"Ich sehe dich im Garten, wo die aufgehängten Stoffwindeln wie ein Banner wehen, drei Bäume einen dichten Forest darstellen und ein gestapelter Reifenturm ragt, auf dem die Wächter schlafen. Glaub mir, präziser wirst du keine Reichweite jemals abschätzen können als mit diesem Bogen in der Hand: ein Haselnussstecken, die Sehne aus Paketschnur gespannt. Und ruhiger wird eine Bestimmtheit nie werden als jetzt, da du aus dem Köcher einer alten Plakatrolle einen Schilfpfeil hervorziehst, der eine Holunderspitze hat und mittig einen leichten Knick. Und genauer wird kein Ziel je anvisierbar sein, und sei es nur das unmerkliche Pendeln des Wäscheklammerbeutels, der Bannkreis des Katzenlochs in einem Scheunentor, die Luftmasche um ein einzelnes Ahornblatt."
Das Du ist ja eine Erinnerung und ist eigentlich das lyrische Ich, oder?
"Das ist das Schöne an Gedichten, dass man sich selber noch nachträglich etwas zusagen kann, dem Kind das man war, noch etwas mitteilen kann, das es vielleicht auf seinem künftigen Lebensweg brauchen könnte, ein ganz verquerer Zeitbegriff, der in so einem Gedicht steckt."
Dadurch wird auch die Zeit im Gedicht gedehnt, es ist alles angehalten.
"Es sind, wie in der Poesie immer so Schnittpunkte von allen drei Zeiten: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die sich in einem Bild schneiden oder berühren. Günther Grass hat mal dafür einen Begriff geprägt, die Vergegenkunft, der ist mir im Gedächtnis geblieben."
Mir kommt es ja so vor, wie wenn im Kleinen nicht nur das Kleine beschrieben wird, sondern eigentlich auch das Große liegt.
"Beim Gedichteschreiben hat man immer die Lupe und das Fernrohr, diese beiden Blickwinkel, hat man immer, wenn man einen Gegenstand sieht, wenn man ihn aus der Ferne sieht, so genau wie möglich möchte man ihn erkennen. Das Poetische erschließt sich, wenn man ein Detail, eine Einzelheit findet, die für das Ganze spricht. Da muss man genau hinschauen, um eben so winzige Sachen zu sehen und unterm poetischen Mikroskop, unter der Lupe, werden sie größer, wie sie eigentlich sind. Es hat immer mit Genauigkeit zu tun, die man erreichen möchte."
Zur Genauigkeit gehört auch, dass die Prosagedichte musikalisch komponiert sind. Sie setzen oft beiläufig ein, kristallisieren sich um einen dramatischen Kernsatz und verdichten sich zu Bildern, die sich auftürmen. "Kartenschrieb" heißt zum Beispiel eine poetische Postkarte, die mit einer Verortung einsetzt: "Küstennebel, Dahmeshöved", ein Ort, der für sich spricht und sicher an einem nördlichen Meer liegt.
"Küstennebel, Dahmeshöved. Die Häuser ducken sich unter den Windstärken hinweg. Ich weiß nunmehr, dass durch ein kleinerwerdendes Boot das Meer noch größer wird. Dass von vier Schnapsgläsern eines mit Wasser gefüllt ist. Dass auch ein Himmel seine Untiefen hat. Und ein jeglicher Leuchtturm seine eigene Lichtkennung."
Oft erscheinen mir die Gedichte wie eine poetische Sammlertätigkeit. Wie jemand der Schmetterlinge sammelt, aber sie nicht tötet, sondern aufschreibt.
"Das Sammeln: Eigentlich möchte man immer nur hinweisen, benennen, nur etwas aufzählen, ohne zu belehren, ohne zu erklären. Das richtige Sehen, damit hat es zu tun, diese besondere Art von Sehen führt zu Genauigkeit, und die ist immer eine poetische Kategorie.
