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Ein atemberaubender Roman

Stille und Kälte, das sind die beherrschenden Momente im Roman "Museum der Stille" von Yoko Ogawa. Obwohl die Handlung von Beginn klar durchschaubar ist, der Leser bald weiß, wer der Mörder ist, ist das Buch ungeheuer spannend geschrieben. Bisweilen hätte man sich jedoch eine konzentriertere Übersetzung gewünscht.

Von Simone Hamm | 01.03.2006
    Der junge Mann trägt nichts weiter bei sich als eine kleine Reisetasche. Neben ein paar Kleidungsstücken und seinem Rasierzeug schleppt er ein Mikroskop und das Tagebuch der Anne Frank mit sich. Ein Mädchen ist zum Bahnhof gekommen, um ihn abzuholen. In einem Herrenhaus auf einem Hügel wartet ihre Stiefmutter, eine alte, missgelaunte Frau auf den Reisenden.

    "Meine Arbeit besteht darin, möglichst viele von den Dingen, die über den Rand der Welt geglitten sind, wieder aufzusammeln, und ihren Wert trotz der Disharmonie, die sie vielleicht umgibt, zur Geltung zu bringen","

    beschreibt er dem jungen Mädchen seine Aufgabe. Er soll ein Museum einrichten, ein Heimatmuseum, ein Museum, das zum Zufluchtsort einer vergangenen Welt werden soll. "Das Museum der Stille" heißt der jüngste Roman von Yoko Ogawa.

    Die alte Dame hat sich jedes Mal, wenn jemand im Dorf gestorben ist, etwas beschafft, das dem Toten gehörte. Nicht irgendetwas, sondern etwas, was den Toten ausmacht, seine wahre Essenz. Noch ehe der Museumskurator verstanden hat, worum es geht, wartet schon der erste Auftrag auf ihn. Ein über hundertjähriger Arzt ist gestorben und die Alte beauftragt ihn damit, in dessen Haus einzudringen, in die Praxis, wo es hinter einer grünen Tür einen geheimen Raum gibt, in dem der Arzt illegale Operationen durchgeführt hat: Er hat Ohren verkleinert, auch die Ohren der alten Dame. Ihr Angestellter soll jetzt eben jenes Skalpell besorgen, mit dem der Chirurg an ihren Ohren gewesen ist. Mit Hilfe des Mädchens und einem scharfen Messer gelingt es dem Mann, einzubrechen und das Skalpell an sich zu bringen.

    Jemand hat eine Bombe im Brunnen auf dem Dorfplatz deponiert. Sie explodiert, verletzt das Mädchen und tötet einen Mönch, der schweigend stundenlang auf dem Platz gestanden hat. Noch ahnt der Mann aus dem Museum nicht, dass die Einschläge näher kommen werden. Fast automatisch nimmt er das Fell an sich, mit dem der Tote bekleidet war und trägt es ins Archiv.

    Gemeinsam mit der alten Dame und dem jungen Mädchen katalogisiert er die Erinnerungsstücke, die die Alte gesammelt hat, seit sie elf Jahre alt war. Er lässt einen alten Stall zu einem Museum umbauen. Die Arbeit geht zügig voran.
    Da wird im Park eine junge Frau ermordet. Der Mörder hat ihr die Brustwarzen mit einem scharfen Messer abgetrennt. Und nach diesen will der Mann aus dem Museum jetzt suchen. Ohne zu zögern, dringt er in die Wohnung des Opfers ein.
    Er findet die Brustwarzen nicht und muss sich schließlich mit ein paar Grashalmen aus dem Park begnügen, in dem die Leiche gefunden worden ist.

