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"Ein ganzes Volk wartet"

Über drei Millionen deutsche Soldaten waren zwischen 1941 und 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Das "Heimkehrer-Problem" beschäftigte nach Kriegsende breite Teile der Öffentlichkeit. 1955 kamen die letzten Gefangenen frei.

Von Robert Baag | 08.09.2005
    "Da kommt er an den Bus, hell erleuchtet und bekränzt und ganz gefüllt mit Menschen. Nun zucken Scheinwerfer auf und Blitzlichter. Und nun steigen sie aus Und da sind auch schon die ersten, die ihre Angehörigen wiedergefunden haben - und ich glaube, das sind Szenen, zu denen man am besten nichts sagt..."

    7. Oktober 1955. Der erste Transport der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion hat das Lager Friedland erreicht. Die Vorhut eines Heimkehrer-Zuges, knapp 600 Mann, verteilt auf 30 Güterwaggons. Zuletzt waren diese Männer in Lagern im Gebiet Sverdlovsk eingesperrt, hinter dem Ural. Hermann Rockmann vom Nordwestdeutschen Rundfunk fesselt damals mit seiner Reportage viele Menschen vor den Radios:

    "Wollen Sie den Namen bitte sagen?" - "Karl-Heinz Wenzel. Lieber Papa, herzlichen Gruß!" - "Wollen Sie auch einen Gruß bestellen?" - "Hier spricht Ernst Wissemann aus Hagen-Hengstey. Ich grüße in herzlicher Liebe meine alte Mutter, meine Frau, meine Tochter Doris und meinen Sohn Eberhard."

    Bereits einen Monat zuvor, am 8. September 1955, hatten so manche in der Bundesrepublik auf ein solches Wiedersehen gehofft, auf die Rückkehr ihrer seit vielen Jahren in der UdSSR festgehaltenen oder sogar vermissten Angehörigen. Denn an jenem Donnerstag im Frühherbst machte Bundeskanzler Konrad Adenauer wahr, was er kurz zuvor angekündigt hatte:

    "Ich gehe nach Moskau mit dem festen Vorsatz, dass unsere Kriegsgefangenen zurückkommen!""

    Über zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich immer noch knapp zehntausend ehemalige deutsche Wehrmachts- aber auch SS-Angehörige in sowjetischem Gewahrsam: "Kriegsgefangene" nach deutscher Auffassung, "Kriegsverbrecher" nach sowjetischer Lesart. Dazu noch rund 20.000 so genannte deutsche Zivil-Internierte beziehungsweise politische Häftlinge, die zumeist aus der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, in die UdSSR verschleppt worden waren.

    Doch bevor Adenauer seine Ankündigung wahrmachen kann, muss er in eine politische Pokerpartie gehen, deren Ausgang lange Zeit Zeit ungewiss bleibt. Sie beginnt - wie das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der SPIEGEL" schon Mitte Juni 1955 berichtet, so:

    "Am Dienstag letzter Woche nahm in einem Zimmer der sowjetischen Botschaft in Paris der Botschaftssekretär Valentin Kostyljew den Hörer vom Telephonapparat und verlangte die Nummer "Elysées 33 51". Als sich eine Mädchenstimme mit den Worten "Ambassade de l"Allemagne" meldete, antwortete Valentin Kostyljew in Französisch mit östlichem Akkzent: "Hier ist der Erste Sekretär der Botschaft der Sowjetunion, ich habe eine wichtige und dringende Bestellung zu machen.""

    Kurze Zeit später betritt der sowjetische Diplomat die bundesdeutsche Botschaft und übergibt einen Brief an den deutschen Botschafter Maltzahn. Der Kernsatz des Schreibens, das sofort an Adenauer weitergeleitet wird, lautet:

    "Der Bundeskanzler wird zu einem Besuch nach Moskau eingeladen."

    Die Nachricht gelangt rasch in die Presse. Im Inland, dann aber auch im Ausland wird sie als Sensation empfunden, denn sonst kennzeichnen eigentlich Sätze wie diese das Verhältnis des Bundeskanzlers zur Sowjetunion:

    "Nach meiner festen Überzeugung, nach der Überzeugung eines jeden Deutschen, der die Dinge unvoreingenommen betrachtet, gibt es vor dieser konsequent fortgeführten Politik des totalitären Sowjetrusslands nur eine Rettung für uns alle: Uns so stark zu machen, dass Sowjetrussland erkennt, ein Angriff darauf ist ein großes Risiko für Sowjetrussland selbst!"

