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Ein freundliches Viertel zwischen den Kontinenten

Die Stadt zwischen Europa und Asien hat in den letzten Jahren immer mehr Besucher angelockt. Trotzdem ist eines der vielfältigsten und ältesten europäischen Viertel Istanbuls den meisten nicht bekannt - und das, obwohl Besiktas vor Charme und Flair nur so sprüht.

Von Miriam Rossius und Sibel Balta | 02.08.2009
    Morgens um halb sieben liegt noch ein leichter, weißer Nebel über dem Bosporus. Kraftvoll stößt das Schiff das Wasser zur Seite. Auf den Wellen bilden sich Schaumkronen und lassen die Sonnenstrahlen funkeln.
    Die Passagiere der Fähre sitzen zurückgelehnt auf den Seitenbänken, einige trinken Tee aus schmalen Tulpengläsern, andere blicken versonnen in die Weite. Noch einen Moment entspannt genießen, dann beginnt der Arbeitstag.

    Pando Sestakoff und seine Frau Yoanna steigen in Besiktas aus. Jeden Tag passieren sie die Drehkreuze an der Anlegestelle und mischen sich unter die Menschenmenge am Hafen.

    "Wir wohnen zwar weiter weg in Yesilköy, aber unser Leben spielt sich hier in Besiktas ab. Wir kommen morgens her und kehren abends wieder nach Hause zurück, nur zum Schlafen. Hier haben wir viele Freunde, Bekannte und fühlen uns wohl.” "

    Yoanna und Pando betreiben ein kleines Frühstückslädchen in Besiktas, nur wenige Meter vom Hafen entfernt. Schon morgens stehen Kunden Schlange und verlangen nach der Spezialität des Hauses: nach Kaymak, feinem Rahm, ähnlich der englischen Clotted Cream, geschlagen nach einem mehr als hundertjährigen Rezept. Die Anwältin Ayla Parlan kommt regelmäßig vor ihrer Arbeit zum Frühstück vorbei.

    ""Weil ich mich hier so gut entspanne. Der Rahm, der Honig, aber auch das Brot schmeckt mir hier besser, vielleicht weil die Atmosphäre so schön ist. Ich fühle mich wie im Haus meiner Oma, so authentisch ist es. Hier wird nicht nur auf den Umsatz geschaut, sondern es überwiegt das Freundliche. Das gefällt mir sehr.”"

    Seit rund 115 Jahren gibt es das Geschäft schon - seitdem fast unverändert. Vier kleine Tische laden zum Verweilen ein, an der Wand hängen alte Fotos. In der schlichten, kleinen Glasvitrine des Schaufensters stapeln sich ein paar Gläser Honig, daneben ein Blech mit aufgerolltem, stichfestem Rahm. Pando Sestakoff greift hinter seiner marmornen Verkaufstheke nach einer der Rollen und wiegt sie auf der alten mechanischen Waage ab. Der 83-Jährige hat den Familienbetrieb von seinem Vater übernommen:

    ""Ich war klein und da hatten wir noch eine Pferdekutsche und einen Angestellten, der im Bezirk Milch und Joghurt ausfuhr. Wir stellten auch Butter und Schlagrahm her und belieferten den Sultanspalast. Den Laden gibt es aber schon seit Großvaters Zeiten. Der kam aus Mazedonien her und ließ sich hier nieder; noch in der Zeit des Osmanischen Reichs."

    Nicht nur Sultane ließen sich den Rahm der christlichen Sestakoffs aus Mazedonien schmecken. Scheichs aus Dubai schicken heute noch Gesandte und bestellen kiloweise Pandos Kaymak. Die sahnige Crème aus reiner Büffelmilch lockte sogar schon Feinschmecker aus Übersee nach Besiktas, erzählt der weißhaarige Pando mit verschmitztem Blick:

    "Letztes Jahr kamen 30 amerikanische Köchinnen und wollten von mir wissen, wie ich so sahnigen Rahm herstelle. Sie haben sich umgeschaut, ein paar Notizen gemacht. Aber nein, nein, den Clou des Rezepts behalte ich für mich.”"

