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Ein deutsche Familie

Anne Frank ist zur Symbolfigur für die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns geworden. Weniger bekannt hingegen ist das familiäre Umfeld Anne Franks. Die Autorin Mirjam Pressler erzählt in ihrem neuen Buch die Geschichte der deutsch-jüdischen Familie über drei Jahrhunderte.

Von Otto Langels |
    Im Jahr 2001 wurden auf dem Dachboden eines Hauses in Basel in Koffern, Kisten und Kartons zahllose Briefe, Dokumente und Fotos gefunden. In dem Haus lebten seit Jahrzehnten Mitglieder der Familie Frank, darunter Anne Franks Großmutter Alice, ihre Tante Leni, ihr Vater und ihre Cousins. Die Dokumente – sie befinden sich inzwischen in der Obhut der Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam – bilden die Grundlage für Mirjam Presslers eindrucksvolle Familien-Biografie. Die Autorin hat sich jedoch nicht für eine historiografische Darstellung entschieden. Sie mischt Zitate aus Briefen mit erzählerischen Sequenzen, auf nüchterne Fakten folgen einfühlsame, subjektiv gefärbte Passagen. So liest sich das Buch streckenweise wie ein Familienroman.

    "Es ist ja keine wirkliche Korrespondenz, es sind ja nur Briefe, die an die Familie gerichtet wurden, die haben sie aufgehoben. Aber es sind nicht die Antworten, es wird keine Geschichte erzählt. Und ich habe eigentlich geglaubt, dass jemand nur Briefe, die mit kurzen erklärenden Texten verbunden sind, nicht lesen will. Und deswegen habe ich mich für diese Form entschieden."

    Angesichts der Fülle von 6000 Dokumenten fiel eine Auswahl mitunter offensichtlich schwer. Der Verzicht auf manches Detail hätte dem Buch an einigen Stellen sicher nicht geschadet.

    Doch insgesamt entwirft Mirjam Pressler ein interessantes und vielschichtiges Panorama der deutsch-jüdischen Familie aus Frankfurt am Main. Das Porträt setzt ein im 18. Jahrhundert, als die Vorfahren der Franks noch im Judengetto lebten. Von dort gelang ihnen der Aufstieg zu einer angesehenen Frankfurter Familie. Um 1900 führten sie ein Bankhaus, sie reisten viel, gaben Empfänge und waren unter den ersten, die ein Telefon besaßen. 1907 bedankte sich Kaiser Wilhelm in einem persönlichen Schreiben für eine großzügige Spende.

    Die Franks waren fest verwurzelt in der Frankfurter Gesellschaft. Umso bitterer war dann die Vertreibung durch das NS-Regime und die Vorstellung, womöglich nach Palästina auswandern zu müssen.

    "Es war eine grunddeutsche Familie. Sie haben auch, das sieht man, wenn man ihre Stammbäume betrachtet, sie haben immer nur deutsch geheiratet, also innerhalb Deutschlands, sie haben keinen einzigen Ostjuden dabei. Sie waren auch sehr kultiviert und sehr gut erzogen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie irgendwo in der Wüste leben sollen, unter solchen Bedingungen, wo es kein Theater gibt und keine Oper und nichts."

    Die Geschichte der Familie Frank steht stellvertretend für das Schicksal vieler jüdischer Familien. Sie wurden brutal aus der Mitte der Gesellschaft herausgerissen, ihr Verlust für das intellektuelle und soziale Klima Deutschlands lässt sich nur erahnen. In den Ländern, wo sie Zuflucht suchten, nahm man sie nicht unbedingt mit offenen Armen auf.

    Die Franks emigrierten nach Frankreich und England, in die Niederlande und in die Schweiz. Selbst in der Schweiz waren die Auswirkungen des Nationalsozialismus spürbar. Erich Elias, ein angeheirateter Onkel von Anne Frank, verlor seinen Arbeitsplatz, weil ein Jude in der Schweizer Filiale eines deutschen Unternehmens nicht tragbar war. Jahrzehntelang lehnte die Schweiz die Anträge auf Einbürgerung ab, wegen "ungenügender Assimilation", wie es hieß. Erich Elias und seine Ehefrau Leni wurden erst 1952 eidgenössische Staatsbürger.

