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Ein Fall von Literatur-Hype?

Endlich ist er da, der neue Grass. Sechs Jahre lang mussten die Deutschen auf seine lange angekündigte Autobiografie warten, nun wurde "Der Blechtrommler" unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen von der Druckerei ausgeliefert. Doch der Lieferwagen mit den ersten Exemplaren wurde nach seiner Ausfahrt aus dem Werksgelände nur wenige Kilometer später von einem Dutzend vermummter und schwer bewaffneter Männer und Frauen an der Autobahnauffahrt gestoppt. Von den zwei Lastwagenfahrern im Dienste des Verlags wurde zwar keiner verletzt, doch von der Ware wie von den dreisten Räubern fehlt weiterhin jede Spur.

Anmerkungen von Hajo Steinert. |
    Ich bin mir nicht sicher, ob man diese Geschichte in Kolumbien oder Mexiko als Märchen aus dem Abendland abtut. Ist doch Grass immerhin ein Nobelpreisträger und somit die Nummer eins der deutschen Literatur. Warum sollten besonders gierige Grass-Leser in Alemania eigentlich nicht zum Äußersten greifen, um in den vorschnellen Besitz dieser, muss sie wohl, heiß begehrten Buchware zu gelangen?

    Ganz gleich, ob diese Meldung aus dem fernen Deutschland wahr oder erfunden ist, sie, die Reporter in Kolumbien und Mexiko, setzen sie natürlich gerne in die Welt und noch einen drauf (warum nicht gleich die komplette erste Auflage zum Diebesgut erklären?), weil so etwas im Kontext eines ansonsten eher sensationsarmen Gewerbes von den Zeitungslesern mit Sicherheit gerne gelesen wird. Wahr oder gelogen, leicht oder schwer übertrieben - den Marketingstrategen eines Verlages ist jede Geschichte recht, die die Auflage steigert, falls Grass in Lateinamerika überhaupt eine nennenswerte hat. Und so ist es völlig egal, ob zehn, hundert, tausend, hunderttausend Exemplare vom "Blechtrommler" - oder auch gar keins - einer Horde Räuber an einer deutschen Autobahnauffahrt in die Hände fielen. Hauptsache, die 'story’ ist gut.

    Wenn dagegen solche Räubergeschichten aus dem wilden Kolumbien zu uns drängen und das Objekt diebischer Begierde kein anderes ist als das neue Buch von Gabriel Garcia Márquez ist, sind wir geneigt, die abenteuerlich anmutende Agenturmeldung als bare Münze zu nehmen. Wie anders ist zu erklären, dass in der Vorberichterstattung zur Auslieferung der deutschsprachigen Ausgabe von "Vivir para contarlo" eine Zeitung nach der anderen die 'story’ vom Überfall auf den Lieferwagen in Bogotá nur zu gerne kolportierte. Egal, ob es nur zwanzig Vorabexemplare waren, die aus dem Gefährt stibitzt worden sein sollen oder gar, wie andere Blätter berichteten, der komplette Lastwagen "gekapert" wurde - mit Neid reagieren wir auf solches Beweismaterial aus dem Wunderland der Literatur, wo Heerscharen von Lesern nicht nur nach Büchern ihres Volkshelden anstehen, sondern diese sich einfach nehmen, ohne zu bezahlen.

    Egal ob die Story vom Buchklau stimmt - die eine Million Exemplare, die zeitgleich in Barcelona, Bogotá, Buenos Aires und Mexiko-Stadt am 9. Oktober auf den Markt geworfen wurden, sind nicht nur mit der konkurrenzlosen internationalen Verbreitung der spanischen Sprache in den entsprechenden Ländern zu begründen, sondern auch mit dem Status eines Schriftsteller in seiner Welt, den ein Günter Grass niemals erreichen könnte. Ein deutscher Autor als maßgebliche und unwidersprochene Stimme eines Volkes, gar eines Kontinents - nicht auszudenken das in unseren Breiten.

    Das literarische Ergründen und Beschwören einer Volksseele, der Schriftsteller als moralische und erzieherisch anerkannte Instanz in den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten, das Beitragen zu einer nationalen kulturellen Identität, der Status eines Schriftstellers nicht nur als Klassiker zu Lebzeiten, sondern darüber hinaus als lebende Legende, als lebendiger Mythos - so etwas gibt es nicht in Deutschland, nicht in Europa, aber in Lateinamerika. Nur einem Gabriel Garcia Márquez kann widerfahren, was ihm anlässlich des Erscheinens (man nehme das Wort hier ganz bildlich) seiner Memoiren in der spanischsprachigen Welt nachweislich passiert ist. Wem sonst, außer ihm, schreiben gleichzeitig ein Fidel Castro, ein Milan Kundera, ein Carlos Fuentes und viele andere, nicht ganz so populäre Politiker, Freunde und Weggefährten eine Hommage, noch ehe das Buch auf dem Markt ist?

    Günter Grass, zum Vergleich, wäre glücklich und stolz wenn der Bundeskanzler in die Druckfahnen guckt und ein nettes Wörtchen zu einem neuen Grass-Titel von seinem Büro in die Welt setzen ließe. Günter Grass treueste 'fellow travellers’ sind - abgesehen vom Amerikaner John Irving - keine deutschsprachigen Schriftsteller von Rang, sondern die Literatur-Redakteure beim Norddeutschen Rundfunk. Die großen Freunde in der Politik? Ein Kosmopolit wie Garcia Márquez brachte und bringt so unterschiedliche Naturen wie Fidel Castro, Francois Mitterand und Bill Clinton unter einen Hut. Günter Grass? Ja, er verstand sich gut mit Willy Brandt. Aber danach? Und, um in die Pop-Kultur zu entweichen, kann sich jemand vorstellen, dass sich ein Günter Grass zur Sängerin Shakira oder zur Liebesvirtuosin Monica Lewinsky vorgewagt hätte, wie dies "Gabo" im Rahmen einer journalistischen Annäherung für sein Wochenmagazin "Cambio" kürzlich noch getan hat? Müssen wir also traurig darüber sein, dass wir keinen "Grasso" haben?

    Nein, wir werden nicht traurig sein, wir werden nur wieder staunen und darüber rätseln, warum bei uns keiner so toll, so lebensprall zu erzählen in der Lage ist wie ein Gabriel Garcia Márquez das kann, mit seinem "magischen Realismus", dieser wunderbaren Allianz aus Dokumentation und Fiktion, Wahrheit und Lüge, Bericht und Märchen, Berechnung und Zauber, Wissenschaft und Aberglaube, Fakten und Traumdeuterei, ohne jedes Herumgründeln und Granteln, ohne jede Besserwisserei, die einem Grass, seien wir ehrlich, durchaus eigen sind. "Leben, im davon zu erzählen. Der Buchhandel ist für den Überfall der deutschen Leser gewappnet. Morgen erscheint der neue Márquez.

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