    Vor allen Dingen aber hat Adenauer bisher keine Gelegenheit verstreichen lassen, klar zu machen, dass die Zukunft des westlichen Teils Deutschlands, der Bundesrepublik, auf der Seite des Westens zu suchen sei. Und nur wenige Wochen vor der Moskauer Einladung, am 5. Mai 1955, hat er das noch einmal ausdrücklich wiederholt:

    "Heute, fast zehn Jahre nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch des Nationalsozialismus endet für die Bundesrepublik Deutschland die Besatzungszeit. Mit tiefer Genugtuung kann die Bundesregierung feststellen: Wir sind ein freier und unabhängiger Staat.
    In dieser Stunde gedenken wir der vielen Deutschen, die immer noch das harte Los der Kriegsgefangenschaft tragen müssen. Wir werden alles daran setzen, dass auch ihnen bald die Stunde der Befreiung schlägt."

    Über drei Millionen deutsche Soldaten waren zwischen 1941 und 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Ein Drittel, so schätzte der Verband der Heimkehrer, hat die Lagerhaft nicht überlebt. Somit ist das Schicksal von rund 1,3 Millionen im Osten Verschollener bis heute - Stand: September 2005 - weiterhin ungeklärt, wie der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in München bestätigt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und nachdem Moskau die Archive geöffnet habe, so DRK-Sprecher Hans-Jörg Kalcyk, ließen sich pro Jahr durchschnittlich immer noch 10 bis 15 000 Soldaten-Schicksale aufklären.

    Damals aber, in der ersten Hälfte der 50er Jahre, und trotz früherer Entlassungswellen aus der UdSSR, bewegt das Heimkehrer-Problem weiterhin breite Teile der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Kino-Wochenschauen im zeit-typischen Ton:

    "Für zwei Minuten ruhte in der Bundesrepublik der Verkehr. Deutschland gedachte seiner noch nicht heimgekehrten Kriegsgefangenen, für die seit neun Jahren die Zeit still steht. Eines der tausend Mahnmale, die die Heimkehrer ihren noch zurückgehaltenen Kameraden zur Erinnerung und Mahnung errichtet haben. Ein ganzes Volk wartet. Am Abend stellt man Kerzen zum Gedenken an alle, die noch nicht da sind, in die Fenster. Und in der Nacht bewegen sich schweigende Fackelzüge durch die Straßen unserer Heimat. Die Heimkehrer haben Wort gehalten. Sie versprachen ihren zurück bleibenden Kameraden, in der Heimat nach ihnen zu rufen."

    Doch die sowjetische Initiative vom Frühsommer 1955 erwähnt die Kriegsgefangenen-Frage mit keinem Wort. Der sowjetischen Führung geht es um etwa anderes:

    "Das Ziel war: Diplomatische Beziehungen. Und das Motiv: Einfluss auf die Politik der Bundesregierung zu gewinnen."

    ...meint der Zeithistoriker Gerhard Wettig und beschreibt dann die Linie, die Nikita Chruschtschov, der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - der KPdSU - zu verfolgen scheint:

    "Es ging ihm offensichtlich darum, die Westdeutschen, die inzwischen in der NATO waren, wieder aus der NATO herauszubekommen. Das bedeutete nicht die direkte Projizierung sowjetischer Macht auf die Bundesrepublik, jedenfalls nicht sofort - aber bedeutete, dass natürlich - wenn die NATO und die USA aus Europa hinausgedrängt seien - dass eben die Sowjetunion die europäische Hegemonialmacht geworden wäre."

    Zunächst aber sind dafür diplomatische Beziehungen notwendig. Denn selbst zehn Jahre nach Kriegsende gibt es weder eine Botschaft der Bundesrepublik in der UdSSR noch eine sowjetische Botschaft in Bonn. Größtes Hindernis: Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung. Nur sie fühlt sich befugt im Namen aller Deutschen sprechen. Die DDR - als totalitärer Satellit der Sowjetunion - wird von der Bundesrepublik als Staat nicht anerkannt. Dies aber zwingt die Moskauer Führung höchstens zu einem Umweg, denn:

    "Für die Sowjetunion waren Botschaften immer auch politische Stützpunkte - und man wollte Einfluss auf die Bundesrepublik nicht in erster Linie direkt sondern indirekt durch die Beeinflussung der Öffentlichkeit und der Opposition bekommen."

