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Ein deutscher Indianer in Simbach am Inn

Im Zentrum des neuen Romans "Verteidigung der Missionarsstellung" des sprachverliebten Österreichers Wolf Haas steht ein deutscher Indianer. Leichtigkeit verknüpft sich in diesem Buch mit hintersinnigem Witz.

Von Günter Kaindlstorfer | 30.10.2012
    Benjamin Lee Baumgartner also. So etwas muss einem erst einmal einfallen: einem Romanprotagonisten einen derart bescheuerten Namen zu verpassen. Benjamin Lee Baumgartner, so lässt uns Wolf Haas auf den ersten Seiten seines Romans wissen, ist der Sohn eines Hopi-Indianers aus New Mexico und eines Hippie-Mädchens aus Simbach am Inn. Warum der "deutsche Indianer" Benjamin Lee Baumgartner ausgerechnet in Simbach am Inn aufwächst und nicht in Tittmoning, Itzehoe oder Fürstenfeldbruck, das ist schon wieder so eine typische Wolf-Haas-Geschichte. Und wie so oft muss der Autor auch diesmal ein bisschen ausholen, um die Hintergründe des Ganzen zu erklären.

    "Mich beschäftigt das schon längere Zeit, dass es gewisse, verbrannte Begriffe gibt, die man einfach nicht verwenden kann in einem Roman. Zufällig habe ich zum Beispiel einige Bekannte, die aus Braunau am Inn stammen, und immer, wenn mir jemand sagt, er ist aus Braunau, fällt mir ein, dass ich einmal im Leben durch Braunau gefahren bin, und dass dort an der Ortstafel steht: 'Barockstadt Braunau'. Das hat mich zutiefst gerührt, dieser Versuch, etwas umzudefinieren, obwohl jeder an ganz etwas anderes denkt, wenn er Braunau hört. Na ja, und dann hat es mich einfach gereizt, einen Protagonisten aus Braunau kommen zu lassen, obwohl ich wusste, es ist unmöglich, man kann diesen Ortsnamen nicht wertfrei verwenden. Das ist eben so ein Spiel, das ich im Roman verfolge, dass ich den Herkunftsort meines Helden zum Teil über den Fluss hinüberschiebe, und dort heißt Braunau eben Simbach beziehungsweise umgekehrt heißt Simbach auf der anderen Innseite Braunau, und es ist ja letzten Endes der gleiche Ort, aber das Assoziationsfeld ist ein anderes."

    Dass Braunau letztlich Simbach sein soll und umgekehrt, wird man vor Ort vermutlich anders sehen. Aber sei’s drum. Der gebürtige Simbacher Benjamin Lee Baumgartner, das hat sich Wolf Haas so ausgedacht, hält sich Ende der 1980er Jahre als abgebrannter Interrail-Tourist in London auf, genauer gesagt, auf dem Greenwich Market, wo ihm eine göttinnengleiche Beefburgerverkäuferin ins Auge sticht. Rucksacktourist Benjamin Lee fasst sich ein Herz - in Großbritannien grassiert übrigens gerade der Rinderwahnsinn – und investiert seine letzten Pennies in den Kauf eines Burgers.

    "Hast du gar keine Angst?", fragte sie ihn, als sie ihm den fertig gebratenen und mit ein paar behutsamen Handgreiflichkeiten zurechtgeschupten Burger auf die Fresskante schob.
    "Angst ist das falsche Wort, aber blankes Entsetzen ergreift mich bei der Annahme, dass vielleicht in einer von hunderttausend möglichen Welten eine Gesprächsvariante existiert, in der ich auf das Stichwort Angst genau das Richtige antworte, aber ich errate es nicht, ich erwische die richtige Antwort nicht, verfehle sie womöglich nur knapp, zupfe an der falschen Stelle des Gesprächsfadenknäuels und ergattere eine unmittelbar neben der richtigen Antwort lauernde, vollkommen falsche, vernichtend espritlose Antwort und vergeige die Chance meines Lebens", hätte Benjamin Lee Baumgartner fast zu der Burgerverkäuferin gesagt.
    "Warum Angst?", sagte er aber nur.
    "Wegen der Kuhekrankheit", erklärte die Verkäuferin."


    Tja, die "Kuhekrankheit": Es ist Wolf Haas’ dramaturgischer Grundeinfall – auch diesen wird man mit gutem Grund exzentrisch nennen dürfen – die Liebesbiographie des Benjamin Lee Baumgartner entlang der Entstehungsgebiete der großen Pseudo-Seuchen der letzten Jahrzehnte zu erzählen: Rinderwahn in London, Vogelgrippe in Peking, Schweinegrippe in New Mexico, EHEC in Bienenbüttel bei Hamburg – Benjamin Lee Baumgartner liebt immer grade dort, wo’s epidemiologisch brenzlig wird.

    Diesen Grundeinfall mag durchgeknallt nennen, wer will. Bei Wolf Haas geht’s aber nie nur um den Plot, es geht immer auch um die kunstvolle Sprache und den hintersinnigen Schmäh, mit dem der Österreicher seine Geschichten präsentiert.

