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"Ein äußerst gewissenhafter Arbeiter"

Die Kritik von Marcel Reich-Ranicki in seiner Sendung "Literarisches Quartett" hat vielen Autoren Verluste gebracht, sagt die Lyrikerin Ulla Hahn. Dennoch: Autoren bräuchten ein dickes Fell. Wenn sie Kritik nicht aushalten könnten, seien sie im falschen Beruf.

Ulla Hahn im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: Wie erlebte Mann - oder Frau - aus der Perspektive der Betroffenen, des Kritisierten die Auftritte des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki? Konnte man seine Lust am Verriss nachvollziehen, weil er begründet war oder zumindest unterhaltsam? Hat er tatsächlich, wovon gestern schon die Rede war, in einer Art Hass-Liebe die Autorinnen und Autoren zu besseren Schriftstellern machen wollen? Hatte man Angst, im Literarischen Quartett vorzukommen, oder war die Show das Wichtige, denn nachweislich stiegen die Umsatzzahlen der Bücher in der Woche nach der Sendung, zumindest anfangs, relativ unabhängig davon, wie das Urteil von MRR ausfiel. - Die Lyrikerin Ulla Hahn, die von Marcel Reich-Ranicki gelobt und also auch gefördert wurde, lange jedenfalls, habe ich gefragt: Wie haben Sie ihn und seine Art der Kritik erlebt?

    Ulla Hahn: Na ja, es gibt für mich einen Marcel Reich-Ranicki vor dem Literarischen Quartett und während des Literarischen Quartetts. Vor dem Literarischen Quartett habe ich ihn ja kennengelernt, Jahrzehnte davor, und da habe ich ihn kennengelernt als einen äußerst gewissenhaften Arbeiter. Man muss sich ein Buch anschauen, das er für eine Rezension in der Hand gehabt hat; es wimmelte da von Bleistiftanstreichungen und Randbemerkungen. Interessant ist ja auch, dass er im Literarischen Quartett keine Gedichtbände vorgestellt hat. Ich denke mal, da hatte er dann doch Angst vor Verrissen. Ich glaube, es gibt auch keinen Verriss eines Gedichtbandes von ihm.

    Fischer: Er hat Ihre frühen Gedichtbände - das vielleicht zur Ergänzung, Frau Hahn - hymnisch besprochen, dann aber Ihren ersten, auch autobiografischen Roman "Das verborgene Wort" relativ ohne Argumente und im Fernsehen verrissen.

    Hahn: Ja das war eine üble Geschichte. Da gibt es auch gar nichts drum herumzureden. Es ist ja damals sehr viel gemutmaßt worden, wie es dazu kam. Ich weiß es nicht. Das ist im Grunde genommen auch Schnee von gestern, es hat ihm dann auch leidgetan. Es ist, glaube ich, einer der wenigen Fälle, wo er dieses Urteil dann zurückgenommen hat. Aber ich weiß von Kolleginnen und Kollegen, dass diese Verrisse im Literarischen Quartett durchaus nicht immer zu Verkaufszahlen geführt haben. Ich weiß es auch von Kollegen, dass da ganze Paletten von Büchern von Buchhändlern dann an die Verlage zurückgeschickt worden sind.

    Fischer: Nun ist das Schreiben ja ohnehin eine sehr einsame, sehr langsame und auch langwierige Tätigkeit, und die Kritik, wie Reich-Ranicki sie im Fernsehen praktiziert hat, glich ja eher einem Hammerschlag. Wir wissen aus seiner Biografie, dass die Literatur sein Leben rettete, wir wissen, dass er immer Außenseiter war und auch von daher Worte seine einzige Waffe immer waren. Nun ist aber auch die Kritik als Waffe natürlich wirklich umstritten. Wie haben Sie diese Waffe der Kritik empfunden und wann konnte er im Gegenteil auch, wie Sie angedeutet haben, Freund oder Förderer, oder jedenfalls sehr, sehr intensiver Leser sein?

    Hahn: Wissen Sie, ich habe mir das Literarische Quartett ein- oder zweimal angeschaut. Einmal am Anfang - da habe ich gedacht, das ist keine Sendung für mich - und dann noch einmal, als es dann um mein Buch ging. Das war nicht die Art von Literaturvermittlung, die für mich die richtige war. Man hört ja immer wieder, Marcel Reich-Ranicki hat damit breite Leserkreise erschlossen. Das ist sicherlich auch richtig. Aber ich denke mir, es gibt da durchaus unterschiedliche Haltungen zwischen einem Autor und einem Kritiker oder Leser. Nur, wissen Sie: Wenn ich nicht auch ohne Kritiker weiß, was ich als Autor und Autorin wert bin, dann sollte ich vielleicht lieber Steuerberater oder Zahnarzt werden. Da muss man mit umgehen können. Vielleicht braucht man für diesen Beruf auch das berühmte dicke Fell.

    Fischer: Anfang der 80er-Jahre hat Marcel Reich-Ranicki Ihren Gedichtband "Herz über Kopf" und auch die folgenden enthusiastisch gelobt. Sie haben, Ulla Hahn, vor gar nicht langer Zeit diese Gedichte verändert und neu geschrieben, haben unter dem Titel "Widerworte" auf diese frühen Gedichte geantwortet. Haben Sie anlässlich dieser Überschreibung noch mal an ihn denken müssen?

    Hahn: Während dieser Überschreibung nicht, aber jetzt im Herbst, im November kommen gesammelte Gedichte von mir heraus. Da allerdings hat natürlich auch mein Werdegang noch mal Revue passiert und da in der Tat habe ich oft seine Stimme auch wieder gehört, seine Stimme, die am Telefon immer wieder sagte: "Arbeiten Sie, schreiben Sie". Es war ihm egal, wie es geht, Hauptsache man schrieb und man arbeitete. Da war er mir noch mal sehr gegenwärtig.

    Fischer: Was glauben Sie, dass für Sie und Ihre Kollegen Autorinnen und Autoren bleibt von diesem Kritiker, den wir als den Literaturpapst von Deutschland bezeichnet haben?

    Hahn: Ja vor allen Dingen bleibt natürlich sein großartiges Buch "Mein Leben", das ganz ohne Frage. Dann hat er sehr viel getan für die Förderung von Lyrik, nicht nur die "Frankfurter Anthologie", die natürlich auch, jetzt der 36. Band. Sein Kanon, der hat Bestand. Die Gedichte in der "Tageszeitung", in der "FAZ", so etwas ist einfach etwas, was bleibt.

    Fischer: Die Lyrikerin Ulla Hahn erinnerte an den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.


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