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Ein ewiger Dissident

Jáchym Topols "Zirkuszone" ist ein fulminanter Roman. Seine Geschichtsapokalypse siedelt im Jahr des Einmarschs der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschecheslowakei 1968, aber zugleich weckt sie Erinnerungen an den 30-jährigen Krieg.

Von Christoph Bartmann | 03.09.2007
    Als 16-Jähriger hat Jáchym Topol die Charta 77, die legendäre Petition der tschechischen Bürgerrechtsbewegung, einst mit unterschrieben. Und dieser Impetus von jugendlicher Dissidenz und Aufsässigkeit setzt sich in seinem literarischen Werk bis heute fort. Während manche der älteren Mit-Dissidenten später zu Staats- und Akademiepräsidenten aufstiegen und an der Würde ihrer Ämter Gefallen fanden, hat Topol in seinem Schreiben etwas von dem originalen Rebellen- und Rowdytum aufbewahrt, das damals die Staatsgewalt zu drakonischen Maßnahmen greifen ließ. Es wimmelt in seinen Büchern nur so von juvenilen "Elementen", von "Schädlingen" am Gesellschaftskörper und anderen irrlichternden Minderjährigen, die sich aus purer Abenteuerlust in ein Scharmützel mit der Obrigkeit geworfen haben, für das sie notfalls auch den Heldentod riskieren – nicht etwa im Namen einer besseren Gesellschaftsordnung, sondern ganz allein im Vollzug eines Sozialdarwinismus, wie er auf jedem Schulhof anzutreffen ist. Die Außenseiterbanden, von denen Topols Romane erzählen, kennen kein Gesetz und erkennen folglich auch keines an. Was sie zusammenschweißt, ist der Stolz auf die eigene Infamie. "Ihr seid das allerletzte Gesocks in der ganzen Tschechoslowakei", herrscht Kommandant Vyžlata die Insassen des Waisenhauses von Širem an. "Ihr seid die Söhne von Syphilitikern, Alkoholikern und Mördern, Huren und Ausländern." Und das geht den wilden Zöglingen runter wie Honig.

    Für seinen jüngsten Roman ist Topol, der mit Abstand interessanteste tschechische Autor dieser Jahre, auf Motive vor allem des Vorgängerromans "Nachtarbeit" (2004) zurückgegangen. Eine verwilderte, verwahrloste, von der Zivilisation versehrte und von Unkraut überwucherte Landschaft. Kinder, die in ihr herumirren, heimat- und elternlos, aber dafür mit allen Wassern gewaschen. Bruchstücke einer totalitären Ordnung inmitten einer Anarchie, in der selbsternannte Heerführer durch die Gegend ziehen. Topols Geschichtsapokalypse siedelt im Jahr des Einmarschs der Warschauer-Pakt-Truppen 1968, aber zugleich weckt sie Erinnerungen an den 30-jährigen Krieg. Sind hier in Böhmen nicht eben erst die Söldnertruppen um den Warlord Wallenstein marodierend durchgezogen? Und auch die Geschichte der Vertreibungen, der ethnischen Entmischung von Deutschen und Tschechen nach 1945 hat in dieser Gewaltlandschaft ihre Spuren hinterlassen. Den Kindern von Širem liegt das historische Gedenken fern. Jede Verwüstung mehr ist nur ein neuer Reiz auf dem Abenteuerspielplatz der Geschichte.

    Wie macht man aus der "heruntergekommensten Rabaukenbande der ganzen Republik" einen schlagkräftigen Trupp von Neo-Junghussiten? Früher, im "Heimdaheim" von Širem, einem verlassenen Schloss in Mittelböhmen unter der milden Obhut katholischer Ordensschwestern übten sich Ilja, Bobo und die ganze Internationale der heimatlosen Waisen, in der Kunst des Streiche-Spielens. Bis eines Tages Kommandant Vyžlata im Heim erscheint, die Schwestern in die Flucht schlägt und den Anbruch eines neuen Zeitalters verkündet. "Mich, Freunde, haben die schwersten Feuer des 20. Jahrhunderts gestählt!", ruft er aus. "Ich wurde geschmiedet auf dem Amboss des zwanzigsten Jahrhunderts, jawohl! Und jetzt bin ich gerüstet, euch für die neue Zeit zu erziehen." Ohne Umschweife will der workuta-erprobte Kommandant Vyžlata die Umerziehung der ungezogenen Knaben zu wehrhaften Kommunisten ins Werk setzen. Also werden Ilja und die anderen Strolche im Handumdrehen zu "Diversanten" ausgebildet, deren Aufgabe es ist, intervenierende Truppen gezielt an der Nase herum zu führen. Als dann die Stunde von "Alex Dubček" schlägt, eröffnen sich den Diversanten ungeahnte Perspektiven. Von der "Siremer Autonomen Zone" aus dürfen sie beim Widerstand gegen die einmarschierenden Truppen mittun und Kommandant Žinka drückt die Erwartung aus, "dass ihr nach Art der Junghussiten mit den Steinschleudern kämpft, bis auf den letzten Mann", während der Schnaps in Strömen fließt."

