Waren Sie in dieser Woche in einem Supermarkt einkaufen? Und haben Sie die Dame an der Kasse bewusst wahrgenommen? Oder haben Sie, während Sie achtlos Ihre Waren aufs Band stellten, weiter ein wichtiges Handy-Gespräch geführt und die Kassiererin keines Blickes gewürdigt?
Der oft entwürdigende und leidvolle Alltag einer jungen Kassiererin ist der Gegenstand des von Anna Sam gerade in Deutschland erschienenen Buches. Die Autorin ist Frankreichs bekannteste Supermarkt-Kassiererin, denn sie jobbte während und nach ihrem Literaturstudium acht Jahre in einer französischen Großmarkt-Kette.
Ihr Buch, das in Frankreich zum Bestseller avancierte, schildert die oft demütigenden und frustrierenden Erlebnisse mit Kunden oder dem Arbeitgeber: das Einstellungsgespräch, das nur "eine Sache von Minuten ist"; die automatisierte Monotonie der Kassier-Vorgänge, die nur vom "Biep! Biep!" beim Einscannen rhythmisiert wird oder von den immer gleichen Fragen der Kunden: 1. Wo sind die Toiletten? 2. Haben Sie keine Plastiktüte? Und 3. - die nervigste Frage - "Sind Sie offen?"
Sie wären gern die höflichste, coolste, untadeligste Kassiererin auf Gottes Erdboden? Das ist Ihr gutes Recht und außerdem wirklich lobenswert, auch wenn Sie Ihren Lohnstreifen dabei nicht ganz außer Acht lassen sollten. Aber eines müssen Sie mir versprechen: Lassen Sie es sich nicht gefallen, wenn man Sie mit Ihrer Kasse verwechselt. Sie sind ein menschliches Wesen und machen nicht: Biep! Und der Kunde ist keineswegs immer im Recht. Hier sind einige Vorschläge, wie Sie auf die Frage: "Haben Sie offen?" - reagieren können. Die höfliche Kassiererin: "Ich nicht, aber meine Kasse schon." Die sarkastische Kassiererin: "Biep!" Wenn der Kunde oder die Kundin echt niedlich ist: "Warum? Wollen Sie es bei mir versuchen?" - oder garniert mit einem entwaffnenden Lächeln: "Und Sie?" Ich garantiere für nichts! Natürlich werden Sie auch die zahlreichen Varianten zum Thema kennenlernen. "Sind Sie geschlossen? Ist sie offen? Sind Sie die Kasse? Nehmen Sie mich dran." Wie würden Sie das nun interpretieren?
Zum Schmunzeln regt das Buch immer dann an, wenn die perfiden Tricks und Strategien der Kunden beschrieben werden, beispielsweise dem Kassenstau zu entkommen. Der Mann etwa, der mit vier Artikeln die Kasse blockiert, weil er noch auf die vierzig vergessenen Artikel der Freundin wartet. Oder die Kundin, die ihren Einkaufswagen auf dem Band leert und dann verschwindet, um in finalen Ehrenrunden durch den Supermarkt weitere Produkte zur Kassenstrecke zu bringen. Hochnotpeinlich scheint zumindest in Frankreich für den souveränen Kunden wohl immer noch der Kauf von Toilettenpapier, Monatsbinden, Kondomen oder Porno-DVDs zu sein.
Beim Lesen gewinnt man auch Einblicke in die seelische Not einer Kassiererin, die im doppelten Sinne Nehmerqualitäten besitzen muss: Stundenlang darf sie die Genervtheit der Kunden nur durch freundliche Professionalität parieren. Selbst wenn sie dann einmal ein unaufschiebbares menschliches Bedürfnis befällt, muss sie so lange auf ihrem Platz aushalten, bis die ersehnte Ablösung kommt.
Das vollmundige Versprechen der Autorin, die Menschen so zu sehen wie sie sind, löst das Buch allerdings nicht ein. Die beschriebene Mechanisierung des Kassiervorgangs bestimmt auch den Stil des Buches. Viele Begebenheiten werden nur kurz angerissen, fragmentarisch aneinander gereiht und lakonisch abgeschlossen. Man merkt dem Text an, dass er ursprünglich als Blog im Internet konzipiert war. Es geht der Autorin eher darum, Situationen oder Kundentypen zu scannen, als sie zu erkennen. Das hat für den Leser den Vorteil, dass man die beschriebenen Missstände und Anekdoten einfach kolportieren kann. Man kann sie - wie die Waren auf dem Kassenband - kurz aufgreifen, ohne sich länger und tiefer damit
auseinanderzusetzen. Die Ironie der Autorin sorgt zudem dafür, dass das Leiden der Kassiererin dem Leser nicht wirklich
nahe rückt. Die Pointen am Ende jedes Kapitels wirken daher wie das finale "Biep" des Scanners, der Schluss mit dem Gegenstand macht, sobald er ihn berührt hat.
