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Ein fröhliches Begräbnis

Die russisch-jüdische Emigrantenszene in New York hat Ljudmila Ulitzkaja in diesem Roman portraitiert. Es sind Emigranten der sogenannten "dritten Generation", die unter Breschnew die Sowjetunion verließen: Oppositionelle oder aus Künstlerkreisen zumeist, darunter viele Juden. Ljudmila Ulitzkaja ist Moskauerin geblieben, regelmäßig besucht sie ihre beiden Söhne in Amerika. "Ich habe nie mehr als 6 Wochen in New York verbracht, das allerdings schon seit 12 Jahren", erzählt Ljudmila Ulitzkaja. "Ich kenne es also nur aus diesen kurzen Besuchen, die sich aber über einen sehr langen Zeitraum erstrecken, so daß ich da vielleicht nicht so tiefgründige Kenntnisse habe. Aber das Leben in New York und die Veränderungen habe ich gut beobachten können."

Marie Wildermann |
    Die russisch-jüdischen Emigranten, von denen das Buch handelt, sind nicht-religiös, oder wenn, dann nicht jüdischen Glaubens, sondern russisch-orthodox, wie Ulitzkaja selbst, die sich als christliche Jüdin versteht. Ihr Romanheld Alik, ein Maler, ist Atheist. Handlungsort: sein Atelier in New York. Der unheilbar Kranke liegt fast gelähmt in seinem Bett, bekommt Morphiumspritzen gegen die Schmerzen. Nur sein Geist ist noch klar und schlagfertig wie immer. Eine skurrile, groteske Situation: Freunde und Bekannte kommen und gehen oder nächtigen auf dem Fußboden im Atelier. Mehrere Frauen sind fast ununterbrochen um ihn: Schwitzend, halbnackt bewegen sie sich in den Räumen, denn es ist heiß, und die Klimaanlage funktioniert nicht. Sie trinken Wodka, hören Musik oder beraten sich mit denen, die vorbeischauen, um nach Alik zu sehen. Darunter zwei Ärzte, der eine mit ärztlicher Zulassung und einem Haufen Schulden, der andere ohne Zulassung und wenig Aussicht auf Integration in das amerikanische Berufsleben. Ulitzkaja läßt ihn über die Mentalität Amerikas sinnieren: "Dieses Land verabscheute das Leiden, lehnte es grundsätzlich ab und akzeptierte es nur als Einzelfall, der unverzüglich behoben werden mußte. Die junge Nation, die das Leiden negierte, hatte ganze Schulen entwickelt, philosophische, psychologische und medizinische, die nur eine einzige Aufgabe hatten: dem Menschen um jeden Preis das Leiden zu ersparen. (...) Das Land, aus dem er stammte, liebte und schätzte das Leiden, nährte sich sogar davon; durch Leiden wächst der Mensch, wird er erwachsen und klüger."

    Von solchen Anschauungen hatte Alik sich immer distanziert. Er liebte Amerika und hatte sich schnell etabliert in der Neuen Welt und es geschafft, über 20 Jahre lang von seiner künstlerischen Arbeit zu leben, wenngleich seine Reserven nun von der Krankheit völlig aufgezehrt waren. Die letzten Mieten hatte er schon nicht mehr zahlen können. Seine Freunde beginnen für ihn zu sammeln, während die Frauen den Sterbenden bedienen und versorgen: seine Ehefrau, die Tochter aus früherer Beziehung und drei Ex-Geliebte - scheinbar einträchtig nebeneinander. Doch unter der Oberfläche brodeln die Leidenschaften. Stoff für ein Drama, doch Ljudmila Ulitzkaja macht daraus eine heiter-ironische Groteske.

    Da ist Ehefrau Nina, schön, weltfremd und alkoholkrank. Ihr Vater, ein hoher KGB-Funktionär, hatte jeden Kontakt zu ihr abgebrochen, nachdem sie die Sowjetunion verließ, um dem untreuen Ehemann Alik nach Amerika zu folgen. Nina ist auf dem Religionstrip und überzeugt, nur die Taufe könne Alik noch retten. Ex-Freundin Irina ist erfolgreiche Anwältin. Früher war sie Zirkusartistin, nach einem Gastspiel blieb sie in Amerika, traf Alik, wurde nach kurzer Affäre von ihm schwanger und räumte das Feld, als Ehefrau Nina aus Moskau anreiste. Noch immer unterstützt sie Alik, juristisch und finanziell. Und dann ist da noch Ex-Freundin Nummer zwei, die füllige Ukrainerin Valentina. In der Sowjetunion hatte sie sich unglücklich in einen Dissidenten verliebt. Doch dann lernt sie einen amerikanischen Homosexuellen kennen, heiratet den und geht 1981 in die USA. Ihr erstes Verhältnis in der Neuen Welt ist das mit Alik.

