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"Ein bisschen Demokratie kann man nicht zulassen"

Freya Klier ist Autorin und Regisseurin. Sie wuchs in der DDR auf und wurde - zusammen mit ihrem Mann, dem Liedermacher Stephan Krawczyk - eine Symbolfigur der DDR-Friedensbewegung.

27.05.2010
    Freya Klier, geboren am 4. Februar 1950 in Dresden, deutsche Autorin und Regisseurin. Sie verbrachte aufgrund der Inhaftierung ihres Vaters ihr drittes Lebensjahr in einem Kinderheim. 1968 Abitur. Kurz danach unternahm sie einen vergeblichen Fluchtversuch aus der DDR. Verurteilung zu 16 Monaten Gefängnis, doch vorzeitige Entlassung. Von 1970 bis 1975 Schauspielstudium in Leipzig und Dresden. Seit den 80er-Jahren war Freya Klier aktiv in der DDR-Friedensbewegung. 1985 Berufsverbot. 1988 Verhaftung durch das Ministerium für Staatssicherheit und im Gefolge ihrer Untersuchungshaft verließ Freya Klier zusammen mit Stephan Krawczyk die DDR. Freya Klier lebt heute als freischaffende Autorin und Filmregisseurin in Berlin. Sie hat eine Tochter.

    Freya Klier: "Wir in der ersten Kindergeneration, wir waren die erste Generation, in die der Gedanke oder die Idee des neuen sozialistischen Menschen gefüllt wurde."

    Elternhaus und Kindheitsprägung in der DDR.

    Rainer Burchardt: Frau Klier, wenn man Ihre Vita sich genau betrachtet, dann sind Sie, mit Verlaub gesagt, die Inkarnation der DDR-Geschichte, wenngleich Sie natürlich in Ihrem Leben eine große Distanz dazu gewonnen haben. Sie war, die DDR, noch nicht einmal ein Jahr alt, da wurden Sie geboren, im Februar 1950 in Dresden, und es gab das letzte Jahr der DDR, als Sie dann rausflogen und rausgeschmissen wurden. Wenn Sie daran denken, an diese gut 38 Jahre erlebte DDR, was für Gefühle kommen da auf für Sie?

    Klier: Na, ich habe also verschiedene Phasen erlebt, die ich nachvollziehen kann. Ich gehöre ja, wie Sie das gerade erwähnt haben, der ersten Kindergeneration der DDR an, und das ist die Generation gewesen, die am allerstärksten propagandistisch geprägt worden ist im Unterschied zur Generation meiner Tochter beispielsweise, die dann in den späten 80er-Jahren jugendlich wurde, da war die DDR schon so ziemlich am Ende und haute auch nicht mehr so auf den Putz, die Genossen. Aber wir in der ersten Kindergeneration, wir waren die erste Generation, in die der Gedanke oder die Idee des neuen sozialistischen Menschen gefüllt wurde. Wir waren ein unbeschriebenes Blatt im Unterschied zu unseren Eltern oder größeren Geschwistern, die ja Drittes Reich, auch Nachkriegszeit, das alles schon bewusst erlebt haben. Wir waren jung und waren offen und sind also ganz massiv eigentlich, propagandistisch beeinflusst worden und ich habe das oft geschrieben in Essays, dass wir auch am stärksten geprägt worden sind dadurch. Das sage ich jetzt mal wertfrei, egal wer wo an welcher Stelle dann landete. Aber erst mal war das so.

    Burchardt: Was bedeutete damals die Erziehung in Ihrem Elternhaus? Ihr Vater war Dekorateur, Ihre Mutter war Arbeiterin, so steht es jedenfalls in den Biografien, und Sie selber haben ja durchaus ein Schlüsselerlebnis auch gehabt, was Sie sicherlich sehr auf die Distanz zur DDR im Allgemeinen und zur Stasi im Besonderen gebracht hat. Das werden wir im Einzelnen ja noch erörtern. Vielleicht sollen Sie es einfach mal erzählen, dieses sogenannte Straßenbahnerlebnis!

    Klier: Ja ich selber war ja nicht dabei, weil ich war drei Jahre alt, 1953, und meine Eltern, die sind Straßenbahn gefahren und es kam zu einem Handgemenge mit einem Polizisten, der meine Mutter brutal runtergezogen hat. Mein Vater hatte dem ein paar gedrückt und damit hat er sich an der Staatsmacht der DDR vergriffen und es gab dann einen dieser Schnellprozesse, die sehr typisch waren für die 50er- und 60er-Jahre, ohne Gerichtsurteil, ohne Zeugen, die das ja alles miterlebt haben und ganz eindeutig auch Position ergriffen haben für meinen Vater natürlich. So, mein Vater verschwand eben das eine Jahr dann im Bergbau der Russen, im Uranbergbau der Russen, Knast. Meine Mutter wollte eigentlich Ingenieurin werden, die hat ja dann auch ein Studium gemacht später, aber die musste also noch erst mal mit ins Schichtsystem und mein Bruder und ich, wir sind da in ein Kinderheim gekommen und sind da auf Stalinlinie gebracht worden, also auf Stalinkurs. Und das sind für Vorschulkinder sehr prägende Erfahrungen, weil man fühlt sich auf der einen Seite sehr allein, versteht nichts – politisch sowieso nicht – und auf der anderen Seite war es einfach so, dass die Gehirnwäsche so extrem war, also es war ein Bronzekopf von Stalin – "Väterchen Stalin" hieß der – in einer Gedächtnisecke und die Kinder marschierten zwei-, dreimal am Tag in Zweierreihe Väterchen Stalin vor. Wir haben seinen Tod erlebt und auch dieses bitterliche Weinen unserer Erzieherinnen, von denen ich auch bei mehrerem Nachdenken ganz sicher bin, von ihrem ganzen Habitus und von ihrer Altersstufe, dass die vorher glühende BDM-Mädels waren. Das blieb ja so alles in diesem, wie gesagt, im Habitus, und die weinten bitterlich, dass Stalin tot war, und wir Kinder weinten alle mit. Und dann wurde uns gesagt, Väterchen Stalin ist tot, doch er wird für immer und ewig in unseren Herzen weiterleben. Und wir haben dann so Selbstverpflichtungen übernommen, was wir eben zu tun gedenken, um gutzumachen, dass unsere Eltern Feinde des Friedens und Fortschritts sind. Das sind eigentlich Termini, die durchziehen diese sozialistischen Gesellschaften seit der Oktoberrevolution, da sitzt immer die Macht, angefangen von Lenin über Stalin bis heute übrigens hin zur Linkspartei, die sitzen auf dem Frieden, immer auf dem Fortschritt, egal was sie tun. Und kritisierst du die oder als Staat jetzt, im Staat, wenn du die Regierung kritisiert hast, warst du ein Feind des Friedens, weil die da drauf saßen.