Der Erfolg des Buches begründet sich vielleicht auch darin, dass es ein einfaches Täter-Opfer-Klischee bietet. Dort die gierige und übergriffige Konsumwelt der Kunden, hier die ausgebeutete und verachtete Welt der Arbeiter. Diese Sicht ignoriert aber, dass die beschriebenen Gemeinheiten der Kunden und die subtilen Patzigkeiten der Kassiererinnen Ausdruck einer seelischen Nadelöhr-Verfassung ist, die sich beinahe zwangsläufig an der Supermarkt-Kasse einstellt. Denn das Einkaufen stellt für die Menschen mehr dar als eine geizgeile Warenanschaffung.
Oft treibt nicht der leere Kühlschrank, sondern der Lebenshunger den Kunden in den Supermarkt: Die Suche nach sozialer Nähe wie damals bei Tante Emma oder heute bei Onkel Achmed. Die Hoffnung, sich durch den Kauf von Joghurts oder Shampoos zu verwandeln. Der Wunsch, Inspirationen für die abendliche Familienspeisung zu erhalten. Oder einfach nur die archaische Lust nach der Schnäppchenjagd. Aber all diese Sehnsüchte erfahren an der Kasse eine ernüchternde Bilanzierung. Man wird abrupt ausgebremst und zur Kasse gebeten, obwohl sich viele Glücksvorstellungen nicht eingelöst haben. Und hinter dieser Kasse lauern wieder die Büro- oder Familienpflichten, denen man eigentlich entfliehen wollte.
Die Leiden einer Kassiererin sind - entgegen der Lesart von Anna Sam - auch immer die Leiden des Kunden. Denn beide sind letztendlich Opfer einer Supermarkt-Welt, die den Menschen totale Verfügbarkeit und Glücksmaximierung verheißt und sie dennoch immer wieder enttäuscht und einsam zurücklässt.
Stephan Grünewald über Anna Sam: Die Leiden einer jungen Kassiererin, erschienen sind die 176 Seiten im Verlag Rieman zum Preis von Euro 12,50.
Der oft entwürdigende und leidvolle Alltag einer jungen Kassiererin ist der Gegenstand des von Anna Sam gerade in Deutschland erschienenen Buches. Die Autorin ist Frankreichs bekannteste Supermarkt-Kassiererin, denn sie jobbte während und nach ihrem Literaturstudium acht Jahre in einer französischen Großmarkt-Kette.
Ihr Buch, das in Frankreich zum Bestseller avancierte, schildert die oft demütigenden und frustrierenden Erlebnisse mit Kunden oder dem Arbeitgeber: das Einstellungsgespräch, das nur "eine Sache von Minuten ist"; die automatisierte Monotonie der Kassier-Vorgänge, die nur vom "Biep! Biep!" beim Einscannen rhythmisiert wird oder von den immer gleichen Fragen der Kunden: 1. Wo sind die Toiletten? 2. Haben Sie keine Plastiktüte? Und 3. - die nervigste Frage - "Sind Sie offen?"
Sie wären gern die höflichste, coolste, untadeligste Kassiererin auf Gottes Erdboden? Das ist Ihr gutes Recht und außerdem wirklich lobenswert, auch wenn Sie Ihren Lohnstreifen dabei nicht ganz außer Acht lassen sollten. Aber eines müssen Sie mir versprechen: Lassen Sie es sich nicht gefallen, wenn man Sie mit Ihrer Kasse verwechselt. Sie sind ein menschliches Wesen und machen nicht: Biep! Und der Kunde ist keineswegs immer im Recht. Hier sind einige Vorschläge, wie Sie auf die Frage: "Haben Sie offen?" - reagieren können. Die höfliche Kassiererin: "Ich nicht, aber meine Kasse schon." Die sarkastische Kassiererin: "Biep!" Wenn der Kunde oder die Kundin echt niedlich ist: "Warum? Wollen Sie es bei mir versuchen?" - oder garniert mit einem entwaffnenden Lächeln: "Und Sie?" Ich garantiere für nichts! Natürlich werden Sie auch die zahlreichen Varianten zum Thema kennenlernen. "Sind Sie geschlossen? Ist sie offen? Sind Sie die Kasse? Nehmen Sie mich dran." Wie würden Sie das nun interpretieren?