    Den meisten seiner Kunden ist das Rezept unwichtig: Sie wollen die Köstlichkeit nur genießen. Am liebsten mit Honig und frisch gebackenem Weißbrot. Sestakoffs Frau Yoanna serviert auf Wunsch Spiegeleier in der Pfanne, dazu reicht die 78-Jährige frisch gebrühten Tee. Auch wenn es mit zunehmendem Alter beschwerlicher wird: Jeden Tag stehen die Eheleute ausdauernd hinter der Theke. Pando kümmert sich um jeden Gast persönlich, erzählt Anekdoten und nimmt sich gerne Zeit für kleine Aufmerksamkeiten:

    ""Am Muttertag zum Beispiel verteile ich kleine Karten: 'Meister Pando gratuliert Euch zu Eurem Tag!' steht darauf. Außerdem schenke ich auch jeder Mutter eine Rose. Dasselbe mache ich am Vatertag für die Väter. Das gefällt den Leuten. Und mich freut es auch!"

    Die angenehme Atmosphäre, den leckeren Rahm, und speziell Schüler und Studenten schätzen bei Sahnemeister Pando auch noch die Preise. Für einen Frühstücksteller mit allem drum und dran müssen sie umgerechnet gerade mal vier Euro aus ihrem Portemonnaie zücken. Yoanna Sestakoff freut sich über die jungen Kunden. Ist einer besonders knapp bei Kasse, schlägt sie ihm gerne auch mal ein Ei mehr in die Pfanne, ohne es zu berechnen.

    "Wir mögen alle unsere Kunden. besonders auch die Jugendlichen. Sie sind meist voller Respekt uns gegenüber, obwohl man ja oft das Gegenteil von ihnen behauptet. Sie schätzen und achten uns und machen uns damit eine große Freude."

    In Besiktas spürt man, wie jung Istanbul ist. Zwei Drittel der Großstädter sind unter 35. Hier im Bezirk gibt es besonders viele von ihnen, denn Studenten finden für Istanbuler Verhältnisse noch relativ preisgünstig eine Wohnung. Auch Schüler kommen vermehrt aus anderen Stadtteilen nach Besiktas, meist wegen der "Dershanes", der privaten Nachhilfeschulen. Erkan Kazdag ist einer von ihnen:

    "Ohne Dershane ist es schwer auf die Uni zu kommen, da müsste man zu Hause büffeln wie sonst was. Man könnte nur aus Büchern lernen, nicht in der Gruppe und ich hätte auch keine Probetests. Wir arbeiten die Tests durch, die in den letzten Jahren zur Universitätsprüfung drankamen."

    In der Türkei bedeutet die zentrale Aufnahmeprüfung zur Universität eine reine Tortur für die Studienbewerber. 180 Fragen zu verschiedenen Themen müssen sie beim landesweiten Hochschultest beantworten. Einen begehrten Platz ergattert pro Jahr etwa nur ein Viertel der Bewerber. Die Mädchen Selin und Irmak pauken ordentlich für ihr Ziel.

    "Mathe, Geografie, Geschichte, alles außer Sprachen. Wir haben immer am Wochenende Unterricht von mittags bis 19 Uhr. Die Chance auf einen Studienplatz wäre gleich null, würden wir nicht zur Dershane gehen."

    Insgesamt 20 private Nachhilfeschulen gibt es in Besiktas. Der Großteil bereitet Abiturienten ein Jahr lang auf die Universitätsprüfung vor, aber es gibt es auch Angebote für Grundschüler. Sie bekommen Nachhilfe, damit ihnen der Schritt aufs Gymnasium gelingt. Osman Seker fährt für den Unterricht gut eine Stunde bis nach Besiktas.

    "Wenn ich nicht hier zur Dershane gehen würde, dann hätte ich Probleme, die Tests in der Schule zu bestehen. Deshalb fahre ich von Sariyer bis hierher. Jetzt bin ich der Beste in der Schule, weil ich hierher komme. Bei uns in der Klasse gehen ganz wenige zur Dershane und nur die sind gut in der Schule. Die anderen wollen nicht weiterkommen."