    Burchardt: Wenn wir noch mal bei 1953 bleiben, ich weiß nicht, wie stark Ihre Erinnerung überhaupt ist, aber erstaunlich ist ja, Sie sagen auf der einen Seite Indoktrination in Sachen Stalinismus, auf der anderen Seite ist ja der Juni 1953 gewissermaßen die erste Phase des inneren Widerstandes in der DDR gewesen. Haben Sie daran noch Erinnerungen, oder rückwirkend betrachtet zumindest, wie beurteilen Sie damals diese Entwicklung, die dann ja auch brutal niedergeknüppelt wurde?

    Klier: Ich habe selber auch in meiner Familie durch das persönliche Ereignis, dass mein Vater ja anders betroffen war, überhaupt gar keine Erinnerung. Also wir sind so klein gewesen und der 17. Juni in unseren Schulbüchern – und das blieb bis zum Schluss so – nur vorkam als ein faschistischer Putsch. So, und währenddessen wir, als wir jugendlich wurden, Prag 68 zum Beispiel als ein sehr wichtiges, persönliches Ereignis auch voll reflektiert, erlebt haben, blieb der 17. Juni durch diese finstere Propaganda, mit der er immer verbunden war – zum Beispiel: 17. Juni, Faschisten aus Westberlin brachen ein, eine KZ-Aufseherin wurde befreit – also alles Dinge, die überhaupt nicht stimmten, blieb er im Kopf unserer Generation immer irgendwie als na ja, der war nicht so richtig okay. Das blieb ganz, ganz lange und an solchen Ereignissen konnte man eben die eigene Erziehung auch ablesen.

    Burchardt: Wenn man Ihnen jetzt so zuhört, dann merkt man immer noch eine ziemliche Wut, die übrig geblieben ist offensichtlich auch in der Nachbetrachtung. Wann haben Sie angefangen damals, zu zweifeln, beziehungsweise also Heranwachsende zu sagen, ey Leute, also ist das nicht vielleicht doch ein bisschen einseitig, was ihr hier uns versucht einzutrichtern?

    Klier: Na ja, wenn man jugendlich wird, also da kommt ein Alter, da geht es nicht mehr nur darum, dass man irgendwie die Flaschen einsammelt und ordentlich wegbringt, sondern man sieht, was an Lügen um einen herum passiert. Man erlebt als Schüler, dass die Schüler gefördert werden, die politisch, oder deren Elternhäuser politisch auf der richtigen Linie liegen, dass andere gar kein Abitur machen dürfen, dass Mitschüler von der Schule fliegen, weil sie irgendwie ihre Meinung gesagt haben und die nicht geduldet wurde. Und das erlebt man, da ist man ja sensibel als Jugendlicher, hat aber überhaupt noch nicht das Gesamtbild. Das heißt, es beschränkt sich sehr lange auf das, was man selbst erlebt hat, je nachdem ich sag auch mal nach persönlicher Wachheit kommt dann mehr und mehr das gesellschaftliche Wissen dazu. Nun muss man aber sagen, dass in der DDR es ja überhaupt gar keine Information gab zu nichts. Es stand ja wirklich nichts in der Zeitung. Man musste sich das zusammenklauben, man musste Leute kennen, die irgendwelche Informationen hatten, damit das irgendwann mehr und mehr zu einem Gesamtbild kam, und das fiel nun unterschiedlich aus in den Familien.

    Burchardt: Mit Kästner würde ich jetzt mal fragen, wo bleibt das Positive, Frau Klier, es kann ja nicht alles nur schlecht in der DDR gewesen sein?

    Klier: Na das ist ein Satz, den liebe ich! Natürlich war nicht alles schlecht und zwar wir, die wir gelebt haben darin. Und das muss ich aber sagen: Auch das galt für das Dritte Reich, das gilt auch für Diktaturen, ich denke auch für den Iran heute, dass man, wenn man als Einzelwesen lebt und nicht gerade ganz stark in der politischen Mühle ist, dann macht man auch Geburtstagsfeiern, Partys, soweit es ging im Wald, wo uns niemand gesehen hat, wo kein Polizist kam, zu Hause in Wohnungen, wo die Eltern uns gelassen haben, haben wir heimlich die Musik gehört, die verboten war und so.

    Burchardt: Welche, Westmusik?

    Klier: Westmusik natürlich!

    Burchardt: Beatles und so weiter.

    Klier: Ja, Beatles, ganz genau und das war die Zeit.

    Burchardt: Aber es kam auch Karate und Pur, Sputnik, es gab Frank Schöbel.

    Klier: Na ja Frank Schöbel ...

    Burchardt: Also es gab ja eigentlich auch doch einige ich will mal sagen jetzt musikalische Volkshelden?

    Klier: Das ist durchaus richtig, also es gab ... musikalische Volkshelden würde ich so nicht sagen, Frank Schöbel war eine andere, das war mehr Schlagergesang, hatte ein großes Publikum, wie immer Schlager, die Pop- und Rockgruppen wiederum in der DDR waren ja über weite Strecken ständig verboten, wurden verboten, dann gab es, wurde es aufgeräumt unter irgendwelchen Versuchen, Musik zu machen, teilweise kamen die in die Braunkohle und Knast wegen Asozialität so Leute, die Musik gemacht haben. Man versuchte trotzdem, immer irgendwie dazwischen zu kommen.

    Burchardt: Wie sind Sie an diese Musik gekommen? Sie sagten ja eben, es gab kaum Information aus dem Westen, das ist ja nun auch eine Form von Information.

    Klier: Jetzt kann ich ja ein Kompliment machen an Deutschlandfunk, der gehörte ...

    Burchardt: Gerne, immer gerne!

    Klier: ... ja, Deutschlandfunk war eigentlich ... Ich komme ja aus Dresden und Deutschlandfunk gehörte zu den Sendern, die wir reinkriegten. Westsender, das war ja streng verboten. Mein Vater hörte immer Deutschlandfunk, das rauschte und krachte, aber da gab es auch Musiksendungen. Andere hatten mehr Glück, die hörten dann noch Radio Luxemburg, und wer da so ein altes Tonbandröhrengerät hatte, schnitt das mit. Oder irgend eine Oma brachte mal eine Stones-Platte rein, geschmuggelt. Und das wurde dann bei den Partys, Feten hießen die bei uns, Partys ist ja ein Wort aus dem Westen, was später kam ...

    Burchardt: Klar.

    Klier: Dann haben wir das getauscht und die Jungs vor allem waren da ganz rührig. Wir Mädels haben uns mehr geteilt in Stones- oder Beatlesfans oder was da noch so alles aufkam, The Mamas and the Papas.

    Klier: "Wenn Leute so aussahen wie 68er, die haben gleich eins auf die Mütze gekriegt in der DDR!"

