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Ein Gespräch aus Anlaß seines Besuchs im Deutschlandfunk (Juni 1999)

DENIS SCHECK: ... fast schon zum Klischee verkommen ist die Feststellung, daß Literatur nur zwei Themen kennt: Liebe und Tod. Ihr Roman ist eine Neuinterpretation des Orpheus-Mythos, und dieser Mythos stellt ja die Frage: kann die Liebe, kann die Kunst den Tod überwinden? Woher rührt Ihr Interesse an diesem Mythos?

Denis Scheck |
    SALMAN RUSHDIE: Aus genau dem Grund, den Sie genannt haben: die großen Themen eines Buches hängen direkt oder indirekt mit den großen Fragen der conditio humana zusammen - und Liebe und Tod, Kunst und Geburt sind nun mal eben die großen Fragen unseres Lebens. Es ist also ganz zwangsläufig, daß sich ein Romancier davon angezogen fühlt und Geschichten sucht, in denen diese Motive in interessanter Kombination angesprochen werden. Der Orpheus-Mythos setzt sich auf sehr persönliche Weise mit dem Verhältnis von Kunst, Liebe und Tod auseinander. Und das in zweifacher Hinsicht: zunächst im berühmten Unterwelt-Teil, der sich optimistisch oder pessimistisch interpretieren läßt. Wenn man diesen Teil positiv interpretieren möchte, ließe sich sagen, daß Orpheus durch die Musik den Tod überwindet, um seine Liebe zu finden. Man könnte es aber auch negativ sehen, nämlich daß Orpheus vom Tod besiegt wird, die Liebe dadurch stirbt und die Kunst also nicht stark genug ist. Das Tolle an einem Mythos ist, daß man sich nicht für eine dieser beiden Lesarten entscheiden muß, beide Bedeutungen sind einfach da, deshalb ist so ein Mythos ein guter Ausgangspunkt für ein Buch, das das Verhältnis von Kunst - in diesem Fall der Musik - zu Liebe und Tod untersuchen möchte.

    SCHECK: Ist Kunst zu einer Art Ersatzreligion geworden in unserer Zeit, wo alle anderen Formen transzendenten Denkens zumindest an Bedeutung eingebüßt haben?

    RUSHDIE: Gewissermaßen schon, aber nur mit der wichtigen Einschränkung, daß wir nicht an sie glauben müssen. In diesem Sinn unterscheidet sich die Kunst von der Religion. Das Schöne an der Literatur ist ja, daß sie einem von Beginn an sagt, daß sie nicht wahr ist. Folglich begibt sie sich auf den Weg zu einer anderen Form von Wahrheit, die man die Wahrheit der Kunst nennen könnte, in der sich zweifellos profunde Einsichten über die menschlichen Natur formulieren lassen, paradoxerweise aber in Form von Lügengeschichten. In diesem Sinne ist die Kunst ehrlicher als die Politik oder die Religion.

    SCHECK: Glauben Sie persönlich an irgendeine Form des Nachlebens außer in Büchern oder in der Literatur?

    RUSHDIE: Nein. Wann immer ich Bilder von diesem Nachleben sehe, sei es vom Paradies oder von der Hölle, dann sehe ich nur Schreckensorte. Ich glaube, kein Mensch hat je so etwas Langweiliges wie das Paradies erfunden.

    SCHECK: Ihr Vorstellung vom Glück ist also die Nichtexistenz?

    RUSHDIE: Nein, keineswegs. Meine Vorstellung vom Glück sieht so aus, so lange zu leben und so viel zu arbeiten wie möglich. Aber danach habe ich keinerlei Erwartungen.

    SCHECK: In "Der Boden unter ihren Füßen" schreiben Sie zum ersten Mal über Amerika. Ihr Erzähler verliebt sich in dieses Land, erkennt aber auch, daß Amerika für den Rest der Welt nur für eines steht: nämlich für Macht. Wie sehen Sie die Rolle der USA als Weltpolizisten?