    Mittagszeit in Besiktas. Die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht. Es ist kurz nach zwölf Uhr, und der Muezzin ruft zum Mittagsgebet. Gemächlich finden sich Gläubige in der kleinen Tuzlu Baba Moschee ein. Durch die grünen Fenster der Moschee fällt Sonnenlicht und lässt die Kristalle der Kronleuchter glitzern. Seitlich am Gebetssaal vorbei führt eine kleine Stiege zur Wohnung von Büsra Yildirim. Die 33-Jährige hat ihr Mittagsgebet heute bei sich zu Hause verrichtet. Vor 15 Jahren kam sie als Braut nach Istanbul. Seitdem lebt sie an der Seite ihres Mannes, als Frau des Hocas, im oberen Stockwerk des Gotteshauses.


    "Es ist etwas sehr Ungewöhnliches, in einer Moschee zu wohnen. Ich lebe hier sehr mit dem Geistigen verbunden und ich glaube, dass ich auch meine Religion besser ausüben kann. Ich kann fünfmal am Tag beten. Außerdem habe ich nie Angst hier, auch wenn mein Mann mal weg ist. Ich fühle mich immer beschützt. Auch meine Kinder wachsen im Schutz der Gebete auf."

    Die Mutter dreier Töchter zupft ihr bronzefarbenes Kopftuch zurecht, eng trägt sie es um ihren Kopf gewunden- modebewusst nach neuestem islamischen Chic. Auch in ihrer geräumigen Wohnung verbindet Büsra Yildirim gerne Tradition mit Moderne. Im Wohnzimmer steht ein Hometrainer, an der Wand dahinter hängen Koranverse. Sie trainiert regelmäßig, behauptet sie, doch auch mit ihrer Religion hält sie sich fit.

    "Wenn wir uns zum Beten niederknien ist das wie Sport. Am Ende der Gebetsreihe müssen wir unseren Kopf nach rechts und links drehen. So bleibt der Nacken geschmeidig. Bei allein fünf Gebeten am Tag sind es insgesamt schon 40 Körperbewegungen. Das hält gesund!"

    Büsra Yildirim pflegt nicht nur ihren eigenen Körper und Geist, sie kümmert sich ebenso um das Wohl ihrer Gemeinde in Besiktas. Als Frau des Hocas fallen ihr Aufgaben zu, die sie rund um die Uhr beschäftigen. Regelmäßig besucht die quirlige Frau ältere Damen in ihrer Umgebung, spricht mit ihnen ihre Gebete, unterhält sie und kocht ihnen Suppe. Auch in der Moschee hat sie immer ein offenes Ohr für die Gläubigen.

    "Es ist nicht immer leicht, die Frau des Hocas zu sein. Immer haben wir Besuch. Die Menschen kommen mit ihren Problemen zu uns. Und wenn mein Mann nicht da ist, versuche ich den Fragenden Rat zu geben. Wir kümmern uns um die religiösen Belange der Menschen wie auch um die psychischen."

    Für viele der Bewohner Besiktas' ist alleine schon die Tuzlu Baba Moschee ein heilender Ort. Sie ist nach einem ehemaligen Soldaten benannt, der später nur noch "Tuzlu Baba", Väterchen Salz gerufen wurde. Dieser Soldat soll seinem Heer in Kriegszeiten Heil gebracht haben, indem er wie durch ein Wunder den knappen Salzvorrat auffüllte. Der damalige Sultan erfuhr davon und ließ im Jahre 1490 ihm zu Ehren die Moschee errichten. Büsra Yildirim kennt die Legende.

    "Der Soldat war sehr gläubig, so lebte er als Hoca in dieser Moschee bis zu seinem Tod, und noch immer wird sein Leichnam in einem Sarkophag hier aufbewahrt und geehrt. So kommen die Leute her und streuen als Ritual Salz vor unsere Moschee, zu Ehren von Väterchen Salz."