    Der SED-Staat und die 68er-Bewegung

    Burchardt: Was hat die 68er, zunächst mal die Studentenrevolte, was hat das denn damals für die Jugend in der DDR bedeutet?

    Klier: Die DDR-Regierung kam mit den 68ern nicht so gut klar, die entsprachen schon mal gar nicht ihrem Bild. Weil es wird zwar immer von links geredet, aber erstens gab es den Begriff überhaupt nicht in der DDR, politisch, und zweitens waren die immer stockkonservativ, nur mit besonders miesen Charakteren gesegnet oder ausgestattet, und ... Also so etwas Langhaariges und, ja Feminismus und was da alles kam und diese ganze Sprache entsprach überhaupt nicht ihrem Bild, so. Die haben sich gefreut natürlich und wie man bei Kurras sehen konnte, haben die das natürlich befördert in ihrem Sinne, haben die unterwandert, diese ganze Bewegung, so gut sie konnten, um sie in ihre Richtung zu lenken, damit, wie das so hieß, diese, der Kapitalismus ausgehöhlt wird davon. Aber die selber hätten, also wenn Leute so aussahen wie 68er, die haben gleich eins auf die Mütze gekriegt in der DDR.

    Burchardt: Kurras wurde ja später, und das ist noch gar nicht so lange her, überführt als Mitarbeiter der Stasi, der auch möglicherweise im Auftrage der Stasi Benno Ohnesorg erschossen hat. Wenn Sie das jetzt heute erfahren haben, was ging da durch Ihren Kopf?

    Klier: Das wundert mich überhaupt nicht. Gut, er ist ja hier groß geworden, aber man vergisst leicht, dass im Zuge dieser Massenflucht 1957, 1958 die Staatssicherheit ihre eigenen Leute in den Westen schleuste und dann aufgebaut hat in allen Gremien. Und da kommt ab und zu mal was ans Licht eben durch Aktenfund, das überrascht mich nicht, weil die Leute natürlich da sind, die haben auch Politik gemacht, und ich denke schon, man sollte sich immer angucken, wie hat sich jemand entwickelt. Also wenn jemand es nicht mehr ausgehalten hat in der DDR, dass es so schlimm war in der DDR, dass er raus ist aus seiner Heimat ja immerhin, dann muss man schon genau gucken, wie hat er oder sie sich dann im Westen entwickelt?

    Klier: "In den 60er-Jahren waren die Lehrer noch nicht so gleichgeschaltet wie später, auch eine Diktatur braucht ja Zeit, um alles so zu setzen, damit es glatt funktioniert."

    Die 60er-Jahre, der Berliner Mauerbau und die Rolle der Westmedien in der DDR

    Burchardt: Sie haben eben den Begriff Massenflucht benutzt, das führt uns zurück noch mal auf das, was man vielleicht, ein Spruch: Als die zentrale Lebenslüge der DDR bezeichnen kann, nämlich von Walter Ulbricht, der irgendwann mal gesagt hat vor amerikanischen Journalisten, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen, und wenig später, am 13. August, stand das Ding. Sie waren damals immerhin auch schon elf Jahre alt. Was hat das für Sie bedeutet, im Westen wurde ja durchaus auch schon damals gesagt, oh, oh, oh, jetzt könnte es sein, dass es zu einem großen Konflikt zwischen Ost und West, also zwischen den Amerikanern und den Russen wegen Berlin kommt?

    Klier: Das sind genau die Jahre, die ich zu klein war, um das politisch beurteilen zu können.

    Burchardt: Hatten Sie keine Angst damals? Das müsste doch bei Ihnen angekommen sein?

    Klier: Nein, überhaupt nicht. In Dresden, ich war elf Jahre alt, ich war in Dresden und das, was ich erlebt habe, war mein Vater. Mein Vater, der saß an seinem, ich würde sagen Deutschlandfunk, das war so ein altes Röhrengerät und es ging irgendwie, es rauschte und ging alles drunter und drüber und der fluchte ständig. Aus seinem Mund habe ich überhaupt erst gehört, was passiert, und ich war aber so erzogen von der Schule zu dieser Zeit noch, dass ich lernte oder wir lernten, dass den Sender der Nazis zu hören, verboten ist. Und ich jetzt versuchte, meinen Vater da wegzuziehen und abzuhalten und der mir irgendwann ein paar geklebt hat. Ich habe mit meiner Pionierzeitung, "Trommel" hieß die, mit meiner Pionierzeitung "Trommel" danebengesessen und geraschelt, um meinen Vater abzuhalten, den Feindsender zu hören.

    Burchardt: Habe ich Sie richtig verstanden, dass damals der Deutschlandfunk in der DDR als Sender der Nazis galt?

    Klier: Ja, der Bonner Ultras, es wurde so gesagt: Deutschlandfunk und ähnliche Sender natürlich, alles, was aus dem Westen kam, sind die Sender der Bonner Ultras, das ist so gut wie Adolf Hitler, die alle Nazis, wo alle Nazis noch drin sind. Das wussten die Erwachsenen natürlich, dass das nicht stimmt, jedenfalls die meisten, aber es Sie haben ja vorhin gesagt, ich bin von Anfang bis Ende dabei gewesen und das ist das, was wir als erste Kindergeneration täglich, wir sind täglich mit so einer Propaganda beschallt worden. Und das dauerte also wie gesagt bis zu meinem 13., 14. Lebensjahr, bis ich ein bisschen mehr begriff.

    Burchardt: 1964, Chruschtschow kam, war Schluss mit Stalinismus, auch in der DDR. War das zu spüren, auch an den Schulen?

    Klier: Na ja, es gab immer mal so kleine, winzige Wellen, die man aber als Kind im Einzelnen auch nicht mitgekriegt hat. Die habe ich später, ich habe ja dieses Buch über das Erziehungswesen in der DDR später geschrieben, da habe ich diese Wellen alle noch mal aufgearbeitet, wann was wo war, warum, wie lange es angedauert hat. Aber als Kind hat man Glück oder Pech gehabt mit seinen Lehrern, wobei ich sagen muss, in den 60er-Jahren waren die Lehrer noch nicht so gleichgeschaltet wie später, auch eine Diktatur braucht ja Zeit um alles so zu setzen, damit es glatt funktioniert. Und ich erinnere mich in den 60er-Jahren, vor allem in der Zehnklassenschule, also später im Gymnasium gar nicht mehr, da war das, waren die ziemlich gleichgeschaltet schon, weil dort sollte ja die sozialistische Elite herangezogen werden, aber die anderen hatten auch noch einen Spielraum. Und ich erinnere mich in dieser Zeit an Lehrer, die politisch ganz gut auf unserer Seite waren und das einen haben auch spüren lassen.

    Burchardt: Haben Sie die Jugendweihe bekommen, persönlich?