    RUSHDIE: Im Moment herrscht darüber große Verwirrung, und teilweise liegt das an den Amerikanern selbst. Amerika hat wenig geographische Übersicht - ein seltsames Schicksal, die Welt zu beherrschen, wenn man so gar nicht weiß, wo was liegt. Das wirkt sich ja offenbar bis in den CIA hinein aus, wo man nicht weiß, wo in Belgrad die chinesische Botschaft liegt, weil man veraltete Karten benützt. Das ist ein hausgemachtes, amerikanisches Problem. Dann gibt es da aber noch eine andere offene Frage, die den Rest der Welt betrifft, den wir alle in diesem Rest der Welt sind uns keineswegs im klaren darüber, ob wir einen solchen Weltpolizisten nun wollen oder nicht. Das Thema Intervention, das in den letzten Jahren und jetzt im Moment so große Bedeutung gewonnen hat, ist ein Thema, über das wir uns hoffnungslos uneins sind. Als die USA während der Belagerung von Dubrovnik und während der Belagerung von Sarajevo nicht entscheidend interveniert hat, haben wir die westlichen Mächte und allen voran die Führungsmacht USA für diesen Akt der Nichtintervention kritisiert. Nun hat man im Fall von Kosovo eingegriffen, und jetzt kritisieren viele diese Intervention. Wir ändern also fortwährend unsere Meinungen, und ich finde, es ist an der Zeit, daß wir - und mit "wir" meine ich tatsächlich unsere gesamte Zivilisation - darüber diskutieren, was wir nun von solchen Interventionen halten, und daß wir Kriterien entwickeln, die als Maßstab für solche Fälle dienen können, damit wir in Zukunft nicht wieder in so heillose Verwirrung stürzen, ob man nun eingreifen soll oder nicht. Im Fall von Kosovo bin ich persönlich der Meinung, daß sich die Entscheidung zur Intenvention relativ leicht rechtfertigen läßt, und zwar allein aufgrund der Meldungen aus diesem Gebiet. Ich spreche von den Hunderttausenden, die verschwunden sind und von Milosevic und seinen Schergen vielleicht umgebracht wurden. Ich bin aber auch der Ansicht, daß die Intervention, wie sie nun durchgeführt wird, so ungeschickt und schlecht geplant ist wie eine Intervention aus moralischen Gründen nur sein kann.

    SCHECK: Ihre Kritik richtet sich also an die militärischen und politischen Führer?

    RUSHDIE: Gegen die politischen Führer. Zu den Merkwürdigkeiten des Konflikts zählt ja, daß es auf der Hand liegt, daß die Entscheidung nicht bei den Militärs liegt, sondern die strategischen Entscheidungen von der Politik getroffen werden. Im großen und ganzen haben sie sehr schlechte Arbeit geleistet.

    SCHECK: Sie haben den österreichischen Schriftsteller Peter Handke für den Preis "Wirrkopf des Jahres" nominiert aufgrund seiner Apologien des Milosevicz Regimes und enormer "Torheit", die ihn auf ganzer Linie zum "Komplizen des Bösen" gemacht habe. Zählt aber die Opposition gegen und das Infragestellen von scheinbar gesamtgesellschaftlich akzeptierten Wahrheiten nicht zu den Funktionen eines Schriftstellers?

    RUSHDIE: Ich muß einfach an diese verschwundenen Menschen denken. An die zweihunderttausend, deren Verbleib ungeklärt ist. Darin liegt für mich der entscheidende Punkt: 750 000 Menschen vertrieben und 200 000 Menschen verschwunden. Und so lange Peter Handke mir nicht erklären kann, wo sie sich aufhalten, und mir beweist, daß sie bei guter Gesundheit sind, so lange werde ich weiterhin jede Parteinahme für das Regime von Milosevic als eine Unterstützung von Völkermord werten. Ich bedaure das, denn ich schätze viele seiner Werke, aber mir scheint, das Freundlichste, was sich über Peter Handke im Moment sagen läßt, ist, daß er offenbar den Verstand verloren hat. Sollte es noch schlimmer sein, täte es mir leid.

    SCHECK: Ich möchte auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen: Besteht denn nicht die Gefahr, daß wir die Serben als leibhaftigen Gottseibeiuns darstellen, als Archetyp des Feindes, daß der Krieg eine Frage von "Wir gegen Sie" wird?

