Archiv


Ein auftrumpfendes Szenenspektakel

Der ukrainische Regisseur Andrij Zholdak wird als der neue Regie-Titan aus dem Osten gehandelt. Jetzt zeigt die Berliner Volksbühne seine Inszenierung "Medea in der Stadt". In einem Wohncontainer, der als Neubauwohnhaus dient, tobt dabei eine wilde, neurotisch überdrehte Menschenmenge.

Von Hartmut Krug |
    Der Regisseur und Theaterleiter Andrij Zholdak hat seinen Eintritt in die westliche Theaterwelt mit dem Bonus eines durch Rückständigkeit und Zensur vertriebenen Künstlers geschafft. Nach einer ersten Arbeit in Luzern, die irgendwie Strindberg folgt, konnte er bei den Berliner Festspielen mit seinem Charkower Ensemble mehrere alte Inszenierungen zeigen und seine "Romeo und Julia"-Version vollenden.

    Und da auch der Theatermarkt meint, es seien unentwegt neue Angebote und Stars notwendig, (schließlich ist der letzte heils- und Publikum bringende Regiegott, der Lette Alvis Hermanis, schon über ein Jahr auf dem deutschsprachigen Markt), kommt Andrij Zholdak der gefräßigen deutschen Theaterlandschaft gerade recht. Er wird in jedem Sinne als aktueller Regietitan "gehandelt". Die schwächelnde Volksbühne versucht, sich mit vampiristischem Furor aus Zholdak, den sie "natürlich" als Provokateur, Theaterrevolutionär und Vertriebenen bezeichnet, neue Kraft zu saugen. Also hat sie ihm und seinem Charkower Truppe ihr Haus für eine Regiearbeit zur Verfügung gestellt. Allerdings haben sich nur drei Volksbühnendarsteller, darunter mit Marc Hosemann als Jason nur ein bekannter, zur Mitarbeit entschlossen.

    "Medea in der Stadt" heißt der Abend, doch von Medea entdeckt man lange wenig. Einer der an der Schaubühne üblichen Wohncontainer dient als Charkower Neubauwohnhaus, und in ihm tobt eine wilde, neurotisch überdrehte Menschenmenge. Bei offener Tür schleudert der Wind die Menschen an die Wände, die sich derweil unter der Dusche oder auf der Toilette oder auch sexuell auf dem Tisch betätigen. Alles ist hier laut, überdreht und gewalttätig: Zweimal werden in unendlich langen Szenen alle Möbel, sogar die Badewanne, aus dem Fenster geworfen, und die Menschen, die in langer Reihe aus dem Fahrstuhl kommen, werden nach immer der gleichen Choreographie verprügelt, bis auch sie aus dem Fenster fliegen. Drei nackte Frauen bringen eine lebendige Kuh und zerteilen ihr papierenes Double, um deren Reste in den Kühlschrank zu stopfen.

    Lebendige Hühner und Schweine spielen mit, aber auch ausgestopfte Tiere oder solche aus Plastik. Flugzeug- und Autolärm dröhnt, aber man hört auch Bäume krachend fallen und Vogelschwärme aufflattern. Und einzelne singen ukrainische und deutsche Volkslieder. Das ganze: ein auftrumpfendes, lautstarkes, deutlich vor allem auf äußere Wirkung setzendes Szenenspektakel fast ohne Worte. Zholdak liefert kein narratives, sondern ein assoziatives Theater. Psychologie interessiert ihn dabei kein bisschen. Weshalb Medeas Kinder eine große Festgesellschaft mitsamt ihrer Eltern fröhlich erschießen.

    Dann ist nach fast drei Stunden erst einmal Pause. Den anfänglichen Castorfiaden mit kräftigen Schleef-Beimischungen und einem kleinen Schuss Kresnik, während Schlingensief nicht deutlich herauszuschmecken ist, folgen Szenen nach Robert Wilson, in denen das antike Medea-Personal deutlicher wird. Vor einfarbigen Stellwänden agieren Menschen in schicken Abendkleidern mit abgezirkelten Gesten von hoher Künstlichkeit, wobei ihre Bewegungen und Handlungen lautstarke akustische Folgen haben. Menschen sitzen in halber Höhe an den Wänden, und Jason benutzt eine riesige Penismaschine an den willigen Medea und Kreusa. Die diese dann zersägen, wobei ohnehin viel ge- und zersägt wird. Beine von Menschen, Teile von Hirschgeweihen, Köpfe von Menschengroßen Käfern und Figurenumrisse aus Wänden. War der erste Teil des mehr als fünfeinhalbstündigen Abends modisch trashig, ist der zweite stilisiert künstlich, und am Schluss durchmischen sich die Formen und alles löst sich in einer großen Bilderflut auf.

    Thematisch geht es irgendwie um alles. Um Natur und Gesellschaft, um Gewalt und die Familie, um Fremdheit und Barbarentum. Dabei lassen sich viele Bilder der zuweilen nur kurz aufgebauten Bilder kaum entschlüsseln. Medea-Texte von Euripides werden auf eine Leinwand projeziert, während Heiner Müllers "Medeamaterial" sowohl projeziert als auch gesprochen wird. Wenn am Schluss alle an breiter, an die Bühnenrampe vorgeschobener Tafel sitzen und schwarze Mäuse zum Fangen und Essen losgelassen werden (wobei wie während der gesamten Aufführung auf Videowänden zeitversetzte Bilder des Geschehens zu sehen sind, ist es an Medeas siebenjährigen Kindern, Schluss zu machen. Sie, die schon mal in Backteig gehüllt oder von Kreusa im Internet als unkompliziert angeboten wurden (Charkow ist ein Zentrum für Kinderschmuggel), erschießen alles, was auf der Bühne ist. Einschließlich der zum Abbau antretenden Bühnenarbeiter, die als Hauptakteure des Abends dennoch Zholdaks handwerklich unbewältigten Abend, bei dem die Bilder über die Bühne holpern, ohne sich einzuprägen, nicht retten konnten. Nachdem die Kinder durch den mittlerweile halbleeren Zuschauerraum das Theater verlassen haben, sieht man sie im Video einen Zug nach Kiew besteigen.

    Das Problem dieses Abends ist nicht, dass Andrij Zholdak sich deutlich aus dem Video-Warenhaus der modischen westlichen Theaterstile bedient hat, sondern dass er mit diesen Mitteln nichts Eigenes schafft, mehr noch, dass er sogar sein Eigenes verliert. Und: dass er so ranschmeißerisch und auftrumpfend inszeniert, dass die wenigen poetischen oder surreal verrätselten, gelungenen Bilder unter dem Druck der Wirkungs- und Erfolgsabsicht verschwinden.

    Das ganze: ein trauriges Paradebeispiel dafür, wie ein Künstler aus Osteuropa verheizt wird und sich selber verheizt.