    Klier: Beides. Also das war zum Beispiel der Kompromiss, man kam nur auf die EOS, wie das hieß, also auf das Gymnasium, wenn man sozialistisch jugendgeweiht war. Wir kamen aus der Kirche und natürlich wollte ich konfirmiert werden so wie viele andere auch noch, und dann gab es einen Kompromiss, der wurde in den 60er-Jahren einfach hingenommen, man machte beides.

    Burchardt: Was waren die Jungen Pioniere für Sie?

    Klier: Im Unterschied zu meinem Bruder, der gar nicht erst reingegangen ist mit sieben Jahren, das war eine absolute Ausnahme, der ist nach dieser Kinderheimgeschichte hat der sich, der hatte eine Ehrlichkeit, der hat das überhaupt nicht mitgemacht und ich wollte erst mal dabei sein. Eben aus der Erfahrung heraus, nicht zu den zu gehören, die angenommen waren eben als Kleinkind oder als jüngeres Kind, habe ich mich eigentlich gemeldet im ersten Schuljahr. Wenn es was zu verteilen gab, eine Funktion – und da gab es sehr viele ständig zu verteilen – habe ich meine Hand hochgerissen und wollte das machen, damit ich nicht zu den Kindern gehöre, die irgendwie mit dem Gesicht zur Wand stehen müssen.

    Burchardt: Also Sie waren auch gewissermaßen ein bisschen clever in dieser Zeit ...

    Klier: Nein, ich war nicht clever mit sieben Jahren, sondern ich wollte einfach geliebt werden. Also clever würde ich das gar nicht nennen, sondern ich habe unter dieser Kinderheimzeit sehr gelitten und nun kommt ja noch hinzu, dass man Hortkind war, das war ja nicht so das heute ist, wo man irgendwie die Eltern auch zu Hause oder zum Teil oder die Oma oder so, sondern die meisten Frauen arbeiteten und das war eine sehr schwere Arbeit und der Hort war, das war also, das war Horror! Ja das ... Wie man behandelt wurde, das war alles Stress, Hektik, das kann man heute gar nicht mehr nachvollziehen. Die Eltern waren im Stress, weil die sehr schwer arbeiten mussten, und da fehlte irgendwie, es fehlte Zärtlichkeit, Liebe, die hatte ich von meiner Mutter auf jeden Fall. Aber dann eben abends, die fiel bald um vor Müdigkeit, sodass ich irgendwie das Bedürfnis hatte - das habe ich im Nachhinein reflektiert, als erwachsener Mensch -, das Bedürfnis hatte denke ich so in den ersten Schuljahren, angenommen zu werden. Es fand ja alles nur statt über die Pioniere. In den Pionierpalast gehen, Kindertheater, Wanderungen, es fand, da musste man in den Pionieren sein!

    Burchardt: Wir haben jetzt gehört, Frau Klier, Sie haben eine Menge mitgemacht, Sie haben Kompromisse geschlossen auch aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Wann ist bei Ihnen eigentlich der Moment, oder gibt es überhaupt einen für Sie auch nachvollziehbaren Moment, wo Sie gesagt haben, halt, stopp, bis hierher, mehr mache ich jetzt nicht mit, und dann auch dagegen sich organisiert haben?

    Klier: Ja, das erste große Erlebnis war, dass ein Freund, der richtig gut Jazztrompete gespielt hat – was ohnehin verboten war in den frühen 60er-Jahren, oder nicht geduldet oder überhaupt durften die Leute ja nicht Musik machen, wenn man konnte, man brauchte eine staatliche Genehmigung und die kriegten nur die politisch Angepassten ... – Und ich habe erlebt, wie er und seine Freunde, weil die das nicht gemacht haben, sondern die haben einen Arbeitsplatz zugewiesen gekriegt – auch das war, es herrschte Arbeitspflicht und in dem Land, wo Arbeitskräftemangel herrschte, haben die natürlich versucht, ihre Fließbänder zu besetzen, besonders mit politisch nicht Opportunen. Und das habe ich bei einem Freund erlebt, dass der das nicht gemacht hat, nicht angetreten, und der ist dann für drei Jahre wegen Asozialität verhaftet worden, im Knast haben sie ihm noch die Zähne eingeschlagen, der konnte auch nicht mehr Trompete spielen. Und das sind so Erlebnisse, das, später kam mein Bruder dazu, der dann verhaftet wurde mit Freunden. Die haben, dann ging es um Stones- und Beatlestexte, die sie der Polizei nicht ausgehändigt haben. Dann sind die zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Und das war, so diese Schikanen Jugendlichen gegenüber waren in den 60er-Jahren am extremsten.

    Burchardt: Wir waren vorhin schon mal bei den 68ern, zu den 68ern gehört eben auch der sogenannte Prager Frühling und die Niedererdrückung erneut eines "sich öffnenden Sozialismus", in Anführungsstrichen. Angeblich waren DDR-Truppen, wenn auch nicht in Prag selber, aber zumindest Gewehr bei Fuß. Haben Sie das gewusst und wie haben Sie das empfunden?

    Klier: Armee war eines der schlimmsten Themen in der DDR und das betraf ja alle jungen Männer. Das heißt, mein erster Mann, Gottfried, war bei der Armee, Stephan Krawczyk, mein zweiter Mann, die haben ja alle Furchtbares berichtet auch. Und wir haben auch über Freunde, die zu der Zeit bei der Armee eingezogen waren, gewusst, das sie zusammengezogen werden an der Grenze im Erzgebirge, zum Einmarsch bereit, das waren Alarmsignale. Aber der ganze Umgang, der ganze propagandistische Umgang mit dem, was in der Tschechoslowakei passierte, war so, dass er uns ganz tief beeindruckt hat. Ich war zu dieser Zeit in der Jungen Gemeinde, was der einzige Ort war, wo man wirklich offen über Dinge sprechen konnte, und dann haben wir also über Prag gesprochen.

    Burchardt: Kirchlich?

    Klier: Kirchlich, ja. Das war also ein ganz, ganz wichtiges Thema, dem ging aber noch voraus, 1967 war das glaube ich, dass die DDR sich eine neue Verfassung gab, und diese Lügen immer, so Demokratie spielen: Es wurde die Bevölkerung aufgefordert, Vorschläge einzubringen, natürlich alle Genosse brachten die vorgegebenen Vorschläge ein und wir haben damals auch Vorschläge eingebracht, weil wir gedacht haben, wir versuchen es einfach mal. Wir versuchen, nicht nur dagegen zu sein, sondern etwas einzubringen, und haben dann die Erfahrung gemacht, du kriegst überhaupt keine Antwort und nichts! Das rauscht einfach durch und dann wird irgendwie, keine Ahnung, wo sie das hingeschmissen haben. Na ja, das sind so Dinge, wo man als junger Mensch besonders sensibel ist, und dann kam diese Prag-Geschichte. Bei mir kam aber dazu, dass ich einen Fluchtversuch unternommen habe, weil mein Bruder im Gefängnis saß, und das wiederum fiel zeitlich zusammen. Der Fluchtversuch ist ja gescheitert, obwohl er sehr gut organisiert war von einer schwedischen Jugendgruppe ...