    Verstohlen betrachtet er das Mädchen. Sie ist ein Schulkind, und trägt wie ein solches rote Riemchenschuhe - und doch stellt er sich ihre Brüste unter der Bluse vor. Ist sie kindlich oder besonders raffiniert? Strahlt sie wirklich eine kühle Erotik aus oder hat der Mann eine überhitze Fantasie? Yoko Ogawa schreibt so distanziert, so wenig wertend, dass beides möglich scheint.
    Wieder wird eine junge Frau gefunden, wieder werden ihr die Brustwarzen abgetrennt, wieder begibt sich der Mann aus dem Museum auf Spurensuche:

    ""Ich weiß nicht warum, aber dieses Mal verspürte ich weder die Schuldgefühle noch die Angst oder die Reue, die mich sonst immer bei meiner Jagd nach einem Erinnerungsstück begleitet hatte. Statt dessen überfiel mich ein unbeschreiblicher Verlust."

    Die Frau war Handarbeitslehrerin gewesen und er stiehlt ein Deckchen, das an ihrem Arbeitsplatz in einer Vitrine ausgestellt ist. Das dritte Opfer ist eine junge Verkäuferin in einem Haushaltswarengeschäft. Auch ihr sind die Brustwarzen abgeschnitten worden. Der Mann begibt sich in ihr Geschäft und entwendet ein Blatt, auf dem sie astrologische Vorhersagen getippt hat.
    Erst jetzt gerät er unter Verdacht.

    Kalt und klar und beherrscht schreibt Yoko Ogawa. Sie schreibt vom Tod, von der Erinnerung, von der eisigen Kälte. Sie zieht den Leser mir ihrer kühlen Sprache immer tiefer in ein Reich der Fantasie. Sie lässt das junge Mädchen und den Mann zum Kloster der schweigenden Mönche pilgern, mit dem Boot übers eisige Wasser setzen. Auch im Kloster herrscht Stille wie im Museum, eine innere Stille, wie der Novize, der noch sprechen darf, erklärt. Bald wird auch er verstummen:

    "Die Brüder befolgen das Gebot zu schweigen, jedoch nicht das Verbot zu sprechen. Das Schweigen existiert nicht außerhalb von uns, sondern muss in uns ruhen."

    Stille und Kälte, das sind die beherrschenden Momente im Roman "Museum der Stille", sind die Metaphern für das Leben in Dorf und Kloster. Noch einmal bäumt sich der junge Mann auf, fiebert. Doch bald werden alle von einer solch eisigen Mauer des Schweigens umgeben sein, dass Kommunikation nur noch durch konzentriertes Lauschen möglich ist. Erst dann wird der junge Mann endlich angekommen sein, wird sich trennen können vom Tagebuch der Anne Frank und dem Mikroskop, weil er verstanden hat, dass auch dies nur Erinnerungsstücke an längst Verstorbene sind. Erinnerungen, in denen die Toten weiterleben.

    Obwohl der Plot von Anfang an ganz klar durchschaubar ist, obwohl wir bald wissen, wer der Mörder ist - denn nur einer kann so gut mit dem scharfen Messer umgehen und ist besessen von kühlem Stahl und glatter Klinge - ist der Roman ungeheuer spannend geschrieben. Bisweilen hätte man sich eine konzentriertere Übersetzung gewünscht, die der konzentrierten Sprache Yoko Ogawas angemessener gewesen wäre. Je öfter etwa die umgangssprachlichen Formulierungen "als nächstes", "als erstes" vorkommen, desto weniger ist man bereit, sie zu überlesen.

    Der Mann aus dem Museum versucht zu fliehen, stolpert durch einen Schneesturm. Nichts ist zu sehen, zu hören, zu erwarten. Blind hastet er zum Bahnhof, wohl wissend, dass hier kein Zug mehr fahren wird. Er taumelt zum Kloster über ein Feld aus riesigen, toten Büffeln. So surreal Yoko Ogawas Bilder auch sind, ihre Sprache bleibt stets unterkühlt, fast puristisch. Die wahnsinnigsten, rauschhaftesten Geschehnisse – eine bacchantische Prozession, den Irrlauf durch den Schnee, beschreibt sie in knappen, kurzen Sätzen. Dieser Gegensatz ist atemberaubend. So atemberaubend wie "Das Museum der Stille".

    Yoko Ogawa: Das Museum der Stille
    Liebeskind Verlag