    Für all diese mehr oder minder kruden Vorkommnisse hat Topol ein künstliches Argot erfunden, den die Übersetzer auf bewundernswerte Weise ins Deutsche überführt haben. In dieser Sprache scheint alles pausenlos in Bewegung, es gibt in ihr keine ruhigen oder gar lyrischen Augenblicke, sondern man befindet sich als Leser im permanenten Trommelfeuer der Wahrnehmungen. "Der Himmel", heißt es etwa, "fällt gerade auf die Erde runter. Riesenstörche fliegen über uns weg, schwingen die Flügel, die wie Feuersegel aussehen, dann donnert es wieder, und die Störche klappern mit den Schnäbeln: tak-tak-tak-tak", und das klingt dann beinahe schon wie ein Maschinengewehr. Das Unheilvolle und Sprunghafte solcher Bilder wird bei Topol kontrastiert von einem Witz, der nichts, und bestimmt nicht das Unheil, vom Spott ausnimmt. Der Krieg und die Gewalt sind in Topols und seines juvenilen Ich-Erzählers außermoralischer Sichtweise eben immer auch eine Riesenhetz, und wenn es in der Luft heult und "wiijuh" macht, wenn Feuer aufblitzt und danach eine weiße Rauchsäule aufsteigt, dann hat das immer auch Züge einer Geisterbahnfahrt, auf der man seine Angstlust auf die Probe gestellt hat. Verharmlost oder infantilisiert Topol die Schrecken des Krieges und der Gewalt? Eher kann man sagen, er führt sie einer anderen, sehr nüchternen Wahrheit zu, und jedenfalls einer anderen Wahrnehmung.

    Topol ist einmal ein Dissident gewesen, und in gewisser Hinsicht ist er es geblieben. Der Dissidenz treu bleiben, kann auch heißen, den lieb gewonnenen Mythen des Widerstands den Verrat entgegenzusetzen. Aus Ilja, dem frisch rekrutierten Diversanten der guten tschechischen Sache, wird jedenfalls im Nu ein Überläufer, der in der sowjetischen Panzerkolonne unter Hauptmann Jegorow - Iljas Vater, möglicherweise - seine Dienste fortan der Besatzungsmacht zur Verfügung stellt. Irgendwann aber haben, so scheint es, in diesem Roman auch die Besatzer ihre Orientierung verloren, und die einstmals autonome Zone von Širem verwandelt sich in die "Zirkuszone", die dem Roman den Titel gibt - in ein Territorium, durch das die versprengten Tiere, Zwerge und Clowns des "Staatszirkus der DDR" irren und die sowjetische Einheit unter Hauptmann Jegorow Gräuel an den Aufständischen verübt. Zum Ende des Romans hin weitet sich Topols jugendlicher Räuberroman zu einer alternativen Geschichtsfiktion. Die tschechoslowakische Volksarmee hat sich gegen die Besatzer erhoben, die Bürgerwehr "Kyrill und Methodius" treibt in Brünn die Invasoren aus der Stadt, ein Dritter Weltkrieg steht bevor, weil die westlichen Mächte wieder einmal den heldenhaften Kampf des tschechoslowakischen Volkes verraten hat - das alles steigert sich in rasender Fahrt zu einem vollständig aberwitzigen Geschichts-Narrativ, in dem alle Mythen der tschechischen Nation planmäßig mit Füßen getreten und zugleich neu zusammengebaut werden, während es den jungen Ilja zuletzt nur noch nach Hause treibt, ins Kinderheim von Širem, einer Antwort auf die Frage entgegen, wo er Bobo, den kleinen, behinderten Bruder, findet, und wer seine Eltern sind. "Ich mache mich also gleich auf den Weg, ich gehe nach Hause", das sind die leisen letzten Worte in Topols sonst so fulminantem Roman, für den das Wort "wichtig" fast schon eine Untertreibung ist.


    Jáchym Topol: Zirkuszone
    Aus dem Tschechischen von Milena Oda und Andreas Tretner. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007
    316 Seiten, 24,80 Euro