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Ein bisschen wie Las Vegas

Von der Terrasse der Dorf-Teestube fällt mein Blick zuerst auf den glänzenden Nil und die Baustellen am Ufer gegenüber: Drüben in Luxor werden neue Touristenhotels gebaut. Hier im Dorf Gurna sieht es völlig anders aus: Etwa die Hälfte der bunt gestrichenen Lehmhäuser liegt in Trümmern, Bulldozer stehen für weitere Abbrucharbeiten bereit. Jahrhunderte lang kamen Touristen und Archäologen nach Gurna, weil das Dorf von einem einmaligen Kulturerbe umgeben ist: Vor allem das Tal der Könige und der Hatschepsut-Tempel sind weltberühmt. Einer der vielen selbst ernannten "Führer" des Dorfes kommt herüber und bietet mir seine Dienste an:

Von Achim Nuhr |
    "Viele kommen hierher, um die Atmosphäre zu genießen und unsere alten Monumente zu betrachten, die wunderschönen Tempel, dazwischen die Felder, dann Wüste und Berge. Drüben in Luxor gibt es zwar all diese Fünf-Sterne-Hotels. Aber hier in Theben ist sogar die Architektur in unserem Dorf traditionell ägyptisch geblieben. Ich wünsche unserem Dorf und unserer Nation nur das Beste. Ich hoffe auf großen Fortschritt für meine Familie und alle, die hier wohnen."

    Nun kommt der "Fortschritt" mit Bulldozern nach Gurna: Bald sollen auch die restlichen Lehmhäuser abgerissen werden. Betroffen sind nach Behördenangaben 3200 Familien. Die Umsiedlungsaktion sei die größte in Ägypten seit dem Bau das Assuanstaudamms, hat mir am Tag zuvor der verantwortliche Gouverneur für Luxor und Theben, Doktor Samir Farag, erzählt:

    "Die übrig gebliebenen Dörfler leben noch heute direkt auf 950 antiken, verschütteten Gräbern. Ohne sauberes Trinkwasser, Abwasserkanäle, Strom oder Telefon. Seit 1948 wurde ihnen mehrmals woanders ein neues Dorf angeboten. Aber die Dörfler hatten immer wieder abgelehnt. Schließlich beauftragte mich Präsident Mubarak persönlich, die Dörfler umzusiedeln. Jetzt haben wir für sie ein sehr schönes Plätzchen gefunden und ihnen dort ein neues Dorf gebaut. Einige sind allerdings sehr raffgierig. Sie fordern mehr und mehr Schadenersatz. Aber wir fügen niemandem Leid zu: Wer bisher in einem sehr schlechten Haus gewohnt hat, erhält von uns ein sehr gutes neues."

    Für viele bereits umgesiedelte Dorfbewohner sei dabei gar ein Traum in Erfüllung gegangen, heißt es in einer Pressemitteilung des Gouverneurs. Dagegen sehen Organisationen wie amnesty international und Human Rights Watch ägyptische Regierungsstellen in einem völlig anderen Licht: Wer gegen Projekte der Regierung opponiert oder auch nur unliebsam auffällt, kann willkürlich verhaftet und gefoltert werden. Selbst ein harmloser Internet-Blogger wurde jüngst ins Gefängnis gesteckt. Prompt antwortet mein Führer Mohamed nur sehr ausweichend, als ich ihn auf die Zerstörung seines Dorfs anspreche.

    "Unsere Vorfahren haben sich Gurna ausgesucht. Es ist ein gutes Gefühl, die Gegend hier zu sehen. Ich sehe unsere Felder inmitten der Monumente. Ein sehr schöner Anblick. Und dann die Atmosphäre: Wenn ich hier bin, bin ich glücklich."

    Wir gehen zu einem der übrig gebliebenen Häuser von Gurna, das direkt neben einem alten Grab eines hohen Adligen liegt. Ein Grabwächter öffnet die Tür zu der alten Ruhestätte, in der etwa 3000 Jahre alte Wandgemälde Menschen bei der Feldarbeit zeigen. Ob der Wächter für die Tourismusbehörde, das Dorf oder auf eigene Rechnung arbeitet, bleibt mir ebenso unklar wie der Verbleib meines Eintrittsgelds. Durch Trinkgelder und den Verkauf von Souvenirs und Getränken profitieren die restlichen Dorfbewohner jetzt noch ein wenig von dem Touristenboom der letzten Jahre, bevor auch sie bald gehen müssen: Der Gouverneur und die ägyptische Altertümerverwaltung zählen für Luxor und Theben etwa 3,5 Millionen Besucher jährlich.