    Auf einem kleinen Marmorpodest vor der Moschee häuft sich das Salz in kleinen Türmchen. Immer wieder bleiben Gläubige auf ihrem Weg an der Moschee vorbei stehen, stippen ihren Finger in das Salz und stecken ihn in den Mund. Sie alle erhoffen sich Gesundheit und Segen von ihrer Tat.
    Der Frau des Hocas wäre es anders lieber:

    "Anstelle, dass die Leute Salz vor die Moschee streuen, wäre es sinnvoller, wenn sie Ihr Geld unserem Gotteshaus spenden würden. Denn so wird der Marmor vor der Tuzlu Baba Camii beschädigt, und zugleich müssen wir das Salz einsammeln, was noch in Tüten ist und wieder verkaufen, um das Geld der Moschee zukommen zu lassen."

    So alltäglich diese kleinen Rituale in Besiktas sind, so verborgen bleiben sie den Touristen, die täglich nach Istanbul strömen. Rund fünf Millionen kommen pro Jahr, doch kaum einer von ihnen dringt weiter nach Besiktas vor als bis zum prunkvollen Dolmabahce-Saray. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er erbaut, traumhaft gelegen am Ufer des Bosporus mit weitem Blick über das Meer, mit 300 Räumen einst Wohnstatt für osmanische Sultane, geschichtsträchtiges Sinnbild pompöser Machtentfaltung. Dicht gedrängt schieben sich die Besucher durch den Saray. Mit rosafarbenen Plastiküberziehern an den Schuhen schlurfen sie über das Parkett, vorbei an 60-armigen englischen Kristallleuchtern, silbernen Uhren aus Österreich, iranischen Teppichen, neo-barocken Balustraden. Mehr als ein flüchtiger Blick auf den verschwenderischen Luxus ist dabei kaum möglich, denn im Minutentakt werden die Gruppen durch den Palast geschleust. Türkische Besucher zieht es auf der Besichtigungstour besonders zu einem Raum im Obergeschoss des früheren Harems.

    "Mustafa Kemal Atatürk starb hier im Dolmabahce-Saray. Als Gründer der Türkischen Republik schaffte er das Kalifat ab und entmachtete den damaligen osmanischen Sultan. Dessen Palast erwählte er zu seiner Sommer-Residenz."
    "Unser majestätischer Anführer Atatürk. Wir sind sehr stolz darauf. Und ich hätte gerne zu der Zeit gelebt und ihn gesehen. Wenn es eine Zeitmaschine gäbe, dann würde ich gerne zurückreisen, um ihn kennenzulernen","

    sagt ein 35-jähriger Mann aus Besiktas. Auch wenn er die Zeit nicht zurückdrehen kann - im Dolmabahce-Palast scheint sie angehalten: Die Uhr in Atatürks Sterbezimmer steht noch immer auf fünf nach neun, seit dem Morgen seines Todes am 10. November 1938. 70 Jahre später prägt die Gestalt Mustafa Kemal Atatürks nach wie vor einen Teil des Bezirks. Die stets verstopfte Hauptstraße, die Besiktas von West nach Ost durchschneidet, säumen meterhohe Schwarz-Weiß-Fotografien. Wer ihnen zum Zentrum folgt, kann einen weiteren Mustafa kennenlernen. Der herrscht über ein ganz anderes Reich, getaucht in grünes, blaues und rotes Licht. Mustafa Soydan betreibt in einem Shoppingcenter ein öffentliches WC: nicht irgendeines, wie schon seine Visitenkarte klarmacht. Sie zeigt den bärtigen Mann mit akkurat gezogenem Seitenscheitel in dunkelgrauem Anzug und blauer Krawatte und weist ihn aus als "Altun Tuvalet-Kral", als "König der goldenen Toilette".

    ""Sauberkeit, Schönheit, das liebe ich. Viele arbeiten hier nicht, weil sie denken, bei den WCs zu arbeiten ist peinlich. Dabei ist das Unsinn!"

    Die Wasserhähne der goldenen Toilette sind zwar nur aus Messing, doch dafür hat Mustafa Soydan auf der Herrentoilette Schamwände aus Marmor eingebaut. Marmorn sind auch Waschtische und Ablagen bei Herren und Damen. Den kleinen Vorraum zieren bunte Plastikblumen, in blank geputzten Regalen reihen sich Seifen und Zahnpastatuben aneinander.
    Stammkunden nehmen auf einem der geblümten Sessel Platz, ihnen reicht Mustafa auch mal einen schwarzen Tee oder eine Tasse Mokka. Der Toilettenpächter hat sich an seinem Arbeitsplatz mehr oder weniger häuslich eingerichtet.

