Rathenow: Kaum. Im Kindergarten war ich nicht. In der Schule wurde kaum darüber geredet. Sie war privat präsent, zum Beispiel in Gesprächen der Eltern in Andeutungen. Ich würde sagen, der 17. Juni begleitete mein Leben. Es war so eine gewisse Angst davor. Meine Mutter hatte damals mitdemonstriert. Sie hat offenbar auch Akten mitvernichtet. Es schien mit die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen zu sein. Mein Vater hat sie aus diesem Gewerkschaftshaus herausziehen müssen mit den Verweis auf mich. Ich habe dann irgendwie das Gefühl eines schlechten Gewissens gehabt, dass ich meine Mutter von bedeutenderen historischen Leistungen abgehalten habe. Es ging immer wieder um den 17. Juni. Irgendwann erfuhr ich auch, dass bei uns in der Nachbarschaft jemand gewohnt hatte, der dann standrechtlich erschossen wurde von der Roten Armee, der Alfred Diener. Das war ein wichtiges Datum, ohne dass je offen darüber geredet wurde.
Schmitz: Wie wurde darüber geredet? Ihre Mutter soll einmal gesagt haben, wir hätten die Genossen damals alle aufhängen sollen.
Rathenow: Ja, wenn sie sehr unzufrieden war. Meine Mutter war sehr unzufrieden mit der DDR, und mein Vater war ein Träger des Systems, das muss man schon so sagen, immerhin Direktor der Städtischen Verkehrsbetriebe, und so gingen politische Diskussion und private Ehestreitdiskussion mitunter fließend ineinander über. Es gab auch andere, die irgendwie in Nebensätzen immer wieder an dieses Datum erinnerten, das hätten wir am 17. Juni alles klären sollen. Ja, es war eine Drohung. Es war eine Drohung der Menschen an die Staatsführung. Es wurde auch als Erfolg erlebt, und dann wurde die Niederwerfung natürlich auch als Machtgebärde, als Machtdrohung verstanden, und sie wirkte bis zum Ende der DDR.
Schmitz: Das kam natürlich viel später. Sie sind wegen "Zweifeln an Grundpositionen, Objektivismus und Intellektualisieren der Probleme" 1977 als Student von der Jenaer Universität geflogen, haben dann unter anderem bei Zeiss Jena als Hilfsarbeiter Ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, bevor Sie dann später nach Ostberlin übergesiedelt sind und sich der Kunst, dem Schreiben und dem Theater gewidmet haben. Wie wurde - Sie haben es gerade schon angedeutet - mit dem 17. Juni unter den Arbeitern umgegangen?
Rathenow: Jena war ein Zentrum des Widerstandes gewesen, und der 17. Juni war dort offenbar sehr viel mehr präsent als in manch anderer Kleinstadt. Ich erlebte während meines nur halben Jahres der Transporthilfsarbeitertätigkeit die Einführung des Mixcafes, ein Kaffeeersatzprodukt - die DDR wollte Devisen sparen -, und es wurde zwei Tage nicht gearbeitet in meiner Umgebung. Jeder Streik wäre kostensparender gewesen, aber Streiks sind ja verboten, sagt ein Arbeiter, also wenn ich keinen ordentlichen Kaffee bekomme, fällt mir alles aus den Händen, und er ließ seine Schüssel fallen; sie war noch nicht kaputt und er hob sie wieder auf und schmetterte sie zu Boden, damit sie richtig kaputt ginge, um so zu beweisen, dass er ohne Kaffee nicht arbeiten könne. Ich erlebte also ein Rohpotential, eine Verweigerung, die gleichzeitig sich bemühte, nicht wieder zum offenen Streik zu werden, nicht wieder den Angriffspunkt für das Einsetzen von staatlichen Repressionen zu geben. Es war wie eine gegenseitige Drohung zwischen Arbeitern und Betriebsführung und den politisch verwaltenden Organen. Also beide Seiten hatten von dem 17. Juni etwas gelernt. Die Staatsführung hatte mächtig Angst und reizte die Arbeiter nicht mehr so sehr mit Leistungsdruck, nie mehr bis zum Ende der DDR, und die Arbeiter hatten natürlich auch Angst inhaliert, sehr viel Angst, die sie mit Zynismus, Sarkasmus und mit schweijkschen Ausweichbewegungen kompensierten.
Schmitz: Hat denn dann diese gegenseitige Drohung möglicherweise die DDR äußerlich stabilisiert, formal und innerlich aber zugleich ausgehöhlt, dass sie dann 1989 eher implodiert als explodiert ist?
