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Ein Bundeskanzler im Wettlauf mit der Zeit

Die ersten Bände der Memoiren Helmut Kohls fanden unter Rezensenten kein ungeteilt positives Echo. Ihr nicht sonderlich origineller Obertitel "Erinnerungen" provozierte die Kritik geradezu, nach Erinnerungslücken des Ex-Kanzlers zu forschen - nicht selten mit Erfolg. Nun legte Helmut Kohl den dritten Teil seiner Memoiren vor, die diesmal die politisch spannende Zeit vom Mauerfall bis 1994 thematisieren. Peter Kapern war dabei.

    Warum der dritte Oktober? Warum feiern wir die Einheit ausgerechnet an diesem Tag? In Helmut Kohls drittem Band seiner Erinnerungen erfahren wir den Grund. Er selbst hat dieses Datum festgelegt, um uns allen dauerhaft das Gedenken an die Wiedervereinigung mit Bier und Bratwurst bei Sonnenschein zu ermöglichen:

    Mir schwebte ein Nationalfeiertag Anfang Oktober vor, weil zu diesem Zeitpunkt das Wetter in der Regel noch gut ist und die Menschen im Freien feiern können. Um ganz sicher zu gehen, ließ ich unter einem Vorwand ein Gutachten des deutschen Wetterdienstes anfertigen. Ich wollte wissen, wie das Wetter Anfang Oktober in den vergangenen Jahrzehnten ausgefallen war und welche Wetterbeständigkeit der dritte Oktober besaß. Das Gutachten zeigte eindeutig, dass die erste Oktoberwoche in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig ließ.

    Die Platzierung des Nationalfeiertags im Kalender - sicherlich eine der leichteren Entscheidungen, die der Bundeskanzler in dieser Zeit zu fällen hatte. Es sind atemlose Jahre, die Helmut Kohl auf nahezu achthundert Seiten schildert. Von der Jahreswende 89/90 bis zur Bundestagswahl im Dezember 1994. Er schildert die Arbeit an der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, auf nationalem wie internationalem Parkett, die Wandlung der EG zur EU, zur politischen Union samt dem Ziel, eine gemeinsame Währung einzuführen, den Zerfall der Sowjetunion, den ersten Golfkrieg und Wahlen über Wahlen. Der erste Teil zeigt einen Bundeskanzler im Wettlauf mit der Zeit, der nur ein Ziel kennt: Die Wiedervereinigung abzusichern, solange die Gelegenheit dazu besteht. Der zweite Teil, der nach der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 einsetzt, zeigt einen Kanzler, der verständnislos den Attacken der Opposition und dem Unmut der Bürger gegenübersteht. Dem Unmut, ausgelöst durch steigende Arbeitslosenzahlen und sich verschlechternde wirtschaftliche Perspektiven. Beide Phasen übersteht das Kohlsche Weltbild unbeschadet. Zwei Gruppen von Menschen gibt es für ihn nur: Einerseits die, die seine Sicht der Dinge teilen, sein Vorgehen unterstützen. George Bush und Günther Krause, Michail Gorbatschow und Theo Waigel. Menschen, die sich seiner Dankbarkeit sicher sein dürfen. Die übrigen, das sind, in Kohls Diktion, die Hetzer, Neider und Miesmacher, bestenfalls noch Bedenkenträger. Allesamt verfolgten sie nach Kohls Lesart nur ein Ziel: die Einheit verhindern, die DDR retten. Allen voran natürlich die sozialdemokratische Opposition, von der der Kanzler eigentlich nichts anderes erwartet hatte:

    Was mich aber überraschte, war die Heftigkeit, mit der zumal führende Köpfe der deutschen Sozialdemokratie diese vielleicht einmalige Chance auf die deutsche Wiedervereinigung zunichte machen wollten - selbst um den Preis, dass unsere Landsleute im Osten weiter unter einem diktatorischen Regime leben müssten.

    Kohl macht seinen Zorn dingfest an den Bedenken Oskar Lafontaines und Gerhard Schröders gegen eine schnelle Einführung der D-Mark in der DDR schon zum ersten Juli 1990. Nur eine Seite nach dieser Philippika stellt er dann aber mit Blick auf die Abstimmung über den Staatsvertrag über die Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion am 21. Juni 1990 fest:

    Auch die SPD-Bundestagsfraktion stimmte mehrheitlich zu. Im Bundesrat, in dem die SPD-Länder die Mehrheit hatten, bekamen wir am nächsten Tag ebenfalls die notwendige Zustimmung.

