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Ein Fluss zieht um

Täglich das gleiche Bild. Zu den Hauptverkehrszeiten schieben sich die Autokolonnen durch die Stadt am Niederrhein. Eine neue Rheinbrücke und eine Umgehungsstraße sind dringend erforderlich. Da sind sich Bürger, Stadt und Straßenbauer seit Jahren einig. Die können aus Platzgründen nur im Süden von Wesel gebaut werden. Aber dort fließt heute noch die Lippe. Deshalb sollen die letzten 3 Kilometer vor ihrer Mündung nach Süden verlegt werden. Für Hans Löckmann vom Amt für Straßen NRW kein Problem:

Von Linda Pieper |
    Im Zuge der Südumgehung Wesel müssen wir das jetzige Flussbett der Lippe, was also wie ein tief eingeschnittener Kanal ausgebildet ist, zuschütten, um dort die Möglichkeit für den Straßenbau zu finden.

    Doch für eine Verlegung der Lippe in der heutigen technisch und naturfeindlichen ausgebauten Form verweigerte NRW die Genehmigung. Denn Mitte der 90er Jahre hatte die Rot-Grüne-Landesregierung für die Lippe das so genannte Lippeauenprogramm verabschiedet. Darin wurde festgeschrieben, dass der Fluss nach und nach wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückgebaut werden soll.

    Denn heute ist im Mündungsbereich von der früher langsam dahin fließenden flachen Lippe mit breiten Uferzonen nichts mehr zu sehen. Die Uferstreifen des jetzt kanalähnlichen Flusses sind mit Steinen schnurgerade eingefasst. Und da der Mündungsfluss Rhein sein Bett stetig tiefer gräbt, hat sich auch die Fließgeschwindigkeit der Lippe erhöht, Geröll statt des üblichen Sandes bedeckt den Boden. Hohe Deiche entlang des trapezförmigen Flussbettes verhindern die sonst üblichen jährlichen Überschwemmungen in die ehemaligen Auengebiete entlang des Flusses.

    Für die Vertreter des Lippeverbandes kam die Möglichkeit, die Lippe in ihrem neuen Bett wieder naturnah zu gestalten, wie gerufen, so Projektleiter Helmut Herter:

    Wir werden die Lippe in einem deutlich breiteren Bett führen, als es heute der Fall ist. Wir werden typische Uferstrukturen schaffen statt der heutigen Steinschüttungen. Wir werden durch die ganzen Maßnahmen erreichen, dass sich links und rechts der Lippe ein Auenstreifen in einer Breite von jeweils 100 bis 200 Metern befindet, der im Jahr zirka 50 mal durch die Lippe selbst im Hochwasserfall aber auch durch den Rückstau des Rheines überflutet. Wir werden Stillwasserbereiche haben, wir werden dort Feuchtbiotope haben, vielleicht auch zum Teil kleine Auenwälder, also Strukturen, wo sich eine vielfältige Flora und Fauna – wie sie zu einem solchen Fluss gehört – ansiedeln kann.

    Auch die Stadt Wesel zieht mit. Eine intakte Flussauenlandschaft südlich der Stadt ist als Natur- und Erholungsgebiet ein Gewinn. Aber vor allem drängt die Stadt auf den Straßen- und Brückenneubau, so Wesels Baudezernent Franz Michebrink:

    Diese beiden Baumaßnahmen – das muss ich so deutlich sagen – sind sowohl für die Stadt Wesel als auch für die gesamte Region hier am unteren Niederrhein von derart herausragender Bedeutung, dass wir uns mit großem Engagement an der Planung für die Verlegung der Lippe beteiligen.

    Sie sind Vorraussetzungen für ein neues Industrie- und Gewerbegebiet. zwischen den Nachbarkommunen Voerde und Hünxe. Wesel erhofft sich dadurch einen Aufschwung, denn am Niederrhein sind freie Fläche rar. Der Sand- und Kiesabbau – größter Industriezweig der Region – benötigt riesige Areale.

    Auch die regionalen Naturschutzverbände begrüßen die Pläne für eine Verlegung der Lippe im Mündungsraum. Seit Beginn der 80-er Jahre versuchten sie bisher vergeblich, dieses Gebiet vor weiterer industrieller Nutzung zu bewahren. Nun können sie das erste Mal sagen - so BUND-Sprecher Georg Terwelp von der Biologischen Station Wesel - ,dass die verlegte Lippe mit einer Auenuferzone zu einer ökologischen Aufwertung dieses Gebietes führen wird.

    Noch wird am Reißbrett gearbeitet. Die Genehmigungsanträge sollen Mitte nächsten Jahres auf dem Tisch liegen. Dabei ist Arbeitsreihenfolge klar: erst die Lippe, dann die neue Rheinbrücke. Die Umgehungsstraße für Wesel wird erst kommen, wenn Bund und Land wieder bei Kasse sind. Das kann dauern. Die eigentliche Verlegung des Flusses ist dabei für die Wasserbauer kein Problem, so Helmut Herter vom Lippeverband:

    Im Prinzip ist das ganz einfach: Rein wasserbaulich gesehen stellen sie das neue Bett her und lassen die Lippe solange in dem alten Bett fließen, bis das neue Bett vorhanden ist, dann öffnen sie ein entsprechendes Trennbauwerk und leiten die Lippe in das neue Bett – so wie Sie es am Strand machen, wenn Sie Sandburgen bauen.

    Unterm Strich profitieren alle davon, - die Lippe, die Stadt Wesel. Gegenstimmen gibt es nicht. Zufriedene Gesichter vor allem bei den Vertretern des Naturschutzes. So könnte die Lippe 2010 in ihrem neuen Bett fließen.