    Die eigentlichen Adressaten damals für das sowjetische Werben seien unschwer auszumachen, fügt Wettig hinzu:

    "Das war einerseits die SPD, deren Vorsitzender Ollenhauer sich wenige Monate zuvor mit der "Paulskirchen-Initiative" solidarisiert hatte, also unterzeichnet hatte. Das war eine Initiative, die sich gegen den NATO-Beitritt wandte, weil man erst die Chancen für eine Vereinigung Deutschlands ausloten müsse. Und der zweite Ansprechpartner war die deutsche Industrie, auf deren Osthandels-Interessen man setzte. Es gab zweifellos innerhalb der deutschen Wirtschaft einige, die am Osthandel interessiert waren. Krupp gehörte dazu."

    Damit zeichnen sich die Umrisse eines möglichen politischen Handels zwischen der Sowjetführung um Chruschtschow und Ministerpräsident Bulganin sowie Adenauer klar ab. Auf eine Kurzformel gebracht: Gegenseitige diplomatische Anerkennung gegen die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen. Doch die sowjetische Seite sieht in diesen Menschen nicht nur ein Faustpfand. Nikolaj Portugalov, der spätere Deutschlandexperte im Zentralkomitee der KPdSU, war damals erst am Beginn seiner Karriere, erinnert sich aber noch sehr gut, wie die sowjetische Bevölkerung über Adenauer und die Kriegsgefangenen dachte:

    "Eins müssen Sie schon in Betracht ziehen: Sozusagen emotionell gesehen haben die Deutschen und dann später auch wir dort drüben so viel gegeneinander angerichtet, dass es nicht so leicht gewesen wäre, während der Wiederaufbau-Periode in Russland überhaupt an die Frage "ranzukommen. Außerdem: Die 100%-ige Westausrichtung Adenauers - für den, wie man weiß, schon hinter der Elbe die asiatischen Steppen begannen - Unser Freund war Adenauer nie."

    Dennoch: Erste Verkrustungen im sowjetisch-bundesrepublikanischen Verhältnis aufzubrechen gelingt ausgerechnet dem Sport. Am 21. August, knapp drei Wochen, bevor die deutsche Delegation mit Konrad Adenauer an der Spitze dann doch in Moskau eintreffen soll, hat zunächst die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, ein Jahr zuvor in Bern Weltmeister geworden, ihren Auftritt:

    "82.000 Zuschauer füllen das weite Rund des Dynamo-Stadions. Riesige Transparente grüßen die Nationalelf und die Schlachtenbummler aus der Bundesrepublik. Die deutsche Elf und die Fußballer der Sowjetunion begrüßen sich. Deutschland spielt in weißen Trikots und schwarzen Hosen. Fritz Walter und Igor Njeto tauschen die Wimpel."

    Auch hier ist es die sowjetische Seite, die initiativ geworden ist und die deutschen Fußballer eingeladen hat. Gegen alle anfänglichen Bedenken und Widerstände auf deutscher Beamten-Ebene setzt sich DFB-Präsident Peco Bauwens schließlich durch:

    "Man soll bei solchen Gelegenheiten nicht zögern, sondern man soll dann bekennen, wozu man steht. Wir stehen zum Sport als dem Mittler zwischen den Völkern."

    "Als die deutsche Nationalhymne erklang, da nahmen unsere ergrauten Kameraden die Mützen ab und weinten wie die Kinder..."

    ...erinnert sich Heinz Oppermann während der Rhöndorfer Gespräche vor einer Woche, veranstaltet von der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef, die der Moskau-Reise 1955 gewidmet waren. Oppermann ist einer jener Heimkehrer, die erst im Spätherbst 1955 freikommen.

