Schmemann hat diesen Platz in Tagebüchern, Briefen seiner Verwandten, Dokumenten und Berichten der Dorfbewohner gesucht. Er rekonstruiert die Geschichte seiner Vorfahren, der Ossorgins, die das Gut von einem englischen General beim Kartenspiel erwarben. Der russische Kulturhistoriker Jurij Lotmann hat dargelegt, wie sehr sich in jenen Tagen Dichtung und Wirklichkeit beeinflußten. Tolstoi, Tschechow und Puschkin besuchten die Gegend um Sergijewskoje regelmäßig. Und in der Tat wären die romantischen Ossorgins eine Zierde jedes Klassikers. Ihr Sergijewskoje ist das Herz jenes mythischen Rußlands der langen Sommerabende und glanzvollen Bälle, der arrangierten Ehen und labilen Gemüter, der Liebe und der Ehre. "Die Ossorgins waren immer stolz auf das enge Verhältnis zu ‘ihren Leuten’ gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß sie die Bauern besser verstanden als die Intellektuellen, Revolutionäre und Politiker. Aber ich frage mich, ob sie auch das Elend und die Armut kannten, in der die Menschen lebten.”
Dabei muß die Frage nicht lauten, ob die Ossorgins das Elend kannten, sondern ob sie es hätten kennen müssen. Denn in Schmemanns Schilderung erscheinen sie geradezu als Prototypen einer politisch naiven konservativ-religiösen Elite. Und so beschreibt er die bolschewistische Vertreibung aus dem "Paradies” von Sergijewskoje zwar als Tragödie. Die eigentliche Katastrophe aber sieht er in der Sinnlosigkeit des Opfers. Nach der Vertreibung der Grundbesitzer brachen - trotz aller bolschewistischen Versprechungen - keine goldenen Zeiten für die Dorfbewohner an. Und nicht ohne Emphase beschreibt Schmemann, daß auch die Hoffnungen der Komsomolzen auf Gerechtigkeit bald im Selbstbetrug endeten: "Wir können uns nur schwer vorstellen, was die Generation, deren Leben sich jetzt in Rußland dem Ende zuneigt, erlitten hat: Revolution, Krieg, Terror, ‘Säuberungen’, Lager. Ich kenne keinen einzigen Russen über 70 Jahre, der nicht irgendeine schreckliche physische oder psychische Narbe trägt. Wie alle Überlebenden sind sie angewiesen auf den Glauben, daß es einen Grund, eine Erklärung, eine Lehre gibt.”
Je näher die Geschichte Sergijewskojes der Gegenwart rückt, desto klarer wird die Stimme des Reporters Schmemann. Analytisch nüchtern, aber mit Instinkt für lebendige Details schildert er, wie die Dorfbewohner nach dem Ende des Kommunismus ihre Herzen und Tagebücher öffnen, über die schmerzhafte Vergangenheit und die ungewisse Zukunft debattieren. Schon bald aber wird diese Auseinandersetzung von den täglichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verdrängt. Daß er bald vergeblich an die Türen in Sergijewskoje klopft, konstatiert er ohne Bitterkeit. Auch darin ist das Dorf einmal mehr ein Barometer für das politische Klima in Rußland. "Eine Zeitlang hatte der Zusammenbruch des Kommunismus Rußland weit geöffnet. Aber ich gehörte dort nicht hin. Ich war russisch genug, um mit diesen Menschen mitfühlen zu können, aber zu fremd, um ihren unerträglichen Fatalismus, ihre Unordnung und Heuchelei zu tolerieren. Sie, die ihre Erinnerungen mit mir teilten, brauchten mich nicht.”
Vielleicht ist dies das Geheimnis des Werkes: Daß sich der Autor nie Illusionen über seine Rolle gemacht hat - weder als reicher Onkel aus Amerika, noch als verlorener Sohn. Daß er die Grenzen einer Annäherung nie aus dem Auge verloren hat. Im heutigen Sergijewskoje ist die Kolchose der einzige Arbeitgeber, die sowjetische Knebelung von Talent und Initiative hat die Menschen zermürbt. So mischt sich in Schmemanns Abschied von Sergijewskoje ein Gefühl, daß für seine Vorfahren undenkbar gewesen wäre: Erleichterung.