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"Ein europäischer Ort"

Das Lager Theresienstadt in der böhmischen Festungsbastion scheint hinter Propagandamythen, Schuldgefühlen und Tabuisierungen noch immer fast verborgen. Der Historiker Wolfgang Benz hat mit seiner Monografie einen umfassenden Abriss über das Lager vorgelegt.

Von Jochanan Shelliem | 22.07.2013
    Der Eingang des LagersTheresienstadt in Tschechien.
    Der Eingang des LagersTheresienstadt in Tschechien. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
    Die von Wolfgang Benz vorgelegte Monografie ist die erste Gesamtdarstellung seit 58 Jahren, genauer seit das Standardwerk Theresienstadt 1941-1945 – Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft von Hans Günther Adler erschien. Adler, 1910 in Prag geboren und von 1942 bis 1944 selbst in Theresienstadt interniert, bevor er im Oktober 1944 nach Auschwitz, Buchenwald und in andere Konzentrationslager deportiert wurde, ging es nach Kriegsende darum, die Geschichte, Soziologie und Psychologie von Theresienstadt zu verstehen. Dabei verzichtete er auf einen emotionalen Zugang, um sich nicht als Opfer ins Spiel zu bringen. In Benz' Gesamtdarstellung des, wie er sagt, in den Holocaust eingebundenen "Scharniers" weitet der ehemalige Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung an der TU Berlin den Blick auf Theresienstadt aus - auf der Basis der adlerschen Monografie um subjektive Zeugnisse von Zeitzeugen. Wolfgang Benz:

    "Ich schreibe eine Geschichte, die nicht nur den deutschen Blickwinkel hat, nämlich als die Leidensstation der deutschen Juden Theresienstadt. Und ich verwende sehr viel Raum darauf deutlich zu machen, dass Theresienstadt zunächst einmal das Sammellager, der Leidensort der böhmischen Juden gewesen ist, denn, das muss deutlich werden, es ist ein europäischer Ort und nicht das 'Privilegiertenlager' nur für deutsche hoch dekorierte Teilnehmer des Ersten Weltkrieges oder für Dichter, Künstler, Philosophen und Musiker gewesen, die aus Deutschland kamen, weil sie Juden waren."

    Wolfgang Benz arbeitet mit filmischem Blick. Seine Gesamtdarstellung zoomt vom Panorama der böhmischen Festungsanlage zu paradigmatischen Einzelporträts, die das Leben im Getto beschreiben, wobei er unprätentiös die Fakten referiert und sich einer Wertung enthält.

    "Im böhmischen Paradies, umgeben von lieblicher Landschaft, sanfte Berge im Blick, inmitten der fruchtbaren Ebene an der Elbe und Eger liegt eine Fahrstunde nördlich von Prag, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Leitmeritz und Lobositz, Theresienstadt. […] Dem flüchtigen Besucher erschließt sich der Ort nicht. Man sieht ihn erst, wenn man darin ist, so haben es Festungsbaumeister Ende des 18. Jahrhunderts geplant."

    Im Inneren als Konzentrationslager organisiert, im Ausland als "Altersgetto" und NS-Modell für die jüdische Umsiedlung in den Osten angepriesen, umgibt Theresienstadt ein zynisches Lügengespinst.

    "Über die Verortung Theresienstadts in den Systemen der nationalsozialistischen Zwangslager und Haftstätten herrscht – ohne Notwendigkeit – Unsicherheit."

    Da Theresienstadt nicht der "Inspektion der Konzentrationslager" in Oranienburg, beziehungsweise dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt in Berlin unterstellt war – so erläutert Wolfgang Benz die Täterlogik – habe Theresienstadt nicht als KZ gegolten. Und doch bildete das Getto in der Großen Festung, wo bis zu 150.000 Häftlinge zusammengepfercht wurden, eine Schaltstelle des Holocaust. Von Anfang an, so Wolfgang Benz, wies dieses Element des NS-Terrorsystems besondere Eigenschaften auf: Nicht erst als Vertretern des Roten Kreuzes das Lager als Idylle vorgeführt wurde, von Anfang an diente Theresienstadt der Täuschung. Wolfgang Benz

    "Die deutschen Juden konnten sich nicht einen Platz im Altersheim kaufen, weil es dieses Altersheim nicht gab, sie mussten sich einen Platz kaufen. Sie mussten einen Heimeinkaufsvertrag abschließen mit dem Deutschen Reich und das war nichts anderes als eine Vermögensübertragung zugunsten der Kasse des Deutschen Reiches, dafür wurde ihnen garantiert: Aufenthalt in einer angenehmen Umgebung, Ernährung, Pflege im Krankheitsfalle bis zum Tode. Das war der blanke Zynismus. Der größte Teil der alten Leute, die diesen Heimeinkaufsvertrag unterschrieben hat, gingen nach ziemlich kurzer Zeit nach der Ankunft in Theresienstadt einfach zugrunde, an Krankheit, an Unterernährung, vor allem aber am Schock, wie man mit ihnen umging."

    Benz berichtet auch vom Mit- und Gegeneinander der deutschen, polnischen und tschechischen Insassen in Theresienstadt, er beschreibt die Persönlichkeiten und die Politik der drei Judenältesten: Jakob Edelstein, der anfangs schrieb, hier werde eine zionistische Vision Wirklichkeit, Paul Eppstein, der seinen Konzertflügel aus Berlin mitbrachte und der von den Insassen verhasste Rabbiner Benjamin Murmelstein aus Wien.

    "Man muss sich das vorstellen. Das waren dann etwa Paul Eppstein, ein deutscher Akademiker, ein Gelehrter Anfang 40, der nichts anderes gelernt hatte als Philosophie, Sozialwissenschaften, der steht jetzt an der Spitze einer Verwaltung, die das absolute Chaos, den Hunger, den Mangel, die schreckliche Trostlosigkeit organisieren und verwalten muss. Und jetzt kommen noch die Deportationen hinzu, und auch da muss der Judenrat dafür sorgen, dass nach dem Willen der SS 1000 Menschen regelmäßig am Bahnhof stehen, um die Fahrt nach Auschwitz anzutreten."

    Eine sehr gut lesbare, komplexe und detailreiche Monografie in ruhigem Ton hat Wolfgang Benz hier vorgelegt. Ein keineswegs mildes Alterswerk, aber eines, das zukünftigen Forschern offene Fäden freilegt.

    Wolfgang Benz: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung. C.H. Beck Verlag, 281 Seiten, 24,95 Euro.