    RUSHDIE: Es besteht immer die Gefahr einer Verteufelung -und davor muß man sich schützen, ausgenommen im Fall von tatsächlichem Massenmord. Daran besteht aber nun kaum ein Zweifel. Ich glaube der Begriff "ethnische Säuberung" ist der widerlichste Neologismus der europäischen Sprachgeschichte seit dem Begriff "Endlösung". Beide Begriffe bedienen sich einer scheinbar neutralen Sprache zum Transport einer radikalen Bedeutung. Dieser Begriff ist Milosevic Beitrag zum 20. Jahrhundert. Es ist also keine Frage von Verteufelung oder des Gegenteils, sondern eine Frage dessen, was tatsächlich passiert. Mir erscheint es höchst kurios, daß der Krieg eigentlich in zwei Kriege zerfällt. Da gibt es den Bodenkrieg, der gegen eine schutzlose Zivilbevölkerung geführt wird. Diese Menschen werden in großer Zahl vertrieben oder umgebracht, und niemand gibt auch nur zu, daß das geschieht, geschweige denn, daß er sich dafür entschuldigt. Und dann gibt es den Luftkrieg, wo man es so genau nimmt, daß man sich jedesmal entschuldigt, wenn eine Bombe ihr Ziel verfehlt. Zwischen diesen Kriegen scheint es fast keinen Berührungspunkt zu geben. Es ist natürlich falsch, ganze Bevölkerungen und Nationen zu verteufeln. Andererseits kann ich aber auch das in letzter Zeit häufig vorgebrachte Argument nicht akzeptieren, daß nur Milosevic das Problem ist und die Bevölkerung Serbiens unschuldig sei und nicht wisse, was vor sich gehe. Dieses Argument ist vergleichbar der früher oft gehörten Behauptung, daß die Deutschen nicht gewußt hätten, was in den Konzentrationslagern vor sich ging. Inzwischen ist ganz klar, daß die Leute es gewußt haben. Was die serbischen Truppen im Kosovo anrichten, wird ja nicht von Milosevic persönlich ausgeführt. Diese Soldaten haben Familien und Freunde, sie führen Telefongespräche und so weiter. Ich kann also nicht glauben, daß man nicht weiß, was da vor sich geht. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Welche Fehler die NATO-Truppen auch begehen ... und es gibt viele Fehler, es ist ein schlecht geplanter Krieg, seine Ziele waren nicht klar vorgegeben, man glaubte, es würde ein schneller Krieg und hatte keinen Plan B für den Fall, daß er doch länger würde, man schien tatsächlich zu glauben, den Krieg aus der Luft gewinnen zu können, was allen Erfahrungen aus der Geschichte der Luftkriege widersprach - vieles an der Intervention ist Unrecht, aber wenn man zum Kern des Problems vordringt, dann liegt das große Unrecht nicht auf Seiten der Nato.

    SCHECK: Ich verstehe Sie richtig, daß Sie für den Einsatz von Bodentruppen plädieren? Wie würden Sie das Kriegsziel definieren - die Gefangennahme Milosevics?

    RUSHDIE: Sie stellen diese Frage einem Gewalt verabscheuenden Menschen. Aber am schlimmsten wäre es, den Kuwait-Fehler zu wiederholen. Also eine Situation zu schaffen, wo der Mensch, gegen den man Krieg führt, noch an der Macht ist, so daß man mit ihm verhandeln und Abkommen unterzeichnen muß. Das scheint mir ganz unhaltbar, insbesondere nun, wo er zum Kriegsverbrecher erklärt wurde. Und die Vorstellung, daß der Westen ein Abkommen mit einem Kriegsverbrecher schließt, ist für mich unannehmbar, vor allem, wenn es heißt, daß dieser Krieg aus moralischen Gründen geführt wird.

    SCHECK: Iran wurde soeben wieder zur Frankfurter Buchmesse zugelassen, lange Jahre waren die Verlage aus diesem Land als Reaktion auf die Fatwa gegen Sie ausgeschlossen worden. Wie reagieren Sie auf diese Nachricht - hat man das mit Ihnen abgesprochen, waren Sie damit einverstanden?