    Burchardt: Sie haben 16 Monate damals bekommen.

    Klier: Ja, davon habe ich aber elf Monate abgesessen. Reichte auch aus. Ich kriegte den Rest als Bewährungsstrafe, was sehr niedrig war. Das hatte ich wiederum einer Leiterin der Theaterhochschule damals zu verdanken, denn normalerweise kriegte man für DDR-Flucht drei bis vier Jahre mindestens.

    Burchardt: Wie war Ihre Erfahrung im Gefängnis auch mit Gleichgesinnten, ...

    Klier: Gleichgesinnte?

    Burchardt: ... vermutlich auch Frauen, die dort saßen und dasselbe Problem hatten wie Sie?

    Klier: Wissen Sie, das ist eine Frage, wo ich jetzt spüre, dass Sie aus dem Westen kommen, denn das gab es nicht in der DDR, ...

    Burchardt: Ich bitte um Entschuldigung, aber ich konnte nichts dafür!

    Klier: Nein, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Nein, gar nicht, sondern das ist eigentlich sehr interessant, ja dass das, wo man heute im liberalen Strafvollzug, wo ich auch gedreht habe einen Film, sehe, dass die Menschen ja miteinander reden können, das gab es nicht in der DDR. Wenn sie gemerkt haben, da sind zwei Politische, Kriminelle kamen immer zusammen. Du hast jemanden gefunden, mit dem du dich verstehst politisch, du bist sofort getrennt worden. Und es war ja meine Haftzeit genau die Zeit, in der Leute aus der Tschechoslowakei rein kamen, die in Prag gewesen sind, die versucht haben, nach Bayern zu fliehen über Böhmerwald und so. Das heißt, das Gefängnis füllte sich eigentlich mit Frauen, die hochinteressant waren für mich, mit denen ich mich gut hätte verstehen können. – Die waren höchstens mal drei, vier Stunden drin mit mir in einer Zelle und dann wurden die sofort wieder rausgenommen und ich kriegte dann irgendwie eine Mörderin rein, die ihr Kind auf die Herdplatte gesetzt hatte. Und diese Demütigungen gegenüber politischen Gefangenen, die war ja extrem und dazu gehörte eben, dass du mit solchen Leuten zusammenkamst, in Dresden später war ich dann mit Prostituierten zusammen, wo ich gar nicht wusste, dass es so was gibt in der DDR. Aber wenn man sich verstanden hat, was ja sehr hilfreich ist, im Gefängnis Menschen zu haben, wie auch immer gleich auf einer Welle schwimmt, die wurden sofort, man wurde sofort getrennt.

    Klier: "Dass ich noch mal studieren durfte, nach politischer Haft, habe ich der damaligen Leiterin der Theaterhochschule in Leipzig zu verdanken."

    Glücksfall Studium und das Leben als Schauspielerin in der DDR-Diktatur

    Burchardt: Vielleicht kommen wir jetzt auf Ihre Wendung zum Studium: Sie haben Regie studiert, zunächst waren Sie Kellnerin, Sie waren bei der Post, Sie haben ein sehr bewegtes Leben nach dem Knast gehabt um es mal so zu sagen ...

    Klier: Ja, das gehörte zur Bewährungszeit ...

    Burchardt: Das gehörte noch mit dazu, ja ...

    Klier: Das war alles Bewährungszeit, ja.

    Burchardt: Und dann haben Sie Regie studiert, wie sind Sie darauf gekommen?

    Klier: Nein, nein. Nein, dann habe ich Schauspiel studiert und ich werde sehr oft darauf angesprochen, weil das so was Ungewöhnliches ist, dass wenn jemand aus politischen Gründen in einem DDR-Gefängnis gesessen hat, dann hat der nie wieder einen Studienplatz gesehen. Da kenne ich nur zwei Ausnahmen, davon bin ich eine und der andere war von Markus Wolf der Neffe, wie ich gehört habe, der auch abhauen wollte wohl und irgendwie später dank seines Onkels und so weiter, keine Ahnung, ob es stimmt, das ist, so geht jedenfalls das Gerücht. Und ich bin der einzige Fall, den ich kenne. Dass ich noch mal studieren durfte, nach politischer Haft, habe ich der damaligen Leiterin der Theaterhochschule in Leipzig zu verdanken, die sich gekümmert hat, die dann auch nachgefragt hat, und ich denke auch mal, dass die mein Urteil gedrückt hat, weil wie gesagt, das war schon so niedrig, weil die gesagt hat irgendwie, das Mädel hat durchgedreht, weil der Bruder im Gefängnis sitzt, die Nerven verloren, die ist erst 18. Und diese Frau, die hat mir noch mal eine Chance gegeben. Das heißt, während ich das erste Mal mich beworben habe in Leipzig und angenommen worden bin - habe ich neulich mal in den Unterlagen gefunden, was ich nie wusste -, dass ich nur erst mal unter Vorbehalt aufgenommen wurde, weil ich noch keinen gefestigten Klassenstandpunkt hatte; beim zweiten Mal - also ich hatte ja schon begonnen zu studieren -, bei der Wiederaufnahme meines Studiums steht überhaupt nichts dergleichen. Nur diese Leiterin der Theaterschule, die wurde abgesetzt, weil die lag nicht auf Linie. Wir haben natürlich keinen Grund erfahren, die wurde ersetzt durch eine der üblichen Funktionärinnen. Nur ich will sagen, dass es auch das gab. Das ist ein absoluter Glücksfall für mich gewesen, ansonsten hätte ich wahrscheinlich einen Ausreiseantrag gestellt und wäre rausgegangen.

    Burchardt: Wir war Ihr persönliches Erleben damals als Schauspielerin in einem ja doch sehr autoritären Staat? Sie haben ja nun auch durchaus Stücke aufgeführt von Leuten, man würde so sagen: vorrevolutionärer oder zumindest emanzipatorische, das konnte doch eigentlich gar nicht zum System passen?

