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Ein Flüchtlingsfilm rüttelt auf

Es gibt in Frankreich ein Gesetz, das unter Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen verbietet, illegalen Flüchtlingen zu helfen, für sie zum Beispiel Einkäufe zu bezahlen oder ihre Kinder zu unterrichten. Seit der Film "Welcome" von Philippe Lioret darüber berichtet hat, gerät das umstrittene Gesetz immer mehr in den Fokus von Menschenrechtsorganisationen und auch der Kirche, so der Journalist Jürgen Ritte.

Jürgen Ritte im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 28.04.2009
    Stefan Koldehoff: Was das Medium Film gesellschaftlich immer noch auszurichten vermag, das ist zurzeit in Frankreich zu sehen. Dort erregt eine Dokumentation die Gesellschaft, in der es nur mittelbar um die sogenannten "Sans-papiers"-Menschen geht, jene illegalen Einwanderer, die ohne Papiere in Frankreich leben. Oft in großen Gettos wie jenen, das kürzlich erst bei Calais geräumt wurde. Der Film berichtet vor allem über ein Gesetz in Frankreich, das es Franzosen unter Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen verbietet, diesen Menschen zu helfen, für sie zum Beispiel Einkäufe zu bezahlen oder ihre Kinder zu unterrichten. Der Film "Welcome" von Philippe Lioret berichtet darüber und hatte unter anderem zur Folge, dass im Fernsehen über dieses Gesetz diskutiert wurde, in 70 Städten Menschen dagegen demonstrierten, Rockkonzerte zur Solidarisierung mit den Flüchtlingen stattgefunden haben und noch mal aktiv aufriefen, gegen dieses Gesetz sich zu engagieren. Jürgen Ritte in Paris, dabei gibt es das Gesetz seit über 60 Jahren, warum wird die Öffentlichkeit erst jetzt aufmerksam?

    Jürgen Ritte: Es wird erst jetzt darum debattiert, weil es in Frankreich viele Gesetze gibt, die nie angewandt werden, und eines Tages werden sie dann angewandt, und das ist jetzt hier der Fall. Die Bestrafung, von der Sie eben gesprochen haben, kann bis zu fünf Jahren Haft gehen. Diese Sache wird jetzt angewandt, und das macht den Film sehr brisant. Und noch brisanter macht ihn eigentlich ein Vergleich, ein etwas unglücklicher Vergleich, den der Regisseur Philippe Lioret unmittelbar vor der ersten Aufführung des Filmes in einem Zeitungsinterview angestellt hatte, als er sagte, diesen Illegalen, die da bei Calais warten auf eine Überfahrt und die von der Polizei drangsaliert werden, diese Illegalen erleben das Schicksal, das 1943 die Juden Frankreichs erlebten. Weil sich da natürlich der Innenminister und der Minister für Integration und nationale Identität, das ist ein Herr Besson inzwischen, angegriffen fühlt und verglichen sieht mit deutschen beziehungsweise mit Vichy-Polizisten, die damals Jagd auf Juden gemacht haben. Und abgesehen davon sind solche Vergleiche natürlich immer etwas problematisch, sogar sehr problematisch. Fest steht aber, dass Frankreich seit Sarkozy eben ein Ministerium für nationale Identität hat - das muss man sich mal vorstellen - und dass dieses Ministerium im Verbund mit dem Innenministerium tatsächlich Jagd auf Illegale macht und auch nicht davor zurückschreckt, Kinder vor den Schulen abzugreifen beziehungsweise deren Eltern, die auf die Kinder warten, vor den Schulen abzugreifen und sofort ins Ausland zu verschaffen. Sarkozy hat eine Politik der Zahlen sozusagen, also der reinen Betriebswirtschaftlichkeit angesagt. Er will am Ende des Jahres immer soundso viel tausend Ausweisungen haben. Und der "Erfolg", in Anführungszeichen, sind dann solche Zustände wie in Sangatte, so hieß das inzwischen aufgelöste Lager, für die Flüchtlinge bei Calais.

    Koldehoff: Es geht ja nicht etwa nur um Hilfe beispielsweise in Form krimineller Delikte, wie Beschaffung falscher Ausweispapiere oder so was. Bestraft werden kann in Frankreich, schon wer für einen Flüchtling im Supermarkt einkaufen geht oder ihn illegal beschäftigt, um ihm ein Auskommen zu ermöglichen. Dieser Film sorgt dafür, dass es eine Art Solidarisierungswelle zumindest gibt in Frankreich. Ist das eine große Welle oder sind das wie üblich die paar kritischen Geister, möglicherweise Intellektuellen, die da jetzt in Fernsehdiskussionen, in Zeitungsbeiträgen auftreten? Wird das vom Volk getragen, diese Solidarität, die dieser Film wachrufen will, oder ist die Mehrheit eher aufseiten Sarkozys?

    Ritte: Intellektuelle sieht man bei dieser Debatte eigentlich weniger, bis auf einen, den in Deutschland allerdings wenig bekannten Alain Badiou, das ist ein älterer Herr inzwischen, der schon 1968 aktiv war und einer von den Wenigen ist, die ihre Weste nicht gewendet haben. Der tritt in der Tat auch in Komitees zur Unterstützung von den Illegalen ein oder den "Sans papiers", also denen, die keine Papiere haben.

    Koldehoff: Wie verhalten sich denn die Kirchen? Es gab mal einen Satz, der lautete: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

    Ritte: Ja, ja. Also die Kirchen äußern sich in der Richtung. Es gibt ja die von dem in Frankreich populärsten Menschen, inzwischen verstorbenen Abbé Pierre begründete Emmaus-Bewegung und viele andere karitative Bewegungen, und die unterstützen natürlich die "Sans papiers", die Illegalen. Sie sind ja in Paris zumindest häufig auch in Kirchen untergebracht worden. Es waren Priester, es waren Geistliche, die die Kirchen geöffnet haben, damit diese Menschen, diese armen Menschen ein Dach überm Kopf haben.

    Koldehoff: Und die offizielle Kirchenführung, also beispielsweise ein Erzbischof von Paris, stellt der sich hin und sagt der Regierung Sarkozy, was ihr da tut, das widerspricht dem Gesetz der Nächstenliebe?

    Ritte: Das macht er wenn, dann sehr vorsichtig. Auf der offiziellen Ebene ist eine andere Sprache angesagt, die eher diplomatische. Aber dass Sarkozy sich damit keine Freunde macht, auch gerade in diesen Milieus, ist ganz klar.

    Koldehoff: Flüchtlingshilfe in Frankreich unter Strafe - Jürgen Ritte war das.