    RUSHDIE: Nein, überhaupt nicht. Peter Weidhaas von der Buchmesse hat mich kontaktiert und mir erklärt, die Messe habe die Entscheidung getroffen, die Iraner wieder zuzulassen, und ob ich diese Entscheidung mittragen würde. Ich antwortete, ich könne diese Entscheidung nicht ändern, aber sie gutheißen könne ich auch nicht. Und zwar nicht nur aus persönlichen Gründen - auch wenn es stimmt, daß bestimmte Fragen, den Iran, die Fatwa und mich betreffend, noch geklärt werden müssen, etwa die Frage des Kopfgeldes, das immer noch ausgesetzt ist ...

    SCHECK: Ein Kopfgeld in Höhe von fünf Millionen Dollar ...

    RUSHDIE: ... auch wenn das sehr schmeichelhaft ist, ich glaube, ganz so viel ist es nicht. Es ist weniger, theoretisch bleibt dieses Kopfgeld aber immer noch ausgesetzt. Doch ganz abgesehen von mir dürfen wir nicht vergessen, daß allein in diesem Jahr sechs iranische Schriftsteller getötet worden sind. Sie wurden erwürgt, man fand ihre Leichen in Straßengräben. Es stimmt zwar, daß die iranische Regierung sich um die Aufklärung dieser Frage bemühte und einige Männer aus dem Geheimdienst verhaftete, die diese Morde angeblich begangen haben. Das Entscheidende aber ist, daß die Lage im Iran immer noch äußerst brisant ist - nach wie vor werden Schriftsteller dort umgebracht. Und sich nun so zu verhalten, als wären alle Probleme im Iran gelöst, scheint mir vorschnell zu sein. Mich hat auch sehr gestört, daß die Buchmesse meine Haltung zu ihrem Vorgehen als "ambivalent" beschrieben hat. Das entspricht ganz und gar nicht den Tatsachen. Sie haben mich um Unterstützung gebeten, und ich habe das abgelehnt, das ist meine Position. Ich wünschte, sie würden aufhören, ihre Spekulationen über meine Ansichten zu verbreiten.

    SCHECK: Während wir uns unterhalten, gibt es nicht nur einen Krieg im Kosovo, sondern auch einen eskalierenden Konflikt zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir. Der Erzähler aus "Der Boden unter ihren Füßen" nennt Indien einmal seine "terra infirma", "Quelle meiner Phantasie", "Ursprung meiner Barbarei". Welche Gründe sehen Sie dafür? Wieder ein Fall für den Weltpolizisten, über den wir zu Beginn gesprochen haben?

    RUSHDIE: Ich weiß nicht, was ein Weltpolizist da tun könnte, außer die beiden Länder zu überzeugen, daß jetzt, wo sie Nuklearmächte sind, das Spiel ganz andere Regeln hat. Es hat während des letzten halben Jahrhunderts bereits drei Kriege zwischen Indien und Pakistan gegeben, davon zwei um Kaschmir, und unterm Strich war das Ergebnis dieser relativ kurzen Kriege gleich null. Diesmal existiert die nukleare Option, und das gibt dem Ganzen eine erschreckende Dimension. Ich glaube, es ist etwas sehr Seltsames geschehen, als diese beiden Länder zu Nuklearmächten wurden, denn die Bevölkerungen beider Länder haben die Verfügbarkeit von Atomwaffen auf sehr unkritische, patriotische und chauvinistische Weise regelrecht gefeiert. Alle, die sich dagegen ausgesprochen haben, wurden niedergebrüllt und verächtlich gemacht. Hinzu kommt leider, daß die Menschen in diesen Ländern eine sehr unpräzise Vorstellung davon haben, was eine Atomwaffe eigentlich ist, wie sie funktioniert und welche Zerstörung sie auslösen kann. Unsere große Angst ist jetzt, daß sie es bald herausfinden werden. Man kann nur hoffen, daß der absolute Schrecken dieser Waffen die Regierungen beider Länder Zurückhaltung auferlegen wird. Die Folgen wären so viel größer als früher, daß man diese Sache dringend der Weltöffentlichkeit vorlegen muß.

    SCHECK: Außer als Prophet und Warner zu agieren, welche Rolle sehen Sie noch für einen Schriftsteller, der aus dieser Region stammt und vielleicht auch für Menschen in dieser Region schreibt? Glauben Sie an den Prozeß der Aufklärung zur Beilegung dieser Konflikte?

    RUSHDIE: Ein Schriftsteller kann nicht mehr tun, als seine Auffassung der Wahrheit zum Ausdruck bringen.