Ich hab manchmal den Eindruck, dass es zwei Arten von Autoren gibt, die einen schreiben über 'fast nichts' und die anderen können über alles schreiben. Und ich tendiere zu denen, die immer nur mit dem 'fast nichts' auskommen müssen, mit einer Kleinigkeit, einer Winzigkeit, und sich daran entzünden an diesem Kleinen. So ein programmatisches Prosagedicht umkreist dies:
Nichts, nur
Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht. Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab. Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt."
Walle Sayer ist 1960 in Bierlingen im Kreis Tübingen geboren und lebt seither nicht weit von seinem Geburtsort entfernt. Er ist also einer der äußerlich nicht weit herum kam, der aber dafür um einen umso ausgedehnteren poetischen Radius verfügt und er verwendet auch schwäbische Wörter. Ein Wort wie "Schlamperladen" zum Beispiel. Solch ein Wort hat nicht nur einen poetischen Hof, sondern auch eine magnetische Kraft, die ein Gedicht zu sich heranzieht.
"Es gehört auch zur Sammlertätigkeit, dass man die alten Worte aufheben und sie bewahren möchte, dass sie noch eine Funktion haben. Im Gegenteil. Es gibt dann meistens nichts adäquat anderes als dies schwäbisch eingefärbte Wort. Das Schöne an solchen Worten ist, dass sie eine klangliche Dimension haben und von ganz weit her kommen, da tun sich poetische Räume auf, dadurch, dass man so ein Wort anschlägt. Die Illusion, die man hat, wenn man Gedichte schreibt, ist, dass man etwas aufbewahren kann im Gedicht, so ähnlich wie ein Bernstein, wo das Gedicht dann drin ist und da kann es überdauern, ohne dass es vergessen wird.
Schlamperladen
Unerledigtes, zum Schutzwall aufgestapelt. Nach dem Debakel, vor dem Desaster. Die Ordner sind das allersicherste Versteck. Nichts durchnummeriert. Die Fehltage fehlen. Lauter Sicherungskopien von weißen Seiten. Ein derart gutes Namensgedächtnis, dass es sich keine Zahlen merken kann. Ausnahmen, zu denen es keine Regel gibt. Ein krankgeschriebener Krankenkontrolleur. Der Weltatlas als Blumenpresse in Gebrauch. Und dann noch: Augenblick an Immerdar. Aber nirgends Luftbuchungsbelege."
Der Lyriker Walle Sayer und sein neuer Band mit Prosagedichten "Kerngehäuse – Eine Innenansicht des Wesentlichen" erschienen im Verlag Klöpfer & Meyer Tübingen. (2009)
Das Du ist ja eine Erinnerung und ist eigentlich das lyrische Ich, oder?
"Das ist das Schöne an Gedichten, dass man sich selber noch nachträglich etwas zusagen kann, dem Kind das man war, noch etwas mitteilen kann, das es vielleicht auf seinem künftigen Lebensweg brauchen könnte, ein ganz verquerer Zeitbegriff, der in so einem Gedicht steckt."
Dadurch wird auch die Zeit im Gedicht gedehnt, es ist alles angehalten.
"Es sind, wie in der Poesie immer so Schnittpunkte von allen drei Zeiten: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die sich in einem Bild schneiden oder berühren. Günther Grass hat mal dafür einen Begriff geprägt, die Vergegenkunft, der ist mir im Gedächtnis geblieben."
Mir kommt es ja so vor, wie wenn im Kleinen nicht nur das Kleine beschrieben wird, sondern eigentlich auch das Große liegt.
"Beim Gedichteschreiben hat man immer die Lupe und das Fernrohr, diese beiden Blickwinkel, hat man immer, wenn man einen Gegenstand sieht, wenn man ihn aus der Ferne sieht, so genau wie möglich möchte man ihn erkennen. Das Poetische erschließt sich, wenn man ein Detail, eine Einzelheit findet, die für das Ganze spricht. Da muss man genau hinschauen, um eben so winzige Sachen zu sehen und unterm poetischen Mikroskop, unter der Lupe, werden sie größer, wie sie eigentlich sind. Es hat immer mit Genauigkeit zu tun, die man erreichen möchte."