    Wenn das Dorf Gurna komplett verschwunden sein wird, wollen sie das Weltkulturerbe und benachbarte Flächen zu einem "archäologischen Park" ernennen. Ein Begleiteffekt: Auf dem dann öffentlichen Terrain werden nur noch staatliche Kioske den Touristen Souvenirs und Verpflegung anbieten und die Gewinne einstreichen. Doch Gouverneur Farag betont edleres Interesse: den Schutz des Weltkulturerbes.

    "Die noch verbliebenen Dorfbewohner leben über einem Kulturschatz. Jeden Tag graben sie heimlich herum, finden etwas und verkaufen es – inklusive vieler Mumien. Wenn Sie in Theben eine Mumie kaufen wollen, verkaufen die Ihnen eine. Aber damit ist jetzt Schluss. Die meisten sind bereits in das neue Dorf gezogen, in eine neue Gegend. Ja, natürlich können Sie zu dem neuen Dorf fahren und es anschauen. Es ist ein schönes Dorf."

    Mir bietet allerdings niemand in Gurna eine Mumie oder andere illegale Gegenstände an. Gerne zeigt mir mein Fremdenführer Mohamed auch das neue Dorf, das die Behörden Taref getauft haben. Einige von Mohameds Verwandten sind bereits dorthin gezogen. Nach drei Kilometern Fahrt in einem Minibus steigen wir aus und gehen einen weiteren Kilometer über eine neue Straße mitten in die Wüste.

    Auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel taucht ein quadratisch angelegtes Retortendorf auf: Mit monotonen Reihenhäusern aus roten Ziegeln, Grünstreifen, Straßenlaternen und einem Kinderspielplatz wirkt Taref wie ein Gegenentwurf zum gewachsenen Chaos in Gurna. Obwohl Mohamed bereits zweimal in Taref war, sucht er zuerst vergeblich nach seinen Verwandten in den identisch aussehenden Neubauten. Schließlich findet er einen Onkel.

    "Mein Onkel sagt, das neue Leben hier ist natürlich sehr anders. Aber hier ist es besser. Es gibt fließendes Wasser und alles ist sehr sauber. Das alte Haus war allerdings größer. Und im alten Dorf hätte es auch nicht viel gekostet, seinen Söhnen neue Lehmhäuser zu bauen, wenn sie groß sind. Hier ist alles aus Zement und Eisen. Hier ist es besser, aber auch teurer."

    Ein neuer Fernseher läuft im Wohnzimmer. Vor den Wänden stehen Holzbänke und –tische im rechten Winkel zueinander, Kleider und Hausrat sind in Schränken und Truhen untergebracht. Bürgerliche Wohnkultur, ganz anders als im alten Gurna: Dort bröseln die alten Lehmwände der Häuser und verbreiten dabei unablässig feinen Staub, der in Kleider, Möbel und Nahrungsmittel dringt. Hausrat liegt dort kreuz und quer in bröselnden Wandnischen. Im neuen Dorf gibt es dagegen sogar Kühlschränke. Aber all dies kostet Geld, weiß Mohameds Neffe:

    Neffe: "Das neue Dorf ist wie eine Stadt. Hier muss man alles einkaufen: Lebensmittel, Fleisch."

    Autor: "Wenn Sie die Wahl gehabt hätten, wären Sie also im alten Dorf geblieben? – Natürlich, natürlich!"

    Mohamed: "Das Problem begann vor langer Zeit. Die Lehmhäuser in Gurna zerfielen und die Regierung hat nicht erlaubt, sie zu reparieren. Es war nicht mal erlaubt, zusammengebrochene Häuser wieder aufzurichten."

    Davon war beim Gouverneur nicht die Rede gewesen. Doch Mohamed fühlt sich nun wohl auf heiklem Terrain: Er schweigt zum ersten Mal und bricht schnell auf. Die mehr als 22 Millionen Euro, die laut Gouverneur in den Umzug der Dorfbewohner investiert wurden, scheinen nicht nur Freude bereitet zu haben. Die Riesensumme kam von der ägyptischen Regierung in Kairo, die das große Geschäft mit den ägyptischen Kulturgütern organisiert.

    Samir Farag: "Wir haben einen sehr ambitionierten Generalplan für Luxor und Theben, der vom ägyptischen Premierminister hier unterzeichnet wurde. Er befasst sich mit den nächsten 25 Jahren und was wir bis dahin unternehmen werden. Für uns hängt alles von den Altertümern und vom Tourismus ab. Die Regierung bemüht sich sehr, den Besuchern alles zu bieten."