    "Ich glaube, in allen meinen Büchern geht’s nicht in erster Linie um den Plot, sondern mehr darum, wie man mit der Geschichte umgeht, wie man das erzählt, um einen gewissen Sprachwitz. Aber ich habe gleichzeitig Skrupel, das zu sehr zu betonen, weil ich Angst habe, dass dann der Effekt eintritt, als würde man einen Witz erklären. Es ist schon auch sehr wichtig, dass der Plot stark genug ist, dass man nicht zu sehr auf den Sprachwitz verwiesen wird. Bei den Brenner-Romanen war es mir schon immer wichtig, dass es auch als Krimigeschichte funktioniert. Und bei diesem Liebesroman geht’s mir auch darum, dass es zunächst einmal als Liebesgeschichte rezipiert wird, und dass man dann unterwegs auch sprachliche Freuden genießen kann."

    Wolf Haas ist, was Literaturtheorie und Semiotik betrifft, bestens bewandert, hat er doch einst über die "sprachtheoretischen Grundlagen der Konkreten Poesie" dissertiert. Und so wird seine "Verteidigung der Missionarsstellung" die Freundinnen und Freunde leichtfüßiger Unterhaltung ebenso betören wie die anspruchsvollere Kundschaft, die sich daran ergötzen darf, wie rastellihaft der Autor in seinem Roman mit Subtexten, Metaebenen und Selbstreferenzialitäten jongliert. Der Name Benjamin Lee Baumgartner übrigens, Kennerinnen und Kenner haben es sicher bemerkt, ist eine unverschlüsselte Hommage an den amerikanischen Linguisten Benjamin Lee Whorf, der in den 1930er Jahren die Sprache der Hopi erforscht hat und dabei so manchem romantisierenden Missverständnis aufgesessen ist.

    "Es war eigentlich meine größte Angst bei diesem Buch, dass es so rüberkommen könnte, als würde ich den Ehrgeiz zelebrieren, avantgardistische Erzählweisen vorzuführen."

    Diese Angst in unangebracht. Zwar fährt Wolf Haas ein imposantes Arsenal an avantgardistischen Techniken und Stilmitteln auf, aber nie wirkt das Ganze angestrengt oder bildungshuberisch, ganz im Gegenteil: Ob ganze Absätze weiß bleiben oder ein Satz sich paisleymusterhaft schlängelt, ob Zeilen diagonal über die Seiten wandern oder längere Passagen auf Chinesisch verfasst sind: Der Spaß am Spiel überwiegt.

    Der beste Einfall des Autors war wahrscheinlich der, dass er immer wieder Regieanweisungen eingestreut hat in seinen Text. Das klingt dann so:

    "Das Erstaunliche ist, dass das genau so gut funktioniert, als würde ich die entsprechenden Passagen ausformulieren. Der Leser kann sich London auch so vorstellen, und ich erspare mir da jede Menge Erzählaufwand."

    Wolf Haas tritt auch persönlich auf in seinem Buch, als angeblicher Freund Benjamin Lee Baumgartners und als verschmitzt-melancholischer Ich-Erzähler, der uns an den schönen und weniger schönen Seiten seines Lebens teilhaben lässt. Eine Selbst-Mystifikation?

    "Der Wolf Haas im Roman ist mir schon sehr viel ähnlicher, als man grundsätzlich annehmen würde. Für mich war die Grundabsicht schon die, dass ich etwas in den Roman hineinmischen wollte, das für mich schmerzhaft war, oder das eine Grenze berührt hat, die nicht angenehm war für mich. Also, ich habe zum Beispiel erzählt, wie mein Vater gestorben ist, auf einer Seite. Und das ist wahnsinnig unangenehm für mich, aber es ist zugleich ein Text, der doch irgendwie berührend ist inmitten eines sonst so flotten Textes. Dieser Kontrast war sehr wichtig für mich."

    Und die im Titel avisierte "Verteidigung der Missionarsstellung"? Die klingt im Roman zwar zwei, drei Mal an, bleibt aber letztlich unerheblich für die amouröse Individuation Benjamin Lee Baumgartners. Er habe den Titel einfach witzig gefunden, erklärt Wolf Haas, mit dem Inhalt des Romans habe er zugegebenermaßen so gut wie nichts zu tun. Eine gewisse Grundsympathie für die Missionarsstellung gibt der Autor allerdings zu erkennen.

    "Ich glaub, das ist so was wie ein paradoxes Tabu, dass man heutzutage über die größten Perversionen leichter reden könnte, über den Besuch von Swingerklubs oder sonstiger Spezialevents kann man bei jedem Kaffeekränzchen reden, aber es wäre fast schon ein Tabu, zu sagen, man begnügt sich mit der biederen Missionarsstellung."

    In seinem jüngsten Roman präsentiert Wolf Haas sich auf der Höhe seiner Kunst. Anstrengungslose Leichtigkeit und hintersinniger Witz verknüpfen sich mit den Errungenschaften avancierter Literaturtheorie: eine Mischung aus "Tristram Shandy" und Kurt Schwitters, angereichert mit einem guten Schuss poststrukturalistischen Dadaismus.


    Wolf Haas: "Verteidigung der Missionarsstellung", Verlag Hoffmann und Campe, 224 Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 978-3-455-40418-0