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Ein Fach mit sieben Siegeln

Mathematik in der Schule gilt landläufig als Horrorfach. Dabei ist Mathematik tatsächlich keine Hexerei, die Welt aus Zahlen und Formeln lässt sich begreifen und verstehen, wenn einem nur mal einer zeigt, wie und warum. Der Matheunterricht steht und fällt mit der Qualifikation und der Einstellung seiner Lehrer. Was muss sich also tun im Unterricht und in der Ausbildung der angehenden Lehrer?

Von Ingun Arnold |
    Sie diskutieren, sie probieren aus, sie fangen von vorne an: Ein halbes Dutzend Siebtklässler puzzelt ein so genanntes "Penrose-Parkett". Der englische Mathematiker Sir Roger Penrose hat die Parkettmuster aus Drachen und Dreiecken entdeckt. Das fertige Parkett sieht aus wie ein kunstvolles Bodenmosaik einer alten Villa, mit Sternen und Blütenblättern. Welches Teil dabei wohin kommt, müssen die Schülerinnen und Schüler selbst herausfinden. Und Ursula Odendahl, Referendarin für Englisch und Mathematik am Gymnasium Lindlar, freut sich, dass scheinbar alles ganz anders ist als sonst:

    " Meine Erfahrungen zeigen, dass vielen Schülerinnen und Schülern der Matheunterricht erst mal nicht so viel Spaß macht. Ich merke vor allem, dass viele Schülerinnen und Schüler mit einer gewissen Blockade zum Mathematikunterricht kommen: Mathematik ist schwer, ist langweilig, trocken, abstrakt, und unsere Aufgabe als Mathelehrerinnen und -lehrer besteht in erster Linie erst einmal darin, diese Blockade aufzubrechen, so dass Mathematik überhaupt Spaß machen kann."

    Spaß haben die Schüler mit dem "Penrose-Parkett" auf jeden Fall und von Blockade ist auch keine Spur. So ist das übrigens nicht nur in der Wander-Ausstellung "Mathematik zum Anfassen", sondern im gesamten "Mathematikum" in Gießen. Das "Mathematikum" ist ein Mitmach-Museum, da braucht man keine binomischen Formeln, kein Einmaleins und auch keine Integrale. Das mag für Lehrer gewöhnungsbedürftig sein, ist aber Absicht, erklärt der Direktor, Albrecht Beutelspacher:

    " Irgendwann muss Mathematik mit mir persönlich was zu tun haben. Ich kann einfach Spaß haben, indem ich etwas bastle, in dem ich eine Knobelaufgabe löse. Nicht der Lehrer sagt mir, was das soll, sondern ich erfahre, was das soll. "

    Beutelspacher ist hauptberuflich Mathematikprofessor, er weiß, dass Ausprobieren, Knobeln und Entdecken an der Uni zu kurz kommen. Meist sitzen die angehenden Lehrerinnen und Lehrer mit künftigen Mathematikern im Seminar; Veranstaltungen, die vorrangig etwas mit dem zu tun haben, was im Schul-Lehrplan steht, sind selten. Zudem handhabt es jedes Bundesland auf seine Weise, ob und wie die Studierenden an den Universitäten in Fachdidaktik und Schulpraxis ausgebildet werden. Bei ihr jedenfalls sei das viel zu kurz gekommen, sagt Referendarin Ursula Odendahl:

    " Das Mathematikstudium hat mir sehr viel Spaß gemacht, weil mir Mathematik sehr viel Spaß macht. Ich habe aber sehr wenig über Fachdidaktik etc. mitbekommen, das ist dann eher autodidaktisch passiert und eben jetzt in den Erfahrungen im Unterricht. Die fachdidaktische Ausbildung, vor allem in Mathematik, war an der Uni wirklich mangelhaft, muss man sagen, beziehungsweise nicht existent. Da, finde ich, sollte sich was tun, dass Praxissemester eingeführt werden, die fachdidaktisch hochwertig begleitet werden."

    Es tut sich tatsächlich etwas: Die Lehramtsstudiengänge in der gewohnten Form werden abgeschafft und auf Bachelor und Master umgestellt. Fachdidaktik und schulpraktische Übungen sollen dann Standard sein, und zwar bundesweit. Albrecht Beutelspacher hat zusammen mit einem Fachdidaktik-Kollegen aus Siegen ein spezielles "Grundstudium für Mathelehrer" entwickelt. Dort erfahren die künftigen Gymnasiallehrer am eigenen Leib, wie Wissen entsteht. Und das ist weit mehr als nur Mathematik auf Hochschulniveau:

    " Wir müssen hemdsärmeliger werden und ein bisschen experimentelle Mathematik machen. Mein Hauptziel ist: Es muss so gemacht werden, dass die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer sich mit den Stoffen identifizieren können und dann später auch die Schüler. Schon, dass Mathematik mit Denken zu tun hat, ist eigentlich ein Aspekt, der mir in der Schule viel zu kurz kommt. Und eigenes Denken, das ist sozusagen das Ziel, wo ich auch als Schüler die Kraft meiner Gedanken spüren kann."

    Wie das funktioniert und dass das funktioniert, sollten alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer ausprobieren dürfen - in Studienmodulen, die von den Professoren fachlich und didaktisch vorbildlich gestaltet werden. Sogar die Deutsche Mathematiker-Vereinigung hat vom Schulunterricht "Verständnis für die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten" statt einer "Beschäftigung mit inhaltsleeren Formalismen" gefordert. Es hat lange gedauert, bis das in den Schulen angekommen ist: Die Denkschrift ist dreißig Jahre alt. Auch Ursula Odendahl hat solchen Unterricht erlebt. Aber: Er wird seltener:

    " Im Mathematik hat sich auf jeden Fall was getan in den letzten zehn Jahren, sage ich jetzt mal, es wird viel mehr Wert darauf gelegt, dass modelliert wird zum Beispiel: dass Alltagsprobleme mathematisch modelliert werden, dass nicht einfach nur, ich sage jetzt mal in Anführungsstrichen, "stumpf" gerechnet wird. Je mehr neue Bücher es gibt, je mehr Fortbildungen angeboten werden, umso mehr wird diese Tendenz jetzt auch in den Mathematikunterricht eingetragen."