliche Stabilität erstrebt.

    Jenseits von Regierungsentscheidungen wird das in den europäischen Gesellschaften durchweg so gesehen, und die Kriegswilligen konnten ihre Politik nur gegen den Protest der jeweils eigenen Bevölkerung durchsetzen. Eine Missachtung der Mehrheitsmeinung, die sich rächt. Der rapide Ansehensverlust des Tony Blair - um den lautesten Trommler zu nehmen - geht zu einem großen Teil darauf zurück, dass viele Briten sich nicht von einem Premier vertreten fühlen, der auf allen Bühnen den Büchsenspanner des amerikanischen Präsidenten gibt. So gesehen stehen die Chancen gar nicht so schlecht für die europäische Alternative, die Egon Bahr der amerikanischen Kriegs- und Expansionspolitik entgegensetzt. So gesehen verliert auch der von Bahr propagierte "deutsche Weg" jeden Schrecken, zielt er doch auf Kriegsvermeidung und mündet er doch in einen europäischen Weg. So wie Egon Bahr einst mit seiner präzisen und nüchternen Analyse der Machtverhältnisse und Interessensgegensätze im Kalten Krieg eine Grundlage für die neue Ostpolitik schuf, so leistet sein jüngster Band eine gewichtige Orientierung bei der Ausrichtung einer überfälligen neuen Westpolitik. Wer heute noch die bedingungslose Solidarität mit den USA propagiert, gerät nicht nur unweigerlich in Gegensatz zu Artikel 26 des Grundgesetzes, der jede deutsche Beteiligung an einem Angriffskrieg und dessen Vorbereitung verbietet, er verspielt auch, was Bahr als europäische Seele, Würde und Identität bezeichnet.

    Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, verlangt die Weigerung, sich dieser Behauptung zu unterwerfen. Sie ist falsch. Wir haben nicht zwischen Unterwerfung und Feindschaft zu wählen. Gerade die Weigerung, sich auf den Boden eines Totschlagarguments zu stellen, ist die negative Voraussetzung des positiven Ziels, Amerika für die Auffassung zu gewinnen, dass es zwei westliche Modelle der Lebensform und der Politik gibt, dass Arbeitsteilung für beide lohnt.

    Hermann Theißen besprach: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal von Egon Bahr, erschienen im Karl Blessing Verlag. Das Buch hat 157 Seiten und kostet 12 Euro.