    Die deutsche Nationalmannschaft unterliegt mit 2:3 Toren. Dennoch, so wird später erzählt, soll der damalige Bundestrainer Sepp Herberger verschmitzt gelächelt und seine Männer mit den Worten gelobt haben: "Ihr wart hier besser als beim Endspiel in der Schweiz!"

    Aber die eigentliche Herausforderung auf politischer Ebene steht noch bevor: Am 8. September, kurz nach 17 Uhr Orts-Zeit landet die Lufthansa-Super-Constellation auf dem Moskauer Flughafen Vnukovo. Adenauers Begrüßungsworte sind nüchtern, zurückhaltend:

    "Ich hoffe sehr, dass der erste Kontakt, den wir mit unserer Anwesenheit in Moskau aufnehmen, die Herstellung normaler, guter Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion einleitet."

    Dann aber folgt bald ein Wechselbad der Gefühle. Werner Kilian, ehemaliger Bonner Karrierediplomat, zitiert dazu aus einer Hamburger Wochenzeitung in jenen Tagen:

    "In der "Zeit" veröffentlichte die Gräfin Dönhoff einen Bericht unter der Überschrift: "Am Konferenztisch - eiskalt, am Büffet - eng umschlungen". Das war eine Diskrepanz, die für die Deutschen seelisch schwer zu verkraften war!"

    Rolf-Dietrich Keil, damals als Übersetzer dabei, erinnert sich noch sehr gut an die Atmosphäre zu Beginn der Verhandlungsrunde. Dabei spielte - ungewollt - nicht der Kanzler sondern ein SPD-Mitglied in der Delegation die Hauptrolle:

    "Chruschtschow fing zunächst einmal an, sich an Carlo Schmid zu wenden. Der hatte ihn allein durch seine Statur beeindruckt. Bei der ersten Vorstellung hatte Chruschtschow ja gesagt, als Carlo Schmid ihm entgegentrat: "Och, Velikaja Germanija!" - "Großdeutschland!""

    Eine sicherlich auflockernd gemeinte Bemerkung. Dennoch wird die jüngste Vergangenheit, die im Stichwort "Großdeutschland" mitschwingt, bis fast zum Schluss der düster-unsichtbare dritte Tischgast sein. Als die sowjetische Seite die deutschen Kriegsgräuel in der UdSSR anspricht, weist Adenauer seinerseits auf die Gewalttaten der Roten Armee beim Einmarsch in Deutschland hin. Ein Wutausbruch Chruschtschows ist die Folge. Später, schon nach seiner Rückkehr nach Bonn, wird Adenauer vor der Bundespressekonferenz sagen:

    "Sowjetrussland misst uns die Schuld zu. Wir mussten ihnen sagen, dass doch andere Länder - darunter auch Sowjetrussland - daran schuld gewesen seien, dass Hitler diese Macht bekommen habe."

    Der Außenminister, der den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 mit konzipiert hatte, hieß Vjatscheslaw Molotov. Sein nazi-deutscher Amtskollege war Joachim von Ribbentrop. Jener Vertrag ist auch unter dem Namen "Molotov-Ribbentrop-Pakt" bekannt. Eben jener Molotov aber ist 1955 immer noch Außenminister, ist Mitglied der sowjetischen Delegation.

    Am Abend des zweiten Verhandlungstages - nach Dienst sozusagen - ist die Stimmung plötzlich wieder gelöst. Ballett-Besuch im Bolschoj-Theater steht auf dem Programm. "Romeo und Julia" von Sergej Prokovjev. Dabei kommt es zu einer Schlüsselszene - allerdings nicht auf der Bühne sondern in der Zarenloge. Adenauer ergreift am Ende der Vorstellung Bulganins Hände und hebt sie in einer Versöhnungsgeste in die Höhe. Gerd Ruge, damals junger Hörfunk-Korrespondent, hat das Geschehen aus nächster Nähe beobachtet:

    "Die Russen unten waren tief ergriffen. Es gab einen enormen Beifall - nicht für die Bühne sondern für die Hauptakteure oben. Bei den Russen war es doch das Gefühl einer unerhörten Erleichterung, zehn Jahre nach dem Krieg, das Gefühl, dass also hier so eine Art Versöhnung zwischen Deutschland und Russland stattfindet, dass es solch einen Krieg nicht wieder geben würde. Das war eigentlich der tiefste Eindruck, der die Leute unten sehr bewegte und mit Tränen in den Augen dort gestanden haben."