    Klier: Sie haben mich ja vorhin gefragt, was es auch Positives hab: Dazu gehört auf jeden Fall das Theater. Ich würde mal sagen, da ich es ja als Schauspielerin kennengelernt habe, als Studentin, später als Regiestudentin und als Regisseurin, es ist eigentlich Widerstand gewesen in der DDR. Politischer Widerstand, ästhetischer Widerstand, alle, die ich kennengelernt habe, haben was Besseres gewollt als das, was wir in der Realität vorfanden. Es hatte eine hohe Qualität, die Ausbildung hatte eine außerordentlich hohe Qualität, weil eben unterhalt dieser ganzen Lügenebene gibt es ja Menschen, die versuchen, was Gutes zu machen. Das galt denke ich mal für meine Kollegen und mich sicher auch und das Studium war einfach spannend. Also in dem Studium haben wir Dinge ausprobieren können und das blieb, am Theater wurde es so schwieriger, weil mit, bei Stücken, da saß ja dann die Zensur drauf. Aber als Student konntest du ja immer Sachen ausprobieren, die andere gar nicht machen durften. Da waren andere in anderen Berufen viel stärker in dem System irgendwie, in dem Geschirr auch festgezurrt, als wir das als Schauspieler hatten. Ich will mal ein Beispiel sagen: Als Biermann ausgebürgert wurde, war ich als Schauspielerin am Theater in Senftenberg.

    Burchardt: Das war 76.

    Klier: 76. So, da hatte irgendjemand, wo wir wirklich nicht mehr sagen können, wer hatte eigentlich die Idee, in unserem Schauspielensemble gesagt, wir müssen eine Protestresolution unterschreiben, machen. Der Text war plötzlich da und das ganze Ensemble, ich glaube mit vielleicht ein, zwei Ausnahmen, wir unterschrieben alle. Anschließend wurden Studenten exmatrikuliert, die Biermann-Lieder gehört haben, also es wurde ja aufgeräumt, die ganze Jenaer Szene wurde verhaftet und, und, und, in der ganzen DDR. In unserem Schauspielensemble ist gar nichts passiert. Die hätten uns ...

    Burchardt: Wurden Sie nicht ernst genommen am Ende?

    Klier: Die hätten ja das Schauspielensemble auflösen müssen. Das hätte viel mehr Ärger bedeutet, als drüber wegzugehen. Das heißt, das spielt immer noch eine Rolle, die haben immer mit überlegt, sagen wir die Machtorgane, Staatssicherheit, Polizei und die Funktionäre, der Kultur in dem Fall: Bringt es mehr Ärger, wenn wir die abräumen oder ... so. Einzelne kannst du ja immer abräumen oder irgendeine Szene, wenn nicht gerade die Westmedien dranhingen, das war ja dann in den 80er-Jahren nahm es ja Gott sei Dank zu. Aber unser Ensemble nicht.

    Burchardt: Wurde denn die Kunstszene, mal ganz flapsig formuliert, Frau Klier, damals in der DDR sozusagen als eine zu vernachlässigende Parallelgesellschaft angesehen?

    Klier: Nein, gar nicht. Gar nicht, es wurden, ich habe das in meinem Tagebuch beschrieben der 80er-Jahre, als ich dann Regisseurin war: Wenn es nicht gerade Shakespeare oder Molière war, was ich inszeniert habe, wurde jede zweite Inszenierung, dritte Inszenierung bei zeitgenössischen Stücken uminszeniert oder eine gleich mal ganz gestrichen oder dann kam mal wieder eine durch wie der Plenzdorf, wofür ich den Preis gekriegt habe ... So, das hing immer von den Aktualitäten ab, auch den Machtkämpfen, die innerhalb der Partei- oder Kulturführung auf Kreisebene und Kulturministeriumsebene stattfanden. Bei Plenzdorf war es so, der hatte ja sein Theaterstück bereits im Deutschen Theater Berlin rausbringen wollen und der Intendant, der flog überstürzt über dieses Stück und wurde nach Dresden später strafversetzt. Und nun fuhr Plenzdorf immer in den Westen und machte publik, dass er verboten war. Also hat man dann gesagt irgendwie okay, am Rande irgendwo, kleines Theater. Und ich kannte ihn und seine Freundin Ute Lubosch und er hat mich gefragt, ob ich das in Schwedt an der Oder, gleich Polen schon halb, dort machen will. So und da ist das erst mal nicht ernst genommen worden, nur dass man sagen kann irgendwie, dass Plenzdorf nicht behaupten kann, er ist verboten. Und dann ist das halt eine tolle Inszenierung geworden und ja wurde preisgekrönt. Natürlich nicht von der Partei und der Stasi dort, die haben bis zum Schluss versucht, das Ding irgendwie zu verhindern, hatten auch einen Kabuff direkt im Theater, wo sie den Zuschauerraum gefilmt haben, wer lacht an welcher Stelle. Aber insgesamt war gerade im Kulturministerium beschlossen, dass das jetzt gut ist und dass das rauskommt und so weiter. So ging es dann immer mal ein bisschen hin und her.

    Klier: "Wir sollten ja raus 85. So, wir haben Berufsverbot gekriegt und haben gesagt bitte schön, dort ist die Tür, Frau Klier, Sie wollten ja ohnehin mal schon mal vor 20 Jahren und dann ... Und ich habe dann gesagt, ja vor 20 Jahren, aber jetzt will ich, dass sich in der DDR auch was verändert."

    Der Gorbatschow-Faktor, Polen und die Friedensbewegung in der DDR

    Burchardt: Es ist ja so, dass im letzten Jahrzehnt man in der DDR auch spürte, da passiert so einiges. Sie sind dann auch verehelicht mit Stephan Krawczyk, Liedermacher, Protestsänger kann man sagen, und sind ja auch mit ihm gemeinsam mit Berufsverbot belegt worden. Und dieses war ein Jahr, nachdem Sie den Regiepreis in der DDR erhalten haben. Was ist in diesem kurzen Jahr eigentlich passiert?

    Klier: Es ist eigentlich passiert, dass ich aufgrund des Regiepreises gute Theaterangebote, Inszenierungsangebote kriegte, Volksbühne Berlin, Staatstheater Dresden und ein Angebot vom großen Schauspielhaus Frankfurt am Main, das war die eine Seite. Die andere Seite, das Verbot kam ja nicht von Theaterseite, das kam ja von der Staatssicherheit und das hing aber bei mir vor allem auch damit zusammen, dass ich ja noch die Friedensbewegung so mitgegründet habe Anfang 80er-Jahre und dann dran arbeitete, Gruppen zu vernetzen, Menschen zu vernetzen, also damit eben eine Bewegung daraus wird. Und dadurch, durch das Theater kam ich sehr viel rum im Land, also man hatte ganz gute Möglichkeiten, sich auszutauschen und da war irgendwo der Punkt, wo sie auch unsicher geworden waren, weil ja Gorbatschow nun an die Macht kam 85. Und da haben sie mal immer die Türen aufgemacht für Künstler und Schriftsteller, um die loszuwerden, die ihnen so auf den Füßen rum traten. Wir sollten ja raus 85. So, wir haben Berufsverbot gekriegt und haben gesagt bitte schön, Frau Klier, Sie wollten ja ohnehin mal schon mal vor 20 Jahren und dann hab ich, wir waren ja nicht zusammen vorgeladen, jeder in seiner Innung. Und ich habe dann gesagt, ja vor 20 Jahren, aber jetzt will ich, dass sich in der DDR auch was verändert.

