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"Es gab nur Literatur bei diesem Mann"

In den 80er-Jahren hatte Frank Schirrmacher mit Marcel Reich-Ranicki zusammengearbeitet und ihn schließlich als Leiter der FAZ-Literaturredaktion beerbt. Dabei habe er ihn als jemanden erlebt, der Literatur lebte und sich dafür gerne stritt, nicht zuletzt auch mit den Autoren selbst.

Frank Schirrmacher im Gespräch mit Christoph Schmitz | 18.09.2013
    Christoph Schmitz: Und nun bin ich verbunden mit dem Feuilleton-Chef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher. Guten Tag, Herr Schirrmacher.

    Frank Schirrmacher: Hallo!

    Schmitz: Sie sind ja gewissermaßen in die Fußstapfen von Marcel Reich-Ranicki getreten. Ich weiß nicht, ob Sie gerade diese Sendung schon mitgehört haben, das Gespräch mit Hubert Winkels. Ich möchte daran gerne anschließen. Walser war einer der Autoren, die Ranicki nicht gerade mochte. Er hat aber immer begeistert auch über Literatur gesprochen, die er nicht mochte. War die Begeisterung für Literatur von Marcel Reich-Ranicki auf die Leser übertragen worden, hat er ein Lesevolk herangezogen, das ihm gefolgt ist?

    Schirrmacher: Na ja, er hat geliebt und gehasst. Es war ein Mann voller Leidenschaften, und auch Walser hat er ja wahnsinnig auch gelobt und gerühmt. Das war ja eigentlich die Geschichte von ihm, dass er selber sich so wie ein – das geht gar nicht zu weit – Liebespartner da auch verhielt, total extrem wurde im Guten, manchmal auch eben weniger Guten, und das hat natürlich hundertprozentig funktioniert. Ich glaube, dass man unterscheiden muss zwischen einer Literaturvorstellung, die Akademiker haben und Wissenschaftler haben, und einer Literaturvorstellung, die davon ausgeht, dass man die Menschen erreichen will, dass sie Literatur ernst nehmen, dass sie sagen, ein Buch, ein Roman, ein Gedicht – ein Gedicht, das muss man sich mal vorstellen, in dieser Moderne -, dass das noch eine Rolle spielt, und das hat er geschafft. Er hat es geschafft – und das würde, glaube ich, wenn er heute 20 wäre, er wieder schaffen, weil er eben so war -, dass Leute – das galt ja als eine Kunst, das konnten allenfalls Dienstmägde im 19. Jahrhundert – plötzlich erkennen mussten, Literatur ist etwas, was wirklich zur Welt und zum Leben dazugehört, ob es ein Banker ist oder ein Verkäufer oder wer auch immer. Das hat er wie kein anderer vor und nach ihm geschafft.

    Schmitz: Sicher auch durch die eigene Lebenserfahrung mit Literatur, die ihm zum Leben befähigt hat. Das steckt wahrscheinlich als biografisches Motiv dahinter.

    Schirrmacher: Es gab nur Literatur bei diesem Mann. Und Literatur hieß bei ihm aber auch im Sinne von Goethe, der das ja mal sagte in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, zur Literatur gehört auch Klatsch und Tratsch. Das ist sozusagen der Anfang von Literatur. Und das liebte er ja auch, wenn es sich um Günter Grass handelte oder Walter Jens oder so. Das heißt, dieser Mann lebte aus Literatur und in Literatur, und er forderte von anderen auch, dass sie es auch tun.

    Schmitz: Haben Sie mit ihm diesen Literaturklatsch erlebt in der Redaktion der "FAZ" oder anderswo?

    Schirrmacher: Permanent! Eben fiel ja das Wort Scheherazade. Das war ein dauernder Fortsetzungsroman mit Cliffhangern und allem Drum und Dran. Er wusste auch immer alles, über jeden und über jeden, also ich meine im Sinne nicht jetzt von Indiskretion, sondern welches Buch wo erscheint, wer jetzt neu kommt, was Grass gerade vorhat, was Walser gerade nicht vorhat, und das war ein wesentlicher Bestandteil auch hier der Redaktion. Er hatte ja das Telefon geliebt. Das Telefon war sein Instrument schlechthin. Fritz J. Raddatz hat ja sogar mal behauptet, er schreibe mit dem Telefon. Das hat aber – und das ist das wesentliche – dieser Welt aus Papier ein Leben eingehaucht, die es vorher nicht hatte. Das war die Erinnerung an die 20er Jahre, an die Weimarer Republik, aus der er ja letztlich prägend hervorgegangen ist. Oder wie früher das Burgtheater. Das waren Aufführungen von absoluter gesellschaftlicher Bedeutung für ihn.

