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Eile mit Weile

Physik. – Mäßigung ist eine altrömische Tugend, die inzwischen etwas aus der Mode geraten ist. Dabei kommt man mit dem rechten Maß oft schneller ans Ziel als mit Höchstgeschwindigkeit. Auf der Jahrestagung der Deutschen Festkörperphysiker in Dresden demonstrierten Dresdner Forscher dies an Beispielen aus der Praxis. Der Wissenschaftsjournalist Ralf Krauter berichtet darüber im Gespräch mit Arndt Reuning.

31.03.2006
    Reuning: Herr Krauter, welchen Zeitproblemen wenden sich die Physiker zu?

    Krauter: Sie wenden sich zunehmend sehr angewandten Problemen zu. Was man von Physikern primär gar nicht erwarten würde. Es gab in Dresden eine große Fachgruppensitzung von Physikern, die sich mit Problemen aus der Wirtschaft und auch aus der Verkehrsforschung befassen. Fangen wir mit einem ganz bekannten Beispiel an: Analyse von Verkehrsstaus. Da weiß man schon seit längerem, wenn der einzelne versucht, sein Verhalten zu optimieren, dann ist das nicht immer gut für die Masse. Es ist bekannt, dass Raser häufig Staus verursachen, die versuchen, möglichst schnell von A nach B zu kommen. Das ist von ihrer Warte aus durchaus richtig, aber für das Gesamtsystem, also von allen Autofahrern auf einem bestimmten Autobahnabschnitt kann das negativ sein. Diese Raser fahren nämlich häufig zu dicht auf, wenn sie einmal bremsen müssen, müssen sie relativ stark bremsen, und das kann sich so wellenförmig kilometerweit hinter sie fortpflanzen, und auf diese Weise entstehen die berüchtigten Staus, bei denen am Ende keiner so genau weiß, wieso sie entstanden sind, es gab keinen Unfall und nichts, es ist nur einer zu dicht aufgefahren. Das spannende ist eigentlich, dass diese Modellierung von Verkehrsprozessen in den vergangenen Jahren entscheidend vorangekommen ist. Man hat diese Modelle verfeinert, und man stellt fest, dass die selben mathematischen Verfahren verwandt werden können, um ganz andere Fragen zu beantworten, zum Beispiel in der Produktionstechnik. Denn im Kern geht es ja auch bei einer solchen Produktionsstraße, bei der Herstellung eines komplexen Produkts, um dieselben Probleme. Es geht um ein Optimierungsproblem, bei dem viele Personen oder Objekte in einem vorgegebenen Zeitraum ihr Ziel erreichen sollen, obwohl ihnen irgendwelche Flaschenhälse das Durchkommen erschweren. Und deswegen versuchen die Physiker erstaunlich erfolgreich ihre Verfahren dort anzuwenden und kommen zu den selben Erkenntnissen, dass das optimale Verhalten aus der Sicht eines einzelnen durchaus nicht immer optimal für das Gesamtsystem ist. Deswegen: Langsamer ist manchmal schneller, das gilt auf der Autobahn, aber eben auch bei Fertigungsstraßen.

    Reuning: Welche konkreten Probleme gibt es da, die die Physiker lösen können?

    Krauter: Es gab einen sehr interessanten Vortrag von Professor Jörg Helbing, der ist Verkehrsforscher an der TU Dresden, einer der Gurus auf dem Gebiet, hat sich einen Namen mit der Erforschung von Massenphänomenen gemacht. Der hat eine Vortrag zum Thema "Langsamer ist schneller" gehalten. Und der wendet seine Erkenntnisse jetzt vermehrt im Bereich Produktionsforschung an. Optimierung logistischer Verfahren. Er hat drei Beispiele gebracht. Das eine war ein Containerhafen, den haben die Forscher modelliert am Computer. Da werden die Container mit fahrerlosen, automatischen Vehikeln ins Lager gefahren und wieder zurück. Diese automatischen Vehikel haben einen einprogrammierten Sicherheitsabstand, den sie einhalten sollen, damit sie einander nicht in die Quere kommen. Der hatte aber zur Folge, dass sich diese Vehikel ziemlich häufig im Weg standen, weil sie sich gegenseitig blockierten. Die Forscher haben das analysiert und dann den kontra-intuitiven Rat gegeben, lasst die Dinger doch einfach langsamer Fahren. Die einzelne Fahrt von A nach B dauert dadurch länger, dadurch standen die sich aber seltener im Weg. Das Endergebnis war, dass die Effizienz deutlich gesteigert werden konnte. Und ganz ähnlich war es auch bei einem zweiten Beispiel, das war die Prozessierung von Wafern in einer Chipfabrik. Solche Halbleiterscheiben müssen in genau vorgeschriebenen Zyklen in solche Becken mit ätzenden Flüssigkeiten getaucht werden, damit Leiterbahnen erzeugt werden. Und die Frage war auch da: Wie können wir diese millionenteuren Anlagen besser ausnützen? Die Antwort der Dresdner war auch hier: Statt einzelne Prozesse weiter zu beschleunigen, wie man das naiverweise machen würde, lasst sie doch etwas langsamer ablaufen. Und in der Summe konnten dadurch die Sicherheitspuffer zwischen den einzelnen Prozessen verkürzt werden, so dass auch hier die Zahl der produzierten Wafer deutlich gesteigert werden konnte. Vielleicht kurz ein drittes Beispiel: die Fabrik eines namhaften Papierherstellers. Da gab es eine zentrale Komponente, eine sehr teure Maschine, mit der Pappe gefertigt wurde, diese Maschine war sehr anfällig, deshalb verfuhr der Hersteller nach dem Motto: Lasst diese Maschine, wann immer sie funktioniert, auf 100 Prozent Leistung laufen bis sie kollabiert. Man dachte, diese Maschine ist der Flaschenhals, und was man hat, hat man. Die Analyse der Physiker zeigte aber, der Flaschenhals steckte eigentlich erst dahinter. Wenn nämlich soviel Pappe auf Vorrat gefertigt wurde, kommen die nachgeschalteten Prozesse nicht mehr hinterher. Und die rieten deshalb: Lasst die Maschine doch auf nur 60 Prozent Leistung laufen, ungefähr, und sobald sich ein bestimmter Vorrat an Pappe gebildet hat, schaltet sie ab und reinigt sie, aktive Wartung. Und dadurch konnte der Output um 14 Prozent gesteigert werden. Drei eindrucksvolle Beispiele, dass bei komplexen technischen Problemen manchmal kontra-intuitive Maßnahmen helfen können, die Effizienz zu steigern.