Zur Genauigkeit gehört auch, dass die Prosagedichte musikalisch komponiert sind. Sie setzen oft beiläufig ein, kristallisieren sich um einen dramatischen Kernsatz und verdichten sich zu Bildern, die sich auftürmen. "Kartenschrieb" heißt zum Beispiel eine poetische Postkarte, die mit einer Verortung einsetzt: "Küstennebel, Dahmeshöved", ein Ort, der für sich spricht und sicher an einem nördlichen Meer liegt.
"Küstennebel, Dahmeshöved. Die Häuser ducken sich unter den Windstärken hinweg. Ich weiß nunmehr, dass durch ein kleinerwerdendes Boot das Meer noch größer wird. Dass von vier Schnapsgläsern eines mit Wasser gefüllt ist. Dass auch ein Himmel seine Untiefen hat. Und ein jeglicher Leuchtturm seine eigene Lichtkennung."
Oft erscheinen mir die Gedichte wie eine poetische Sammlertätigkeit. Wie jemand der Schmetterlinge sammelt, aber sie nicht tötet, sondern aufschreibt.
"Das Sammeln: Eigentlich möchte man immer nur hinweisen, benennen, nur etwas aufzählen, ohne zu belehren, ohne zu erklären. Das richtige Sehen, damit hat es zu tun, diese besondere Art von Sehen führt zu Genauigkeit, und die ist immer eine poetische Kategorie.
Ich hab manchmal den Eindruck, dass es zwei Arten von Autoren gibt, die einen schreiben über 'fast nichts' und die anderen können über alles schreiben. Und ich tendiere zu denen, die immer nur mit dem 'fast nichts' auskommen müssen, mit einer Kleinigkeit, einer Winzigkeit, und sich daran entzünden an diesem Kleinen. So ein programmatisches Prosagedicht umkreist dies:
Nichts, nur
Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht. Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab. Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt."
Walle Sayer ist 1960 in Bierlingen im Kreis Tübingen geboren und lebt seither nicht weit von seinem Geburtsort entfernt. Er ist also einer der äußerlich nicht weit herum kam, der aber dafür um einen umso ausgedehnteren poetischen Radius verfügt und er verwendet auch schwäbische Wörter. Ein Wort wie "Schlamperladen" zum Beispiel. Solch ein Wort hat nicht nur einen poetischen Hof, sondern auch eine magnetische Kraft, die ein Gedicht zu sich heranzieht.
"Es gehört auch zur Sammlertätigkeit, dass man die alten Worte aufheben und sie bewahren möchte, dass sie noch eine Funktion haben. Im Gegenteil. Es gibt dann meistens nichts adäquat anderes als dies schwäbisch eingefärbte Wort. Das Schöne an solchen Worten ist, dass sie eine klangliche Dimension haben und von ganz weit her kommen, da tun sich poetische Räume auf, dadurch, dass man so ein Wort anschlägt. Die Illusion, die man hat, wenn man Gedichte schreibt, ist, dass man etwas aufbewahren kann im Gedicht, so ähnlich wie ein Bernstein, wo das Gedicht dann drin ist und da kann es überdauern, ohne dass es vergessen wird.
Schlamperladen
Unerledigtes, zum Schutzwall aufgestapelt. Nach dem Debakel, vor dem Desaster. Die Ordner sind das allersicherste Versteck. Nichts durchnummeriert. Die Fehltage fehlen. Lauter Sicherungskopien von weißen Seiten. Ein derart gutes Namensgedächtnis, dass es sich keine Zahlen merken kann. Ausnahmen, zu denen es keine Regel gibt. Ein krankgeschriebener Krankenkontrolleur. Der Weltatlas als Blumenpresse in Gebrauch. Und dann noch: Augenblick an Immerdar. Aber nirgends Luftbuchungsbelege."
Der Lyriker Walle Sayer und sein neuer Band mit Prosagedichten "Kerngehäuse – Eine Innenansicht des Wesentlichen" erschienen im Verlag Klöpfer & Meyer Tübingen. (2009)