    "Ich schlafe hier ein und stehe hier auf. Das hier sind mein Bett und meine Decke. Seit 23 Jahren bin ich hier. Das ist meine Herberge in meinem Leben und wenn ich sterbe, dann wartet schon ein Grab in meinem Dorf auf mich."

    Der selbst ernannte König widmet sich mit exzentrischer Hingabe der Toilettenpflege. Das hat sich sogar bis zu türkischen Auswanderern herumgesprochen. Wenn sie zum Urlaub nach Istanbul kommen, besuchen viele aus reiner Neugier die wunderliche Bedürfnisanstalt.

    "Viele Auswanderer kommen her: aus Jugoslawien, aus Deutschland. Heute waren gerade vier, fünf Frauen da. Ich habe auch ein Gästebuch, in das sie sich eintragen können. 25 sind schon voll. Aus Amerika, Belgien und Holland waren schon welche da. Und sie haben Fotos gemacht und sie mir geschickt, weil es Ihnen so gefallen hat. Vor Rührung habe ich da geweint."

    Kein Zweifel, Mustafa Soydan ist bekannt wie ein bunter Hund. Das kann auch Sabahattin Cayir von sich behaupten. Dem korpulenten Gastronom mit dem schmalen Oberlippenbart gehört um die Ecke ein kleines Restaurant.

    "Einmal lief ich in München spazieren, und da rief jemand hinter mir her: 'Du aus Besiktas!' Ich dachte, oh träume ich oder was. Sogar dort hat man mich erkannt als Händler aus Besiktas."

    Mag sein, dass das tatsächlich etwas mit den Speisen zutun hat, die er in allen Varianten serviert: Köfte, Hackfleischbällchen - gebraten, gegrillt, mild oder feurig scharf. Doch vielleicht verdankt der Gastwirt seine Berühmtheit auch eher einer anderen Leidenschaft: Fußball. Sabahattin Cayir ist Fan solange er denken kann. Wer in Besiktas aufwächst kann gar nicht anders. Denn der hiesige Verein ist einer der drei Istanbuler Clubs von internationaler Klasse. Und der älteste türkische noch dazu. Sabahattin hat seinen Köfte-Laden in ein kleines Museum für den zwölffachen Landesmeister verwandelt.

    "Schon in der Grundschule habe ich mit dem Sammeln angefangen. So viele Bilder wie ich hat niemand. Die gibt es nicht mal im Fußballclub. Ich bin ein Besiktas Verliebter. Erst kommt natürlich Allah, aber gleich danach kommt Besiktas!"

    Die Wände sind übersät mit nostalgischen Aufnahmen und Hochglanz-Fotos, Zeitungsausschnitten und Fußballer-Porträts. Auch neben Grillspieß und Salattheke hängen Bilder, jedes einzeln gerahmt. Kein Wunder, dass auch die familiären Bande unter besonderen Vorzeichen stehen:

    "Ich habe auch Kinder: zwei Töchter. Sie sind alle für Besiktas, auch meine Frau, meine Schwiegersöhne sowieso. Wenn sie nicht für Besiktas gewesen wären, dann hätte ich Ihnen meine Töchter nicht gegeben. Glauben Sie mir! Sie hätten sie entführen müssen!"

    Fußballbegeisterung und Lokalpatriotismus - beides nicht schwer zu finden in der lebhaften Fußgängerzone von Besiktas. Am Eingang des Köfte-Ladens breitet ein goldener Adler aus Plastik seine Schwingen aus. Mitten auf dem kleinen Marktplatz thront stolz die Bronzeskulptur eines Adlers: Symbol für Club und Bezirk.

    "Könnte ich für ein anderes Team sein? Es ist das Herz des Volkes. Am Matchtag ist hier alles voll und wimmelt vor Leuten. Es ist das Herz der Leute."