    Letzter Verhandlungstag. Weitgehende Einigkeit ist erzielt. Die letzten knapp zehntausend Kriegsgefangenen werden entlassen, den diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion steht eigentlich nichts mehr im Weg - doch was soll mit den deutschen Zivilinternierten geschehen? Im Spiridonovka-Palais kommt es zu einer Kaffee-Pause. Adenauer geht in den Garten, winkt dann den Dolmetscher Keil heran und steuert auf den Raum zu, wo die sowjetischen Verhandlungspartner zusammensitzen. Adenauer - so Rolf-Dietrich Keil - öffnet die Tür und winkt den verblüfften Ministerpräsidenten Bulganin hinaus zu sich:

    "Und da auf der Terrasse sagt der Adenauer: "Ich habe nachher eine Pressekonferenz. Was kann ich denn sagen?" - "Werden Sie nur die Kriegsgefangenen freilassen - oder alle?" - Bulganin zögerte einen Moment und sagte dann: "Vsech, vsech, vsech!" - Alle, alle, alle!""

    Der Durchbruch. Aber einen Verlierer gab es: Die DDR. Bonn war nicht dazu gezwungen worden, sich im Austausch gegen die Kriegsgefangenen die Anerkennung des SED-Regimes abringen zu lassen. Nikolaj Portugalov hält in der Rückschau beide, Bonn und Moskau, für die Gewinner in den damaligen Verhandlungen:

    "Wir haben uns zwar etwas mehr versprochen, dass das vielleicht nur der erste Schritt wäre und wir - zwar nicht von heute auf morgen, sondern allmählich - mit den Deutschen enger zusammenarbeiten werden. Der Ulbricht, der saß ziemlich fest im Sattel, aber große Sympathien hat er hier im Kreml nie gehabt. Man hat ihm nie verziehen den Aufstand vom 17. Juni, wo wir uns auf eine schreckliche Weise blamiert haben, dass wir ohne Panzer sozusagen die DDR nicht halten können."

    Der Zeithistoriker Gerhard Wettig formuliert es drastischer:

    "Die DDR war eine Kreatur der Sowjetunion. Und von daher hat sie niemals das Gewicht besessen, die sowjetische Politik entscheidend zu beeinflussen. Sie musste sich unterordnen. Wir wissen, dass Ulbricht außerordentlich bestürzt und verärgert über die Beziehungsaufnahme, die ohne eine gleichzeitige Beziehungsaufnahme zu Ost-Berlin erfolgt ist, war. Aber nach außen hin hat die DDR voll Beifall geklatscht."

    Bleibt festzuhalten:

    "1955 war ein Jahr, in dem sich zunächst einmal die sowjetische Deutschlandpolitik zugunsten von Bonn zu ändern schien, in dem aber dann die Wiedervereinigung in weite Ferne rückte und stattdessen die Zwei-Staaten-Politik konkrete Gestalt annahm. Die Sowjets nahmen es hin, dass sich die Bundesregierung mit dem Abschluss der Pariser Verträge definitiv an den Westen angeschlossen hatte. Damit war allerdings auch, wie Chruschtschov erklärte, der Weg zur Wiedervereinigung zunächst versperrt."

    So die nüchterne Bilanz des früheren Diplomaten Werner Kilian, zitiert aus dessen soeben erschienen Buch: "Adenauers Reise nach Moskau". Zum Geschichtsfundus der Bundesrepublik wird allerdings immer jenes Pressefoto gehören, als nach Adenauers Rückkehr nach Bonn eine kleine, gebeugte, alte Frau auf ihn zukommt, seine Hand ergreift und sie aus Dankbarkeit küsst. Denn Adenauer hat soeben versichert:

    "Heute möchte ich hier - weil ich weiß, dass viele hier sind, deren Verwandte, deren Väter, deren Gatten, deren Sohn in Russland in Gefangenschaft ist – folgendes sagen: Der sowjetrussische Premierminister hat mir gestern abend erklärt, ehe ich in Bonn sein werde, werde die Aktion der Rückgabe in Russland schon anlaufen. Und ich zweifle nicht, dass er Wort halten wird."