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Ein Erzähler mit Symphatie für die Menschen seines Viertels

Er war der "Vater des arabischen Romans": Der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Mahfus ist im Alter von 94 Jahren in Kairo gestorben. In vielen Büchern hat er seine Stadt und die ägyptische Gesellschaft in den 50er und 60er Jahren porträtiert. Der Sohn eines einfachen Staatsbeamten war ein großer Verfechter von Demokratie, Meinungsfreiheit und religiöser Toleranz.

Von Christoph Schmitz | 30.08.2006
    Als bekannt wurde, dass Nagib Mahfus 1988 als erstem Schriftsteller arabischer Sprache der Literaturnobelpreis verliehen werden würde, da rümpfte in der etablierten Literaturkritik des Westens manch einer die Nase. Wer ist dieser Mahfus überhaupt? Wie wird der überhaupt geschrieben? Wieso ist kaum was übersetzt? Dabei war Mahfus damals erstens schon 77 Jahre alt und konnte zweitens mit einem opulenten Ouevre von rund 48 Publikationen aufwarten, die ihm im vorderen Orient zurecht den Titel "Vater des arabischen Romans" eingebracht hatten.

    Und dann die ersten Blicke in die wenigen schon vorhandenen Übersetzungen, denen in den Jahren nach der "Nobelitierung" zahlreiche, wenn auch mit allzu großer Verspätung, folgen sollten. "Die Midaq-Gasse", 1947 im Original erschienen: das bunte Porträt einer von skurrilen Figuren bewohnten Gasse in Kairos Altstadt. Geschichten über Liebe, Verlobung, Verrat, Prostitution, Rache und Tod in einer kleinen, halb intakten, halb sich auflösenden Welt. Die neue Welt der Moderne, repräsentiert durch die britische Besatzung, strahlt in die alte hinein. Die Gasse als Symbol für Ägypten im 20. Jahrhundert. Erstaunlich für den westlichen Leser war das von aller Orient-Romantik ferne Bild.

    Hier erinnerte nichts mehr an die märchenhafte Welt von 1001 Nacht. Hier rieben sich Menschen im Alltag an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf und stürzten ins Unglück. Aber das Naserümpfen blieb: Wie konnte ein Schriftsteller in der Mitte des 20. Jahrhundert so naiv realistisch, so brav chronologisch und holzschnittartig psychologisch erzählen? Das klang nach schlechter Kopie des 19. Jahrhunderts. Aber Mahfus, wenn er in Ägypten hatte Leser finden wollen, konnte und wollte, auch nach eigenem Bekunden, in den vierziger Jahren nicht der europäischen Avantgarde folgen.

    Bevor sein Land für die ästhetischen Experimente eines Nouveaux Roman hätte aufnahmebereit sein können, hatte es erst einmal den Realismus in seiner sozialkritischen Variante kennenlernen müssen. Für okzidentale Arroganz war kein Platz auf der arabischen Literaturbühne. Denn nach der mittelalterlichen Blüte orientalischer Erzählkunst, war die Prosa, im Gegensatz zur geschätzten und hochentwickelten Lyrik, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vollständig in Vergessenheit geraten. Nagib Mahfus mußte den modernen arabischen Roman erst begründen, um dann im Verlauf seines langes Lebens ein breiteres stilistisches und inhaltliches Spektrum zu entfalten.

    Nagib Mahfus - Sohn eines einfachen Staatsbeamten und nach dem Philosophiestudium an der Ägyptischen Universität in Kairo bis zu seiner Pensionierung selbst als Beamter in Verwaltungen und Ministerien tätig - Nagib Mahfus hat mit historischen Romanen über das Ägypten der Pharaonen begonnen, Romane, in denen sich das unter der Besatzung selbst fremd gewordene Land seiner kulturellen Wurzeln vergewisserte. Dann Mahfus realistische Werkphase mit ihrem Höhepunkt, der sogenannten "Kairoer Trilogie", die 1957 erschien, und bei uns unter den Titeln "Zwischen den Palästen", "Palast der Sehnsucht" und "Zuckergässchen" herausgekommen ist.

    Ein umfangreiches Familienepos über drei Generationen einer Kaufmannsfamilie der Mittelschicht zwischen dem Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie Thomas Manns "Buddenbrooks" die Geschichte einer Dekandenz, wobei im Unterschied zu den "Buddenbrooks" die dritte Generation zum ideologischen und gesellschaftspolitischen Kampf aufbricht. Einer der Brüder wird Kommunist, der andere geht zu den Muslimbrüdern. Die Geburt des Fundamentalismus aus dem Geist des irritierten Kleinbürgertums. Mahfus hat es hellsichtig porträtiert.

    Bei aller Klarheit der Analyse, Mahfus ist immer ein Erzähler gewesen, in dessen Geschichten vor allem seine Sympathie für die Menschen seines Viertels atmete, Geschichten, die entspannt, leicht distanziert und fast schicksalsergeben dem Lauf der Dinge folgen und der Welt zulgeich mit großer Toleranz begegnen. Ein Mahnmahl der Toleranz und der Religionskritik zugleich ist vor allem Mahfus allegorischer Roman "Die Kinder unseres Viertels". Der Familienpatriarch ist kein geringerer als Gottvater persönlich, seine Kinder: Moses, Jesus und Mohamed, die das Erbe zum Wohle der Menschheit nutzen, ein Erbe, das ihre Verwalter allerdings immer wieder zunichte machen. Der vierte Mitspieler - die Vernunft, das Wissen, die Aufklärung -, und nur er hat das verlorene Wissen des Vaters bewahrt. Ihm gilt die Hoffnung. Und von dieser Hoffnung hat Nagib Machfus, trotz zahlreicher islamistischer Anfeindungen und trotz eines Attentats, bei dem der 83-jährige schwer verletzt worden war, bis zu seinem Tod nicht gelassen.