    Und wie viele von ihnen hat auch dieser Mann nicht nur ein Herz für Fußball, sondern auch eine Schwäche für eingelegtes Gemüse. Das kauft er am Liebsten bei Murat Ögretmen. Murat Ögretmen steht hinter einer Theke und schneidet mit einem großen Messer geschickt Möhren, Weißkohl und grüne Tomaten in kleine Stücke. Mit einem Wisch schiebt er das Gemüse in eine Tüte, hinzu gießt er rötlich gefärbtes Essigwasser. Der 35-Jährige ist Tursucu: Er handelt mit selbst eingelegtem Gemüse.

    "Ich liebe meinen Beruf, weil es eine alte osmanische Tradition ist. Ich bin stolz, dass ich dieses hunderte von Jahren alte Handwerk weiterführen kann. Und Ich freue mich, wenn Kunden kommen und sie sagen: 'Ich liebe Ihr Tursu, es schmeckt besonders und Ihr Laden ist so schön'."

    An den Wänden von Ögretmens kleinem Geschäft ziehen sich Regale vom Boden hoch bis zur Decke. In ihnen reihen sich Einweckgläser aneinander, gefüllt mit Gemüse und Früchten in sämtlichen Farben: Orangen, Datteln, rote Pflaumen, grüne Peperoni, gelbe Kartoffeln. Aus mehr als 30 Sorten Tursu können Kunden wählen. Viele essen das Gemüse anstelle von Salat oder als Beilage zu Reis und Bohnen, andere wie Adnan Sükrü haben beim Verzehr noch Weiteres im Sinn:

    "Es ist gut gegen Krebs und macht auch Appetit. Außer dass es einfach lecker ist, stärkt es den Körper und tut gut! Wenn sie dazu noch in die Sauna gehen, davor zwei Gläser des Tursuwassers trinken und Tursu essen, dann bleiben sie gesund und es fegt jede Erkältung weg."

    Der kleine Laden ist fast immer voll. Und die Kunden wissen die Qualität aus Murat Ögretmens Familienbetrieb zu schätzen. Das Gemüse kommt von eigenen Feldern und wird mit Essig, Knoblauch und Wasser eingelegt, ohne weitere Zusatzstoffe. In vierter Generation folgt er dabei dem Originalrezept seines Urgroßvaters.

    "Wir haben angefangen als Großhändler und haben mit eingelegten Weinblättern und Gemüse gehandelt, es nach Übersee, auch nach Amerika, verschifft. In den 30er-Jahren war das. Aber als dann der Drogenschmuggel begann, wurden die Fässer mit dem Gemüse zur Kontrolle geöffnet, und die Ware ist schnell verdorben. Seitdem sind wir nur noch im Einzelhandel tätig."

    Einst als Großfamilie bewirtschafteten die Ögretmens zwei Läden in Istanbul. Jetzt führen nur noch Murat Ögretmen und sein Bruder das Handwerk fort. Bewusst haben sich die beiden für den Erhalt ihres Ladens in Besiktas entschieden. Hier sind sie geboren, hier schlägt ihr Fußballerherz.

    "Wir lieben Besiktas. Wenn ein Spiel ist, dann ist es auch für uns gut. Dann ist der Verkauf zweimal so stark. Und das ist super! Auf der Straße feiern sie, feuern unsere Mannschaft an, und wir freuen uns, wenn unser Team gewinnt. So ist es finanziell wie emotional eine tolle Sache für uns, wenn Besiktas spielt."

    So wie an diesem Abend. Besiktas gegen Hacettepespor aus Ankara.
    Ein schwaches Spiel, doch die Besiktas-Anhänger sind stark bei Stimme. In schwarz-weißen Schals, Trikots und Narrenkappen feuern sie ihre Mannschaft an, zwei Einheizer dirigieren die Fanchöre. Statt Bier gibt es im Inönü-Stadion übrigens Tee und Ayran, das typisch türkische Joghurtgetränk. Als am Ende mit Mühe ein 2:1 erreicht ist, sind die Fans trotzdem selig und haben wieder einen Grund mehr für eine Hymne auf Besiktas.