    Das Baseler Haus, in dem auch Alice Frank wohnte, die Mutter Lenis und Großmutter Annes, wurde nach 1933 zum neuen Fixpunkt der Familie. Die Verwandten kamen dort häufig zu Besuch, dorthin schrieben regelmäßig Alices Söhne Robert, Herbert und Otto aus dem Ausland - bis im Juli 1942 die Nachrichten aus Amsterdam versiegten. Otto Frank war mit seiner Frau und den beiden Kindern Margot und Anne untergetaucht. Eine Zeit des Wartens und der Ungewissheit begann, sie endete erst im Mai 1945.

    "Da kam erst, das ist sehr anrührend, kam ein Telegramm, das Otto Frank geschrieben hatte noch aus Polen, das kam als Erstes. Und da steht drin, wir fahren morgen nach Frankreich. Und alle haben natürlich geglaubt, 'wir' ist die ganze Familie. Sie hatten keine Ahnung, dass die Franks nach Auschwitz deportiert worden sind."

    Monatelang lebte die Familie Frank in der Hoffnung, dass Ottos Töchter Margot und Anne die Konzentrationslager überlebt hatten. Im Juli kam dann die Nachricht vom Tod der beiden Schwestern im KZ Bergen-Belsen.

    Die Veröffentlichung von Annes Tagebuch sowie die dramatische Fassung als Theaterstück wurden in den folgenden Jahren zum Lebensinhalt Otto Franks.

    "Dieses Manuskript wurde in den Niederlanden mehreren Verlagen angeboten, und alle haben es abgelehnt. Und auch in Deutschland haben alle es abgelehnt, bis auf einen kleinen Verlag in Heidelberg, Lambert Schneider. Und der Fischer Verlag hat erst die Taschenbuchrechte genommen, als der Erfolg von Anne Franks Theaterstück dazu geführt hat, dass plötzlich alle auch das Buch lesen wollten. Der Erfolg kam sehr langsam, und eigentlich hat niemand erwartet, dass es ein solcher Erfolg werden würde."

    Die Geschichte der Familie Frank ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich, was Mirjam Pressler lediglich andeutet, denn die Autorin beschränkt sich auf die Beschreibung des Familienlebens, sie analysiert es nicht. Auffällig ist zum Beispiel der scheinbar bedingungslose Zusammenhalt der Franks. Die extremen politischen und sozialen Bedingungen führten nicht zu Verwerfungen, sie schweißten die Angehörigen nur noch stärker zusammen. Bemerkenswert sind auch die starken Frauengestalten. Alice Frank und ihre Tochter Leni sind Persönlichkeiten, die die Geschicke der Familie in die Hand nahmen.

    Das Tagebuch seiner Tochter zu veröffentlichen, verstand Otto Frank als Vermächtnis: Die Verbrechen des Nationalsozialismus sollten nicht verdrängt und nicht vergessen werden. Er selber konnte die Erinnerung an die Vernichtungslager nicht löschen. So konnte er nur, wie er einmal sagte, eine Frau heiraten, die im KZ gewesen war. Seine zweite Ehefrau Fritzi hatte Auschwitz überlebt, ihr Mann und ihr Sohn waren dort umgekommen.

    Mit seiner Frau zog Otto Frank 1953 zu seiner Mutter und seiner Schwester Leni in das kleine Haus in Basel. Dort wohnten sie auf engstem Raum unter Bedingungen, die in manchem an die Verhältnisse in dem Amsterdamer Versteck erinnerten.

    "Es ist genauso eng, genauso spartanisch und wieder ein Baum vor dem Fenster. Natürlich drängen sich diese Vergleiche auf. Ich glaube nicht, dass irgendjemand es ohne Weiteres gemacht hätte, nur in einer Dachkammer zu leben. Da gibt es einen kleinen, winzigen Vorraum, da hatten sie eine Kommode stehen mit einem Kocher drauf, mit dem haben sie sich das Frühstück gemacht. Der Raum ist wirklich sehr klein, da steht ein großes Bett drin und ein Schrank, und dann war er eigentlich voll."

    Otto Franks Leben nach 1945 stand ganz im Zeichen Anne Franks. Nach seinem Tod hat sein Neffe Buddy Elias, ein bekannter Eiskunstläufer und Schauspieler, schrittweise die Aufgabe übernommen, die Erinnerung an seine Cousine Anne wachzuhalten. Er ist der einzige Mensch in der Familie, der sie noch erlebt hat.

    Das Buch von Mirjam Pressler, "Grüße und Küsse an alle". Die Geschichte der Familie von Anne Frank ist im S. Fischer Verlag erschienen, es kostet 22 Euro 95 und hat 432 Seiten (ISBN: 978-3-10-022303-6).