    Burchardt: Das ist ja eine spannende Zeit, 85 kommt Gorbatschow an die Macht. Mir liegt hier das Faksimile eines Briefes, den Sie und Ihr Mann damals, Stephan Krawczyk, geschrieben haben an Kurt Hager, der damals ja der Chefideologe, wenn man so will, war, und ja Sie fordern eigentlich das ein, was mit Perestroika und Glasnost in Moskau damals auf den Weg gebracht wurde. Erste Frage: Haben Sie eine Antwort bekommen? Und zweitens: Hat Ihnen dieser Brief geschadet?

    Klier: Ich würde sagen, weder noch. Antwort natürlich sowieso nicht, die haben ja nicht mit unsereinem korrespondiert. Geschadet hat uns ja der Brief sicher auch noch dazu, weil er Öffentlichkeit hergestellt hat, die verhindert werden sollte, aber eigentlich hat uns mehr geschadet, haben uns mehr die Auftritte, die wir in Kirchen gemacht haben ... Was heißt geschadet: Die Kirchen füllten sich und wir haben einfach eine zweite Kulturebene aufgebaut das erste Mal, denke ich, in dem Ausmaß in der DDR. Und das hat sie einfach auf die Palme gebracht.

    Burchardt: Eine hypothetische Frage, die Sie mir als Wessi vielleicht verzeihen: Wenn Hager das befolgt hätte, was Sie damals eingefordert haben und die gesamte DDR-Führung, würde es die DDR dann heute noch geben?

    Klier: Das ist eine schwierige Frage, die an der Stelle nicht zu beantworten ist. Aber ich erinnere daran, dass 1986 ja ganz eigenartigerweise plötzlich Markus Wolf ausschied aus der Staatssicherheit als Vize, und er wurde ja zum Schriftsteller aufgebaut. Das heißt, die Russen hatten ja beschlossen, die starre SED-Führung abzulösen durch eine geschmeidigere, so mit Modrow und Bisky und wer dann alles dazugehören sollte. Und das war ja im Gange bereits, um die DDR zu erhalten. Ich würde mal denken, wenn die Ereignisse 1989 nicht so gewesen wären, dass also die DDR am Ende ausgeblutet wäre, dann gäbe es die noch, ja.

    Burchardt: 1988 wurden Sie dann ja ausgewiesen. Es gibt verschiedene Interpretationen, Sie werden sicherlich die richtige kennen, es wird ja auch durchaus gesagt, Sie seien freiwillig ...

    Klier: Nein.

    Burchardt: ... rausgegangen, wie war es wirklich?

    Klier: Das wird seit zehn Jahren nicht mehr gesagt. Es wird eigentlich nicht mehr gesagt, seitdem Wolfgang Schnur enttarnt worden ist ...

    Burchardt: Der war Ihr Anwalt und später als IM enttarnt, ja.

    Klier: Ja, und er war nicht nur unser Anwalt, er war auch unser "Freund", in Anführungsstrichen. Und er hat das eigentlich gedeichselt, ich habe das in dem Buch von Joachim Schädlich mal genau dargestellt anhand der Akten, Manfred Stolpe hat auch noch fleißig mitgeholfen, das war nur am Anfang, weil Wolfgang Schnur das natürlich verbreitet hat, dass wir freiwillig raus sind. Wobei ich an dieser Stelle noch mal deutlich sagen will: Ich habe immer Verständnis gehabt für Menschen, die die DDR verlassen haben! Ja, die haben ja mitgewirkt, dass dieses Land destabilisiert worden ist, was ja nicht vom Volk freiwillig gewählt war. Nur ich selber und Stephan, wir hatten eine Arbeit begonnen, das war wie so auf dem hohen Seil, wir konnten nicht gehen, weil die Verantwortung war sehr groß, ...

    Burchardt: Ja.

    Klier: ... Menschen sind unseretwegen in die Kirchen gekommen und das haben, sie sind ja ein Risiko eingegangen. Deswegen haben wir gesagt, wir machen es nur, weil wir bleiben wollen. Und dann hat ...

    Burchardt: Wollten Sie denn bleiben, weil Sie Hoffnung auf eine Stabilisierung und auch auf eine Liberalisierung des Systems gehofft haben?

    Klier: Im Prinzip ja, wir hofften, und zwar ausgelöst durch Polen in erster Linie, in Polen war ja schon das ...

    Burchardt: Solidarnosc Anfang der 80er, ja.

    Klier: ... schepperte, ja das war, da hingen wir ganz eng dran, also ich hatte eine ganz enge Beziehung zur polnischen Gewerkschaftsbewegung und ... Also das war immer Vorbild, also wir haben eigentlich mehr in den Osten geguckt, überhaupt was sich da bewegt, Charta 77 war dazugekommen ... Das heißt, wir versuchten, unser System Stück für Stück zu schieben Richtung Demokratie. – Was natürlich immer irgendwie bestritten wurde, weil gesagt wurde, wir sind ja schon ein demokratischer Staat, so wie der Staat auch heißt. So, das war aber, wo das hinläuft, wie das ausgeht, das war natürlich nicht absehbar, lange Zeit nicht.

    Klier: "Das ist wie ein Pullover: Ein bisschen Demokratie, die gefordert wurde, kann man nicht zulassen. Denn wenn man anfängt, dann trieselt da Ding auf wie ein Pullover. Und dieses Bild hat sich mir eingeprägt."

    Vergebliche Reformversuche in der DDR und deutsche Wiedervereinigung

    Burchardt: Warum glauben Sie, war die DDR-Führung, insbesondere Honecker, – man sah es ja förmlich bei der 40-Jahres-Feier, wie Gorbatschow fast schon angeekelt neben Honecker steht – warum war der Mann so stur oder warum war das System so stur? Es war dem Untergang geweiht, hatte man das nicht begriffen?

    Klier: Na ja, das ist eine Generationsfrage. Das hatte sich ja ... Der gesamte Apparat hat sich ja schon geteilt in den Jahren 86, 87. Welche, da sind ja auch viele von der Staatssicherheit übergelaufen direkt zum russischen Geheimdienst, die dann auch eingesetzt wurden, um eine neue Elite aufzubauen, und ich sage mal, die Ziehväter der Nachfolger, die praktisch dann die DDR übernehmen sollten und unter ihre Fuchtel bringen sollten, haben ja ihre Wandlitz-Leute erst mal dem Volke zum Fraße vorgeworfen dann. Am 4. November sprangen die ja dann auf die Tribünen – auch Markus Wolf und andere, man schaue sich an, wer da dabei war – ...