    Trotzdem bleiben diese von der SPD geäußerten Bedenken gegen die schnelle Währungsunion für Kohl das Saatkorn, aus dem der zunehmende Unmut über den weiteren Fortgang des Einigungsprozesses erwächst. Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten - alle von der Opposition zum Mäkeln an Kohls Kurs angestiftet. Auf internationalem Parkett ergeht es Kohl kaum besser. Auch dort reihenweise geschichtsvergessene Neider und Gegner. Margret Thatcher, die er bereits im zweiten Band seiner Memoiren abgestraft hatte, oder auch Ruud Lubbers, der niederländische Regierungschef, der eine internationale Friedenskonferenz anstelle der 2plus4-Verhandlungen verlangte:

    Ich muss allerdings auch sagen, das gehört damit auch zu meinem Charakter, dass ich ihm damals sagte: Ruud, das wirst du merken. Und er hat es ein Jahr später gemerkt, als es anging, dass er Präsident der EU-Kommission wird. Damals habe ich ihm gesagt: mit deutscher Stimme wirst du kein Präsident der EU-Kommission.

    Kohls dritter Memoirenband sagt viel aus über den Verfasser, über seine Dünnhäutigkeit, darüber, wie nachtragend der Kanzler der Einheit ist. Und wie unfähig, im Abstand der Jahre auch eigene Versäumnisse einzuräumen. An mehreren Stellen im Buch findet sich die Bemerkung, auch er habe Fehler gemacht. Aber welche das waren, dazu sagt er nichts. Die vorschnelle Übertragung des westdeutschen Arbeitsrechts auf die neuen Bundesländer: Eine Idee von Norbert Blüm. Der massenhafte Zusammenbruch ostdeutscher Betriebe nach der Währungsunion - nicht vorherzusehen. Und selbst die massiven Steuererhöhungen nach der Bundestagswahl 1990 will Kohl auch heute noch in keinem Zusammenhang mit den Kosten der Wiedervereinigung sehen. So hat der dritte Band der Erinnerungen, der sich für den Leser mühsam von Gesprächsprotokoll zu Gesprächsprotokoll, von Redemanuskript zu Redemanuskript schleppt, wenig Neues über diese so wichtigen Jahre zu berichten. Und stellenweise versucht er dies nicht einmal zu verbergen. Denn über weite Passagen findet sich hier bis in den Wortlaut hinein dasselbe, wie in dem Buch "Ich wollte Deutschlands Einheit", das Helmut Kohl 1996 veröffentlicht hat. Damals hatte er seine Sicht der Dinge dem heutigen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann in die Feder diktiert. Etwa diesen Passus über Kohls Besuch bei Gorbatschow im Sommer 1990:

    Der Kanzler ist bereits am Vorabend mit einer Boing der Bundesluftwaffe, der diesmal aufgrund des gewaltigen Journalistenandrangs eine zweite gefolgt ist, auf dem Regierungsflughafen Wnukowo II angekommen. Unterwegs hat er den Journalisten Rede und Antwort gestanden.

    Elf Jahre später, im dritten Memoirenband, liest sich dies nun so:

    Als wir am späten Nachmittag des 14 Juli 1990 vom Flughafen Köln/Bonn nach Moskau starteten, waren wegen des gewaltigen Journalistenandrangs zwei Maschinen vom Typ Boing 707 der Bundeswehr nötig, um den ganzen Tross unterzubringen. Nach außen hin präsentierte ich mich auf dem Flug in bester Stimmung, war aber innerlich durchaus angespannt, als ich den Journalisten Rede und Antwort stand.

    Mehr als eine Dekade liegt zwischen diesen fast gleich lautenden Berichten. Was aber hätte sich, angesichts des fest gefügten Weltbildes des Verfassers, auch ändern sollen?

    Peter Kapérn über Helmut Kohl: Erinnerungen 1990 - 1994. Erschienen ist der 784 Seiten starke Band im Droemer Knaur Verlag München zum Preis von 29 Euro und 90 Cent.