    Schmitz: Das beschreibt ja mehr den Umgang mit Literatur. Aber anscheinend wollte er auch in die Literatur hineinwirken, selbst den schriftstellerischen Prozess beeinflussen. Hat er das geschafft?

    Schirrmacher: Na ja, da gibt es ja viele Aspekte. Er hat einerseits natürlich individuelle Autoren, auch wenn die es nicht zugeben, ich will jetzt nicht sagen, dass er sie zu einer bestimmten Literatur gebracht hat, aber natürlich ist der Fall Martin Walser eindeutig. Martin Walser wollte von ihm geliebt werden und wollte so schreiben, dass auch Reich-Ranicki es gut findet. Es geht aber auch immer das Gerücht, Reich-Ranicki wäre ein Vertreter einer rein naturalistischen Literatur. Peter Handke hat das schon sehr frühzeitig aufgebracht. Das stimmt nicht! Es gibt viele Autoren, die er gefördert hat - Hermann Burger war so ein Fall zum Beispiel -, die da gar nicht rein passen. Und was man auch vergisst zum Beispiel – und das finde ich auch so großartig an ihm -, dass er diese Unterschiede zwischen "E" und "U" aufhob, angeblich "E" und "U". Er war derjenige, der über Jahre hinweg dafür plädierte, dass ein Mann wie Graham Green den Literaturnobelpreis bekommt, was ja natürlich auch völlig richtig war. Den hat er ja nicht bekommen. Das heißt, man kann nicht sagen, er will jetzt Literatur, das hat ihn gar nicht interessiert, dass er jetzt einwirkt auf den nächsten Roman, der entsteht, aber er wollte eine Literatur in den verschiedenen Sparten, die perfekt ist, und das heißt für ihn, die ihn nicht langweilte.

    Schmitz: Dennoch gab es oder gerade deswegen auch Streit. Es gab Zwiste, es gab große Auseinandersetzungen, auch mit Martin Walser und auch mit Joachim Fest. Wie würden Sie diese Konflikte einordnen?

    Schirrmacher: Auch da muss man wieder unterscheiden. Die einen sind ästhetische, wenn Sie so wollen, Konflikte oder Konflikte, wo auch einzelne Autoren sich richtig verletzt fühlten. Da war er ja auch nicht ohne.

    Schmitz: Grass vor allem.

    Schirrmacher: Ja ich würde da eher an Walser denken. Zwischen Grass und ihm ist das Verhältnis, glaube ich, so ein ziemliches Rabaukenverhältnis gewesen, wo der eine dem anderen auch nichts durchgehen ließ. Das ist bei Walser vielleicht etwas anders. Aber die andere Geschichte ist, die begleitet, die passiert ab Mitte der 80er-Jahre. Das waren die Auseinandersetzungen um das Fassbinder-Stück in Frankfurt und den Historikerstreit. Das war auf einer ganz anderen Ebene. Das war die Frage, wie gehen wir mit dem Nationalsozialismus um, nehmen wir ihn als etwas, was singulär ist und einzigartig in der deutschen Geschichte, oder lassen wir ihn so allmählich verschwinden in so einem Gefühl, der Mensch ist böse. Da war er unglaublich empfindlich. Das hat ihn auch sehr verändert, diese Debatte, und ich glaube, er war da auch ziemlich hellsichtig. Wenn man es mal politisch sagen will - das finde ich immer so interessant, weil wir ja ihn als Zeitgenossen hatten: Die "Heilung", wenn Sie das in Anführungszeichen setzen, also die Versöhnung, das Gefühl, dass der Staat, der ja wohl gemerkt als deutscher Staat seine ganze Familie ausrottete, wahrscheinlich dann doch auf seiner Seite ist, war Weizsäckers berühmte Rede vom 8. Mai. Da war ich Zeuge, wie er darauf reagiert hat und wie er über Jahre immer wieder darauf zurückkam. Das finde ich interessant, weil man sieht, dass solche Dinge wirklich eine Rolle spielen, dass Politik wirklich was bewirken kann.

    Schmitz: Frank Schirrmacher, vielen Dank für diese Einschätzungen zum Leben und Werk von Marcel Reich-Ranicki. Auf Wiederhören.

    Schirrmacher: Vielen Dank. Auf Wiederhören.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.