    Burchardt: Auf dem Alex, ja.

    Klier: ... ja, die Namen sind interessant, noch mal nachzulesen ... und immer nach Wandlitz gezeigt. Es war beschlossen, dass die Alten zurücktreten müssen, nur es hat mal jemand, Reinhard hieß der von diesem gesellschaftswissenschaftlichen Institut, also ein Vordenker der alten Schule, der wenige Prinzipien ...

    Burchardt: Reinhold.

    Klier: Reinhold, ja!

    Burchardt: Reinhold, ja.

    Klier: Reinhold, der auch dieses Papier mit entwickelt hat, SED-SPD, der hat gesagt, das ist wie ein Pullover: Ein bisschen Demokratie, die gefordert wurde, kann man nicht zulassen. Denn wenn man anfängt, dann trieselt da Ding auf wie ein Pullover. Und dieses Bild hat sich mir eingeprägt. Der hatte natürlich recht: Also wenn man einmal anfängt, dann kommt es nicht zur Ruhe in solchen Unrechtsregimen, so und es blieb denen nur irgendwie die eiserne Faust, und die ging nicht mehr, das funktionierte ja nicht mehr. Durch die Fluchtwellen, durch Polen und, also es rumorte ja. So, und dann kam praktisch nur noch die andere Truppe infrage, die jetzt versuchte, sich an die Spitze der Bürgerbewegung zu setzen, das ist ja , das sollte ja auch nicht vergessen sein.

    Burchardt: Nach dem Mauerfall kam es dann doch relativ schnell zur sogenannten deutschen Einheit. Ein paar Monate lang wurde noch von der Konföderation gesprochen, es gab de Maizière als ersten frei gewählten Ministerpräsident der DDR, wenn man das so formulieren darf. Wie selbst haben Sie damals gerade im Jahre 1990 diesen Umschwung erlebt und haben Sie gedacht, dass auch dieser sogenannten Wende dann auch tatsächlich schon das gesamte Deutschland entsteht?

    Klier: Ich hatte Einreiseverbot bis Weihnachten 1989, das teilte ich nur mit 17 geflohenen Stasi-Leuten oder Militärspionen, weil ich das Bildungswesen übernehmen sollte. So, das war ja die Stunde Null, wo man ...

    Burchardt: Als Nachfolgerin von Margot Honecker?

    Klier: Na ja, so würde ich das nicht sagen, es war ja nicht geplant, also es war ja, es sollte schon dem ... Ich sammelte hier Lehrerbildner aus Ost und West, gute Leute, die engagiert waren, die Pioniergeist besaßen, deswegen durfte ich lange nicht rein. Also ich habe das gar nicht miterleben dürfen. Ich sah aber – und das sieht man wahrscheinlich von draußen besser, wenn man draufschaut –, ich sah wie fast flächendeckend in der DDR Volksvermögen in Taschen von Genossen, meistens Staatssicherheit und ihre Untergliederungen, verschwand, die Konten füllten sich. Dann ging das Gerücht, in der Staatsbank haben sich die führenden Genossen eingeschlossen und drucken wie verrückt Geld. Da war schon die Frage, warum? Wird das hier so bleiben irgendwie, soll die DDR weitergehen, was die ja wollten, oder wird es zu einer Einheit kommen? Das heißt, es war ein Prozess, man konnte relativ früh sehen, es läuft in eine andere Richtung. Wobei ich sagen muss: Nach einer 40-jährigen Diktatur ist die erste Wahl nicht frei. Niemand hätte jemals Herrn Distel gewählt, ich glaube auch nicht Herrn de Maizière, den sowieso keiner kannte. Aber Herrn Distel schon gleich gar nicht wegen dieser Position, die er dann eingenommen hatte. Die haben ja erst mal ihre Leute gesetzt zuerst, das ist eben so. Also die Zeit nach dem Zusammenbruch einer Diktatur bis zur Formierung eines neuen Systems, das ist das Jahr 1990, denke ich mal ist eigentlich das Interessanteste überhaupt.

    Burchardt: Im Dezember 1990 war alles perfekt, wenn man das so sagen darf. – War alles zu schnell?

    Klier: Es gab keine Wahl, die Leute hauten ab. Es musste die Währungsunion kommen, ich denke, dass der 3. Oktober ist kein guter Tag. Es hätte, also für mein Verständnis hätte man den 18. März nehmen können, 9. November ist ja sehr umstritten, aber auch er hätte gut gepasst, also 17. Juni wäre auch ein Tag gewesen. Also man hätte durchaus das dahin vielleicht auch noch auf, was weiß ich nicht, März 91 schieben können. Ich bin kein Verwaltungsfachmann, ich weiß nicht, warum das nun so schnell gehen musste, dass was passieren musste, damit diese Fluchtwelle zum Stoppen kommt. Die DDR war ja wirklich, die wäre ja ausgeblutet: Ich war in Westberlin zu der Zeit, da waren die Turnhallen voll und ich denke, in anderen Städten Deutschlands auch. Weil immer ... Es hauten Leute jetzt ab, weil niemand wusste, ist das hier ein Irrtum, wird das wieder zugemacht, was kann hier passieren – erst mal raus, erst mal weg und so.

    Burchardt: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilanz ziehen?

    Klier: Ich bin geduldiger geworden. Ich bin geduldiger geworden als am Anfang, wo ich diese schweren Einheitsfehler sah, die ich jetzt auch nicht alle aufzählen kann, die aber das Land sehr lange belastet haben ...

    Burchardt: Sind wir ein Volk geworden?

    Klier: Ach, das geht nicht so schnell und ich habe damals geschrieben, 1990 ins Vorwort meines Buches "Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR", dass jetzt Menschen einander gegenüberstehen, die beteuern, es solle zusammenwachsen, was zusammengehört, und dass sie schon in der ersten Begegnung auch das Fremde spüren zwischen ihnen – was auch logisch ist. Ich denke, dass die schwierigste Generation des Zusammenwachsens meine ist und Ihre, also das heißt diejenigen plus minus nach oben und unten, die am stärksten in ihren Systemen geprägt worden sind. Das sind nicht die älteren Menschen, auch im Westen nicht, die sind ja durch das Kaiserreich und durch das Dritte Reich geprägt, sondern das sind die 68er auf der einen Seite und wir so, die erste Kindergeneration, die besonders strammen Pioniere, nenne ich es mal, in der Kindheit. Und danach wird es ja auch lockerer, auch die 80er-Jahre in der DDR waren lockerer, das heißt junge Leute wachsen relativ leicht zusammen, jetzt wachsen Generationen heran, die überhaupt nur noch ein vereintes Deutschland kennen. Und insofern sehe ich es gelassen, das wird sich also alles fügen, ich sehe keine großen Probleme mehr kommen, es wird noch eine Weile dauern.

    In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Freya Klier