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"Ein Eimer Wahrheit"

Tyler Hamiltons detailliertes Doping-Buch hat den Umschwung in der amerikanischen Öffentlichkeit in Sachen Lance Armstrong beschleunigt. Auch, weil es zum ersten Mal das ganze System aus Beschaffung, Anwendung, Verschleierung und Einschüchterung beschreibt. Mit dem Texaner als Dreh- und Angelpunkt.

Von Jürgen Kalwa | 08.09.2012
    Es ist das Buch, das so ähnlich auch Jan Ullrich hätte schreiben können. Oder Floyd Landis. Nun hat es Tyler Hamilton gemacht. Und anders als im Laufe seiner aktiven Zeit, wo ihm andere meistens eine Radlänge voraus waren, stimmte beim Amerikaner diesmal vor allem das Timing.

    Nur wenige Tage nach dem juristischen Showdown zwischen Lance Armstrong und der amerikanischen Anti-Dopingagentur und kurz bevor die entscheidenden Erkenntnisse der Usada-Ermittlungen publik gemacht werden, fand er genau die Lücke, um als Erster die Ziellinie zu erreichen. Der geläuterte Ex-Doper, der nicht nur sich selbst belastet, sondern – sehr akribisch – auch seinen ehemaligen Mannschaftskapitän Lance Armstrong. Hamilton brachte es in dieser Woche noch einmal im amerikanischen Fernsehen auf den Punkt:

    "Lance and I blood doped one time together. I saw him take EPO. He saw me take EPO.”"

    Blutdoping, die Injektionen von EPO – sie bilden einen erheblichen Teil des Gerüsts der mannigfachen Anschuldigungen, denen der einst gefeierte Rad-Held nicht mehr entkommen kann. Er ebenso wenig wie die amerikanische Öffentlichkeit, die lange einer Art Wunderglauben anhing, wenn es um das Leistungsvermögen von Lance Armstrong ging.

    ""You are seeing sort of the tide turn.”"

    Das ist Bill Gifford, der Anfang des Jahres in der Zeitschrift "Outside" als Erster gründlich die Arbeit der Lance-Armstrong-Stiftung untersucht hatte. Resultat: Sie ist zum entscheidenden Teil der Selbstinszenierung des Texaners geworden. Ein Schutzschild. Gifford nimmt in den USA einen regelrechten Gezeitenwechsel wahr. Den habe das Hamilton-Buch – Titel "The Secret Race” – "Das geheime Rennen” – beschleunigt.

    ""Das Buch ist wie ein Eimer mit kaltem Wasser. Ein Eimer Wahrheit. Es hat in den letzten drei Wochen die Debatte wirklich sehr schnell verändert. Sportkolumnisten verteidigen Lance nicht mehr so wie vorher."

    Gifford gehört zu jenem Teil der Öffentlichkeit, der schon eine Weile auf diesen Moment gewartet hatte, seit Floyd Landis den systematischen Arzneimittelmissbrauch im von Armstrong geführten US Postal Team zugegeben hatte. Er sagt nun:

    "Hamiltons Buch: Es ist viel eindringlicher, als alles was Floyd Landis bisher erzählt hat."

    Sein Auslöser, so erzählte Tyler Hamilton am Mittwoch im Fernsehsender ESPN, war der Moment, in dem ihn der durch den BALCO-Skandal bekannt gewordene Doping-Ermittler Jeff Novitzky anrief. Die Staatsanwaltschaft in Los Angeles hatte Lance Armstrong ins Visier genommen. Es ging um Betrug und Geldwäsche.

    ""Ich musste aussagen. Ich habe die Wahrheit gesagt. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich hatte keine Ahnung, was da für ein enormes Gewicht von meinen Schultern abfallen würde. Danach habe ich mit Daniel Coyle über ein Buch gesprochen.”"

    Daniel Coyle, der Co-Autor, ein erfahrener Journalist, hatte selbst noch eine Scharte auszuwetzen, nachdem er 2005 "Lance Armstrong’s War" – auf Deutsch: "Lance Armstrongs Krieg" – geschrieben und dem Texaner das Lügengebäude abgekauft hatte. Die Zusammenarbeit mit Hamilton wurde keine hastig zusammengeschriebene Beichte, sondern eine mit vielen Informationen angereicherte Autobiographie, die zum ersten Mal skizziert, wie im dopingverseuchten Radsport gearbeitet wurde. Ein System, das die Usada in ihrer Anklage gegen Armstrong, seine Ärzte und den Sportlichen Direktor Johan Bruyneel als Verschwörung charakterisierte.

    Es sind höchst plastische Schilderungen. Was in dem Vorabrummel um das Buch eher untergegangen war: Die Beschreibung der Arbeitsweise eines Arztes wie Michele Ferrari. Und die Darstellung des Machtgefüges im internationalen Radsportverband. In dem konnte Armstrong einst per Anruf beim Präsidenten seinen Einfluss auf vielerlei Weise geltend machen. Auch um dopende Konkurrenten von offizieller Seite einschüchtern zu lassen. Die Verschwörung ging bis in jede Verästelung des Rennzirkus.

    Wie vertrauenswürdig sind die Aussagen eines Mannes, der 2004 beim Blutdoping erwischt wurde und auch später – bei seinem Comeback – noch einmal mit einem verbotenen Steroidhormon im Urin? Co-Autor Coyle sagt, dass er acht ehemalige Mitglieder des US Postal Teams dazu bewegen konnte, sich zu äußern und Hamiltons Darstellung abzustützen. So haben die Armstrong-Fanboys nach der Lektüre dieser knapp 300 Seiten einen schweren Stand. Wer glaubt schon, dass alle anderen lügen und nur Armstrong als einziger die Wahrheit sagt?