    Frauen-Biografien, die um Alik kreisen wie um den Mittelpunkt der Welt. Ljudmila Ulitzkaja beschreibt ihre Lebensläufe und Handlungsmotive mit Witz, Ironie und Distanz. Alle sind sie sowjetisch-russisch sozialisiert, das heißt der Mann, der Partner, ist das Zentrum ihres Denkens. Alik wird von der Erzählerin ausschließlich mit positiven Eigenschaften bedacht: Intelligenz, Charme, Talent und Schlagfertigkeit. Ist das mangelnde Reflexion der Autorin oder Rücksicht auf einen Sterbenden? Nicht Alik gebärdete sich wie ein Patriarch, die Frauen waren es, die bereitwillig diese Position bedienten. Auch diese Deutung läßt der Text zu. Dennoch sind die Frauen hier selbstbewußter als in Ulitzkajas früheren Werken. In der Erzählung "Sonecka" beispielsweise ging die Bescheidenheit der Hauptfigur fast bis zur Selbstaufgabe, weil sie das Leben anderer für wichtiger erachtete als das eigene. Eine sprachgewaltige Erzählung, für die die Autorin in Frankreich den Prix Mèdicis erhielt.

    Doch zurück zu den Exil-Russen in New York. Während der Maler Alik im Sterben liegt, sitzen seine Gäste gebannt vor dem Fernseher und verfolgen den Putsch gegen Gorbatschow in Moskau. Die letzten Regungen des alten Sowjetregimes. Das fröhliche Begräbnis eines diktatorischen Systems. Es liegt nahe, das Buch auch politisch zu verstehen, stammt doch der Titel aus der Feder eines sehr bekannten oppositionellen Liedermachers. "Das ist ein Zitat aus einem Lied von Bulat Okudschawa über den Märzschnee", so Ljudmila Ulitzkaja. "Da gibt es einen Satz, der lautet: Es stirbt der Märzschnee und wir veranstalten für ihn ein fröhliches Begräbnis. Das Buch hatte vorher einen anderen Titel "Moskva - Kaluga - Los Andzelos; das ist auch der Titel der russischen Originalausgabe. Ein Zitat aus einem Schlager aus den 50er Jahren, der St. Louis-Blues wurde mit einem russischen Text versehen. Eine Persiflage, die ersten beiden Zeilen lauteten: Moskau-Kaluga-Los Angelos haben sich vereinigt zu einem Kolchos. Dieses Zitat ist natürlich im Westen so nicht zu verstehen, deswegen mußte ein anderer Titel gefunden werden."

    Ein fröhliches Begräbnis hatte sich auch Alik gewünscht für seine Beerdigung: keine pathetischen Gedenkreden und sentimentalen Erinnerungen. Bei Wodka und russischem Essen sitzt man nach der Beisetzung im Atelier des Verstorbenen, geldgierige Galeristen laufen umher, und der Vermieter taucht auf mit der Wohnungskündigung. Aus einem Kassettenrecorder kommt Aliks Vermächtnis an die Gäste und Freunde: Man möge fröhlich sein, anstoßen auf ihn, daß er alle liebe und so weiter. Die Alternative zu sonst üblichen Abschiedsreden ist kläglich, belanglos. Es scheint, als wolle Alik an das selbst auferlegte Motto erinnern: Alles Schwere ist aufgehoben in der Neuen Welt. Die Gesetze von Leid und Tragik des alten Sowjetrußland sollen hier nicht gelten. Bloß nichts zu ernst nehmen, schon gar nicht den Tod.

    Es bleibt am Ende die geheimnisvolle Frage: Werden wir ein anderer, wenn wir in einem anderen Land, in einer anderen Kultur leben?