    Für den neuen, tourismuszentrierten Plan wird nicht nur das Dorf Gurna abgerissen: An beiden Seiten des Nils wollen Stadtplaner Hunderte weitere Häuser abreißen, um Platz für Schnellstraßen zu schaffen, auf denen Tagesbesucher aus dem Badeort Hurghada herbeieilen können. Der freie Blick vom Karnaktempel über den Nil zum Tempel der Hatschepsut soll so wiederhergestellt werden, wie ihn damals die Pharaonen vor etwa 3500 Jahre genossen und deshalb "Hindernisse" entfernt werden. Auch die fast drei Kilometer lange "Sphinx-Allee" von Karnak nach Luxor wird gerade wieder freigelegt – quer durch dicht besiedelte Vororte.

    Am Ufer des Nil soll eine Marina entstehen mit einem Casino und Anlegestellen für 180 Hotelboote. Architektonische Vorbilder sieht der Gouverneur dabei in Las Vegas. Im Wege stehen bei all diesen Megaprojekten unzählige Anwohner: Sie errichteten in den letzten Jahrtausenden Häuser, Ställe, Wege, später Straßen und zuletzt auch Souvenirkioske für Touristen. Nun sollen die Einheimischen verschwinden. Die neue Infrastruktur soll den Touristen gefallen und sie effizienter von Ort zu Ort schleusen.

    "Nun haben wir auch das neue TTCC: Das Touristenverkehr-Kontrollzentrum. Touranbieter können dort am Abend zuvor per Telefon, Fax oder Email melden, wie viele Touristen welche Orte besuchen wollen. Dann weist ein Computer der Gruppe eine Nummer zu - und eine Uhrzeit, wann sie kommen soll. Bald wird es kein Gedränge mehr geben an den Monumenten."

    Zurück auf der anderen Flussseite in Theben zwitschern die Vögel im Garten des alten Marsam-Hotel. Der Lehmbau, in dem seit fast 70 Jahren Archäologen wohnen, liegt etwa 300 Meter entfernt von Gurna. Ob er ebenfalls abgerissen wird, ist noch unklar. Die Hotel-Managerin Natascha Baron ist Tschechin. Als Ausländerin kann sie sich freier äußern als die Einheimischen.

    "Der Abriss von Gurna hat auch soziale Gründe. Die Regierung möchte die dörflichen Klanstrukturen zerstören, weil sie es schwer machen, mit den Dorfbewohnern fertig zu werden. Der Konflikt begann vor zehn Jahren: Damals bauten Dörfler neue Häuser auf Land, das ihnen nicht gehörte. Die Regierung schickte Armeefahrzeuge. Die Unruhen dauerten drei Tage und einige Menschen starben. Das wurde damals nicht in den Zeitungen gemeldet. Aber ich weiß, dass es Tote gab."

    Heute geht die Regierung anders vor, berichtet Natascha Baron. Schon wegen der vielen ausländischen Besucher soll mit einer "Salamitaktik" Ruhe bewahrt werden: Bereits im letzten Jahr wurden erste Bewohner von Gurna in das neue Wüstendorf Taref gelockt – mit dem Versprechen, Großfamilien mehrere Wohnungen zu geben. Verwandte folgten. Schon gibt es keine Geschäfte mehr in Gurna.

    Fast alle Eseltaxis, die früher Trinkwasser in Fässern brachten, sind verschwunden. Und die letzte Teestube, in der mich mein Führer Mohamed angesprochen hat, wird auch bald abgerissen. Gurna ist schon jetzt praktisch unbewohnbar geworden. Bald werden die letzten Bewohner das Dorf zwischen dem Tal der Könige und dem Tempel der Hatschepsut verlassen.

    Natascha Baron: "”Es ist traurig, sich vorzustellen, wie die Berghänge bald ohne Häuser aussehen werden. Ich habe mal einen Film gesehen, in dem Gurna schon wegretuschiert war. Da sahen die Berge dann sehr gewöhnlich und traurig aus. Dabei ist meine Erfahrung als Hotelmanagerin, dass die Ausländer hier eben nicht nur die Monumente sehen wollen, sondern auch das normale Alltagsleben der Ägypter. Aber die Regierung will jetzt alles neu machen - mit Hotel, Casino und Marina. Ein bisschen wie Las Vegas eben.""