Zum Schmunzeln regt das Buch immer dann an, wenn die perfiden Tricks und Strategien der Kunden beschrieben werden, beispielsweise dem Kassenstau zu entkommen. Der Mann etwa, der mit vier Artikeln die Kasse blockiert, weil er noch auf die vierzig vergessenen Artikel der Freundin wartet. Oder die Kundin, die ihren Einkaufswagen auf dem Band leert und dann verschwindet, um in finalen Ehrenrunden durch den Supermarkt weitere Produkte zur Kassenstrecke zu bringen. Hochnotpeinlich scheint zumindest in Frankreich für den souveränen Kunden wohl immer noch der Kauf von Toilettenpapier, Monatsbinden, Kondomen oder Porno-DVDs zu sein.
Beim Lesen gewinnt man auch Einblicke in die seelische Not einer Kassiererin, die im doppelten Sinne Nehmerqualitäten besitzen muss: Stundenlang darf sie die Genervtheit der Kunden nur durch freundliche Professionalität parieren. Selbst wenn sie dann einmal ein unaufschiebbares menschliches Bedürfnis befällt, muss sie so lange auf ihrem Platz aushalten, bis die ersehnte Ablösung kommt.
Das vollmundige Versprechen der Autorin, die Menschen so zu sehen wie sie sind, löst das Buch allerdings nicht ein. Die beschriebene Mechanisierung des Kassiervorgangs bestimmt auch den Stil des Buches. Viele Begebenheiten werden nur kurz angerissen, fragmentarisch aneinander gereiht und lakonisch abgeschlossen. Man merkt dem Text an, dass er ursprünglich als Blog im Internet konzipiert war. Es geht der Autorin eher darum, Situationen oder Kundentypen zu scannen, als sie zu erkennen. Das hat für den Leser den Vorteil, dass man die beschriebenen Missstände und Anekdoten einfach kolportieren kann. Man kann sie - wie die Waren auf dem Kassenband - kurz aufgreifen, ohne sich länger und tiefer damit
auseinanderzusetzen. Die Ironie der Autorin sorgt zudem dafür, dass das Leiden der Kassiererin dem Leser nicht wirklich
nahe rückt. Die Pointen am Ende jedes Kapitels wirken daher wie das finale "Biep" des Scanners, der Schluss mit dem Gegenstand macht, sobald er ihn berührt hat.
Der Erfolg des Buches begründet sich vielleicht auch darin, dass es ein einfaches Täter-Opfer-Klischee bietet. Dort die gierige und übergriffige Konsumwelt der Kunden, hier die ausgebeutete und verachtete Welt der Arbeiter. Diese Sicht ignoriert aber, dass die beschriebenen Gemeinheiten der Kunden und die subtilen Patzigkeiten der Kassiererinnen Ausdruck einer seelischen Nadelöhr-Verfassung ist, die sich beinahe zwangsläufig an der Supermarkt-Kasse einstellt. Denn das Einkaufen stellt für die Menschen mehr dar als eine geizgeile Warenanschaffung.
Oft treibt nicht der leere Kühlschrank, sondern der Lebenshunger den Kunden in den Supermarkt: Die Suche nach sozialer Nähe wie damals bei Tante Emma oder heute bei Onkel Achmed. Die Hoffnung, sich durch den Kauf von Joghurts oder Shampoos zu verwandeln. Der Wunsch, Inspirationen für die abendliche Familienspeisung zu erhalten. Oder einfach nur die archaische Lust nach der Schnäppchenjagd. Aber all diese Sehnsüchte erfahren an der Kasse eine ernüchternde Bilanzierung. Man wird abrupt ausgebremst und zur Kasse gebeten, obwohl sich viele Glücksvorstellungen nicht eingelöst haben. Und hinter dieser Kasse lauern wieder die Büro- oder Familienpflichten, denen man eigentlich entfliehen wollte.
Die Leiden einer Kassiererin sind - entgegen der Lesart von Anna Sam - auch immer die Leiden des Kunden. Denn beide sind letztendlich Opfer einer Supermarkt-Welt, die den Menschen totale Verfügbarkeit und Glücksmaximierung verheißt und sie dennoch immer wieder enttäuscht und einsam zurücklässt.
Stephan Grünewald über Anna Sam: Die Leiden einer jungen Kassiererin, erschienen sind die 176 Seiten im Verlag Rieman zum Preis von Euro 12,50.