Rathenow: Das hat sicher sehr zur ökonomischen Verwahrlosung der DDR beigetragen, denn die politische Kontrolle in der DDR hat bis 1989 nicht nachgelassen, sie ist eher zum Teil verstärkt worden. Das kann man auch an der Zahl der Staatsicherheitsmitarbeiter sehen. Dafür gibt es auch Belege, auch bei meiner Arbeitstätigkeit. Ich bin innerhalb des Betriebes richtig überwacht worden. Gleichzeitig gab es Freiräume für das Nichtstun, die sich auf beängstigende Weise mitunter ausweiteten. Manchmal gab es auch nichts zu tun, weil kein Material da war, und es musste eine Scheinarbeit vorgeführt werden. Das ist ein sehr interessanter Aspekt, dass die Angst vor dem 17. Juni die Staatsführung der DDR auch politisch zu irrationaler Nachgiebigkeit im Bereich der sozialen Belange, im Bereich der Arbeitsdisziplin gebracht hatte.
Schmitz: Wie wurde denn der 17. Juni unter DDR-Dissidenten, zu denen Sie ja gehörten, in der Opposition, etwa in Gesprächen mit Stefan Heim und Robert Havemann empfunden und gedeutet?
Rathenow: Ich hatte das Gefühl, dass alle diese älteren sehr verdienstvollen Leute - auch mit Wolf Biermann habe ich darüber einmal diskutiert - doch sehr stark von der DDR geprägt waren. In Jena Mitte der 70er Jahre hatte ich Jochen Vogts, Robert Havemann und anderen interessante Gespräche, erlebte ich doch eine sehr große Ignoranz diesem Thema gegenüber, und die Ost-Berlin-Zentriertheit bei der Beurteilung der Ereignisse in der DDR wird immer wieder zum Problem, auch jetzt, auch heute beim Nachdenken über dieses Datum. Im Grunde war ja in Halle, Magdeburg, Jena viel mehr los als in Berlin, verhältnismäßig zur Gesamtbevölkerung gesehen. Uns war dieses Datum ein wenig unheimlich. Das muss ich einfach zugeben, nicht ganz ohne Scham. Es war sehr nahe an der Nazizeit dran. Ich habe erst sehr spät erfahren, dass auch die Jenaer Arbeiter mit Hitler so gut wie nichts im Sinn hatten. 1933 hat er dort eine Rede gehalten; niemand hat geklatscht. Also der Vorwurf des Faschismusverdachtes ist natürlich ein lächerlicher Vorwurf. Das haben wir damals auch gewusst. Aber man wusste nicht ganz, ist nicht doch irgendwas dran, ein kleines bisschen? Und dann war die Frage der Gewalt eine Frage, die etwas abschreckte von diesen doch zum Teil auch nicht ganz friedlichen Ereignissen am 17. Juni. Dort wurden Akten vernichtet. Sie wurden nicht bewahrt. Insofern ist der November 89, der Oktober 89 nicht nur die Fortsetzung des 17. Juni, es ist auch eine Korrektur. Man hat auch versucht, etwas daraus zu lernen, eben Gewalt um fast jeden Preis zu vermeiden.
Schmitz: Kam die Scham vielleicht doch daher, dass man den 17. Juni unter Dissidenten nicht gleichwertig mit den Aufständen in Ungarn 56, dem Prager Aufstand von 68 gesehen hat?
Rathenow: Ja, interessanterweise haben wir uns sehr viel aktiver mit diesen Daten beschäftigt und sie sehr viel mehr als Teil einer mitteleuropäischen Emanzipationsbewegung angesehen. Der 17. Juni war ja auch ein vielschichtiges und merkwürdiges Datum. Einiges haben wir einfach auch nicht gewusst und vielleicht auch nicht wissen wollen. Die ganze Stärke dieses Aufstandsversuches, der an 700 Orten stattgefunden hat, dass es schon 1951 und 1952 Demonstrationen, Gefangenenbefreiung und andere Ereignisse in der DDR gab, ist zum Teil jetzt erst bekannt geworden. Also es ist auch ein Beispiel dafür, dass Nichtwissen, eine bestimmte Ignoranz erleichtert. Wir haben uns hinter dem Brecht-Gedicht versteckt, dass die Regierung doch ihr Volk abwählen solle und sich ein neues suchen. Dieser Zynismus der Ostintellektuellen, der sehr viel Distanz zu den Arbeitern verrät, war etwas, das frech und eigenständig zu sein schien. Das war es bis zu einem gewissen Punkt auch, und es war ein Ausweichen vor den konkreten Realitäten, vor einer exakten Geschichtsforschung. Die wäre vielleicht für uns zu unbequem gewesen und zu unbequem geworden. Es gab in der DDR einfach eine Distanz zwischen einem großen Teil der Intellektuellen und Menschen, die arbeiteten und für die der Sozialismus einfach kein Modell war.
