Archiv


Ein beißender Geruch nach gehäuteten Zwiebeln

Rund 70 Autoren, Publizisten und Kritiker kamen beim diesjährigen Erlanger Poetenfest zu Lesungen, Gesprächen und Diskussionen zusammen - Günter Grass war nicht dabei. Die Debatte um das "Häuten der Zwiebel" fand dann trotzdem mit Experten auf einem Sonderpodium statt.

Von Bernd Noack |
    "Es war ein großes Bettlaken, das ich dort, als ich auf dem Burgberg ankam, zwischen den Bäumen aufgespannt vorfand und plötzlich die erste Strophe eines Gedichtes von mir las: "Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht und so weiter..." Und ich hatte das natürlich auf meiner Leseliste, weil ich es noch nie gelesen hatte öffentlich, auch gar nicht aufgenommen. Und nun musste ich es, weil man mich damit empfangen hatte, und habe gemerkt, das ist ein guter Text und der lässt sich lesen und entwickelt schon auch eine Sogkraft. Na, dann hab ich es halt getan. Ich hab dann erst im nachhinein gemerkt im Lauf der nächsten Monate oder Jahre sogar, dass es zu einer Art Markenzeichen für mich geworden war."

    Das war 1982 beim 3. Erlanger Poetenfest, und Oskar Pastior hat die Erinnerung daran am vergangenen Freitag bei der Eröffnung der 26. Auflage der viertägigen Literaturveranstaltung gerne und amüsiert noch einmal Revue passieren lassen. Damals war er ein Dichter unter ein paar anderen; jetzt kam er als eine Art Stargast: dem diesjährigen Büchnerpreis-Träger und überzeugten Annagrammatiker widmete man einen ganzen Abend im Theater, es wurden zwei im schönsten Sinne altmodische Lehrstunden über die Kraft und Macht der Wörter und Silben in einem Zeitalter der Sprachlosigkeit, ohne auch nur einen Anflug von "essiggewordenem Ehrgeiz", wie Pastior das so wunderbar nennt. Und am Ende war es dann tatsächlich fast so ein wenig wie früher: auf der Bühne wurde noch einmal das alte Bettlaken entrollt - Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht...

    So viel Reminiszenzen kann sich eine Veranstaltung leisten, die nach einem Viertel-Jahrhundert noch immer nicht in die Jahre gekommen ist. Ein bisschen stolze Selbstbespiegelung mag dabei gewesen sein, aber Poetenfest in Erlangen, das ist - traditionell gelegen zwischen Bachmann-Preis und Buchmesse - längst eine Institution, die ihre eigenen charmanten Regeln hat. Und da hier seit jeher so selbstverständlich die Dichter gemeinsame Sache mit ihren Lesern machen, mögen solch familiär anmutende Aktionen nur noch Neulinge befremden: die Poeten und ihr großes Publikum kennen und lieben es nur so.

    Also saß man dann auch wieder an zwei Nachmittagen im idyllischen Schlossgarten, wo sich die Sprache so schön mit dem Vogelgezwitscher versöhnt, und lauschte unter Bäumen den 20 Autoren, die ihre druckfrischen jüngsten Werke noch etwas stockend vortrugen: Erlangen ist so etwas wie ein Testlauf, ein Abtasten; die unmittelbare Kritik und die knallharte Kalkulation zählen hier - noch - nicht. Daneben ließ man sich plaudernd und umfassend in Leben und Werk von und mit Friedrike Mayröcker, Per Olov Enquist und Dzevad Karahasan einführen, und für gesittet ausgetragene Meinungsverschiedenheiten zog man sich wie gewohnt in den Saal zurück, um auf prominent besetzten Podien kultur- und gesellschaftspolitische Themen zu diskutieren: um Leitkultur und Autoren im Medienzeitalter ging es unter anderem, auch um die Gedankenfreiheit.

    Spätestens da, als zum Beispiel Sigrid Löffler sagte, "die Leute wollen nur noch die Erregung" und die werde von der moralischen Entrüstung transportiert, spätestens da war klar, dass das 26. Poetenfest doch ein klein wenig anders werden würde. Nicht weil man sich vorsichtig neuen und genresprengenden Strömungen öffnete, also sogar einer Sarah Kuttner etwa Gelegenheit gab, sich mit Zweidrittelwissen auf oblatendünnes Eis zu begeben, oder Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig gestattete mit ihrer internettauglichen Installation "Riesenmaschine" das weite Feld der Intelligenz zu beackern. Nein, in die angenehme Erlanger Atmosphäre hatte sich vielmehr ein beißender Geruch nach gehäuteten Zwiebeln gemischt - und die Veranstalter mussten naturgemäß reagieren.

    Man hatte bei Günter Grass angefragt, ob er kommen wolle, damit nicht auch hier - wie jüngst in Berlin mit, besser: ohne Handke geschehen - nicht nur über ihn, sondern auch mit ihm über die Vorgänge der vergangenen Wochen gesprochen werden kann. Grass aber blieb lieber auf seiner Ferieninsel. Also schob man ein Sonderpodium mit Experten ein, dem am Sonntag der größte Zulauf sicher war - und setzte sich aufs neue kontrovers aber ohne viel Neues mit dem leidigen Thema auseinander. Für den Literaturkritiker Wilfried F.Schoeller, der die Diskussion leitete, war es auf jeden Fall wichtig, dass man endlich auf der Grundlage des Buches und nicht von lawinenartig verbreiteten Presseberichten streitet. Die Debatte um das "Häuten der Zwiebel" hat für ihn ohnehin längst eine historische Dimension:

    Sie zeigt nämlich auch einfach nur einen gewissen Abschluss: es kommt etwas zu Ende und wir können mit diesem Buch wirklich zurückblicken auf eine große Mentalitäts- und Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik, ihre Möglichkeiten, ihre Verständigung über die Vergangenheit, ihre Vergangenheitskritik, ihre Verdrängungen, die auch diejenigen erreicht, die gegen diese Verdrängungen gearbeitet haben, seien sie Walter Jens oder Grass oder Martin Walser. Ich wünschte mir natürlich, dass es weniger moralisch zugeht, denn die Moral ist oft nichts anderes als die Betschwester der Heuchelei. Und es wird mir in dies Fall wirklich zuviel geheuchelt.

    Denn Grass als großer Lautsprecher der intellektuellen und künstlerischen Opposition war ja nur möglich durch die Leute, die ihn jetzt zum Praeceptor Germaniae machen: die haben ja alle mitgemacht und reagieren jetzt mindestens so hochmoralisch. Das ist vielleicht auch so verlogen wie sie es Grass vorwerfen. Oder pointierter mit einem Satz von Oskar Pastior ausgedrückt, als es am Freitag abends in einem ganz anderen Zusammenhang, aber eben auch um allerlei Fragen an den ergänzenden Verstand ging: "Ja und Nein sind mir gleichermaßen verdächtig," sagte der kluge Dichter da.