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Schmitz: Wie wurde darüber geredet? Ihre Mutter soll einmal gesagt haben, wir hätten die Genossen damals alle aufhängen sollen.
Rathenow: Ja, wenn sie sehr unzufrieden war. Meine Mutter war sehr unzufrieden mit der DDR, und mein Vater war ein Träger des Systems, das muss man schon so sagen, immerhin Direktor der Städtischen Verkehrsbetriebe, und so gingen politische Diskussion und private Ehestreitdiskussion mitunter fließend ineinander über. Es gab auch andere, die irgendwie in Nebensätzen immer wieder an dieses Datum erinnerten, das hätten wir am 17. Juni alles klären sollen. Ja, es war eine Drohung. Es war eine Drohung der Menschen an die Staatsführung. Es wurde auch als Erfolg erlebt, und dann wurde die Niederwerfung natürlich auch als Machtgebärde, als Machtdrohung verstanden, und sie wirkte bis zum Ende der DDR.
Schmitz: Das kam natürlich viel später. Sie sind wegen "Zweifeln an Grundpositionen, Objektivismus und Intellektualisieren der Probleme" 1977 als Student von der Jenaer Universität geflogen, haben dann unter anderem bei Zeiss Jena als Hilfsarbeiter Ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, bevor Sie dann später nach Ostberlin übergesiedelt sind und sich der Kunst, dem Schreiben und dem Theater gewidmet haben. Wie wurde - Sie haben es gerade schon angedeutet - mit dem 17. Juni unter den Arbeitern umgegangen?
Rathenow: Jena war ein Zentrum des Widerstandes gewesen, und der 17. Juni war dort offenbar sehr viel mehr präsent als in manch anderer Kleinstadt. Ich erlebte während meines nur halben Jahres der Transporthilfsarbeitertätigkeit die Einführung des Mixcafes, ein Kaffeeersatzprodukt - die DDR wollte Devisen sparen -, und es wurde zwei Tage nicht gearbeitet in meiner Umgebung. Jeder Streik wäre kostensparender gewesen, aber Streiks sind ja verboten, sagt ein Arbeiter, also wenn ich keinen ordentlichen Kaffee bekomme, fällt mir alles aus den Händen, und er ließ seine Schüssel fallen; sie war noch nicht kaputt und er hob sie wieder auf und schmetterte sie zu Boden, damit sie richtig kaputt ginge, um so zu beweisen, dass er ohne Kaffee nicht arbeiten könne. Ich erlebte also ein Rohpotential, eine Verweigerung, die gleichzeitig sich bemühte, nicht wieder zum offenen Streik zu werden, nicht wieder den Angriffspunkt für das Einsetzen von staatlichen Repressionen zu geben. Es war wie eine gegenseitige Drohung zwischen Arbeitern und Betriebsführung und den politisch verwaltenden Organen. Also beide Seiten hatten von dem 17. Juni etwas gelernt. Die Staatsführung hatte mächtig Angst und reizte die Arbeiter nicht mehr so sehr mit Leistungsdruck, nie mehr bis zum Ende der DDR, und die Arbeiter hatten natürlich auch Angst inhaliert, sehr viel Angst, die sie mit Zynismus, Sarkasmus und mit schweijkschen Ausweichbewegungen kompensierten.
Schmitz: Hat denn dann diese gegenseitige Drohung möglicherweise die DDR äußerlich stabilisiert, formal und innerlich aber zugleich ausgehöhlt, dass sie dann 1989 eher implodiert als explodiert ist?
Rathenow: Das hat sicher sehr zur ökonomischen Verwahrlosung der DDR beigetragen, denn die politische Kontrolle in der DDR hat bis 1989 nicht nachgelassen, sie ist eher zum Teil verstärkt worden. Das kann man auch an der Zahl der Staatsicherheitsmitarbeiter sehen. Dafür gibt es auch Belege, auch bei meiner Arbeitstätigkeit. Ich bin innerhalb des Betriebes richtig überwacht worden. Gleichzeitig gab es Freiräume für das Nichtstun, die sich auf beängstigende Weise mitunter ausweiteten. Manchmal gab es auch nichts zu tun, weil kein Material da war, und es musste eine Scheinarbeit vorgeführt werden. Das ist ein sehr interessanter Aspekt, dass die Angst vor dem 17. Juni die Staatsführung der DDR auch politisch zu irrationaler Nachgiebigkeit im Bereich der sozialen Belange, im Bereich der Arbeitsdisziplin gebracht hatte.
Schmitz: Wie wurde denn der 17. Juni unter DDR-Dissidenten, zu denen Sie ja gehörten, in der Opposition, etwa in Gesprächen mit Stefan Heim und Robert Havemann empfunden und gedeutet?
Rathenow: Ich hatte das Gefühl, dass alle diese älteren sehr verdienstvollen Leute - auch mit Wolf Biermann habe ich darüber einmal diskutiert - doch sehr stark von der DDR geprägt waren. In Jena Mitte der 70er Jahre hatte ich Jochen Vogts, Robert Havemann und anderen interessante Gespräche, erlebte ich doch eine sehr große Ignoranz diesem Thema gegenüber, und die Ost-Berlin-Zentriertheit bei der Beurteilung der Ereignisse in der DDR wird immer wieder zum Problem, auch jetzt, auch heute beim Nachdenken über dieses Datum. Im Grunde war ja in Halle, Magdeburg, Jena viel mehr los als in Berlin, verhältnismäßig zur Gesamtbevölkerung gesehen. Uns war dieses Datum ein wenig unheimlich. Das muss ich einfach zugeben, nicht ganz ohne Scham. Es war sehr nahe an der Nazizeit dran. Ich habe erst sehr spät erfahren, dass auch die Jenaer Arbeiter mit Hitler so gut wie nichts im Sinn hatten. 1933 hat er dort eine Rede gehalten; niemand hat geklatscht. Also der Vorwurf des Faschismusverdachtes ist natürlich ein lächerlicher Vorwurf. Das haben wir damals auch gewusst. Aber man wusste nicht ganz, ist nicht doch irgendwas dran, ein kleines bisschen? Und dann war die Frage der Gewalt eine Frage, die etwas abschreckte von diesen doch zum Teil auch nicht ganz friedlichen Ereignissen am 17. Juni. Dort wurden Akten vernichtet. Sie wurden nicht bewahrt. Insofern ist der November 89, der Oktober 89 nicht nur die Fortsetzung des 17. Juni, es ist auch eine Korrektur. Man hat auch versucht, etwas daraus zu lernen, eben Gewalt um fast jeden Preis zu vermeiden.
Schmitz: Kam die Scham vielleicht doch daher, dass man den 17. Juni unter Dissidenten nicht gleichwertig mit den Aufständen in Ungarn 56, dem Prager Aufstand von 68 gesehen hat?
Rathenow: Ja, interessanterweise haben wir uns sehr viel aktiver mit diesen Daten beschäftigt und sie sehr viel mehr als Teil einer mitteleuropäischen Emanzipationsbewegung angesehen. Der 17. Juni war ja auch ein vielschichtiges und merkwürdiges Datum. Einiges haben wir einfach auch nicht gewusst und vielleicht auch nicht wissen wollen. Die ganze Stärke dieses Aufstandsversuches, der an 700 Orten stattgefunden hat, dass es schon 1951 und 1952 Demonstrationen, Gefangenenbefreiung und andere Ereignisse in der DDR gab, ist zum Teil jetzt erst bekannt geworden. Also es ist auch ein Beispiel dafür, dass Nichtwissen, eine bestimmte Ignoranz erleichtert. Wir haben uns hinter dem Brecht-Gedicht versteckt, dass die Regierung doch ihr Volk abwählen solle und sich ein neues suchen. Dieser Zynismus der Ostintellektuellen, der sehr viel Distanz zu den Arbeitern verrät, war etwas, das frech und eigenständig zu sein schien. Das war es bis zu einem gewissen Punkt auch, und es war ein Ausweichen vor den konkreten Realitäten, vor einer exakten Geschichtsforschung. Die wäre vielleicht für uns zu unbequem gewesen und zu unbequem geworden. Es gab in der DDR einfach eine Distanz zwischen einem großen Teil der Intellektuellen und Menschen, die arbeiteten und für die der Sozialismus einfach kein Modell war.
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