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Ein Gespräch mit dem nigerianischen Schriftsteller

DENIS SCHECK: Ben Okri, in gewisser Weise ist Ihr Roman >>Die hungrige Straße<< eine Antwort auf die Frage, wieso Afrika immer wieder von Gewaltausbrüchen heimgesucht wird. Im Moment erleben wir Widersprüchliches von diesem Kontinent. Auf der einen Seite das Ende der Apartheid in Südafrika, auf der anderen Seite den Beginn eines blutigen Bürgerkriegs in Ruanda. Wie sehen Sie die Zukunft Afrikas und welche Rolle haben dabei Schriftsteller?

Denis Scheck |
    BEN OKRI: Wir dürfen uns von den Erscheinungen der Dinge nicht täuschen lassen. Wenn man einen Baum betrachtet und sieht, daß drei, vier, fünf oder sechs Äste herabhängen und krank sind, kommt niemand auf die Idee, daß der ganze Baum abgestorben ist. Wir leben jedoch in einer Zeit, in der sich die Kameras der Medien immer nur auf solche Blätter und Äste richten, die krank und verdorrt sind. Es liegt im Wesen des Journalismus, daß er sich nie für das Alltägliche interessiert, nie die Schönheit und Widerstandskraft würdigt, die im gewöhnlichen Leben der sechs-oder siebenhundert Millionen Menschen auf diesem Kontinent zum Ausdruck kommen. Das westliche Bild Afrikas ist von Gewalt, Zerstörung, Hungersnot, Krankheit, Zerfall und allgemeinem Niedergang bestimmt. Aber daneben existiert auch das andere Afrika - die Weisheit der ungeschriebenen Gesetze, der ausgeprägte Gemeinschaftssinn und seine Umsetzung im Alltag, der hohe Stellenwert, den die Fürsorge für die Alten genießt, und was der tollen Dinge mehr sind, die von dem Mut, der Schönheit und Beständigkeit im Leben Afrikas zeugen. Die Völker dieses Kontinents hatten enorme Schwierigkeiten zu überwinden, insbesondere die gesellschaftliche Umstellung von den alten Sitten und Gebräuchen auf die neuen Konventionen, die ihnen durch die Kolonialisierung und den Kapitalismus aufgezwungen wurden. Solche Veränderungen bewirken natürlich Störungen in der Seele und der Psyche eines Volkes. Aber diese Krisen und Konflikte sind mit einem spezifischen geschichtlichen Augenblick verbunden. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, sie als ewig gültige Definition der Möglichkeiten dieses Kontinent zu begreifen. Die Zukunft Afrikas wird die Welt in Erstaunen versetzen. Man muß sich doch fragen, welche Attribute und Fähigkeiten ein Volk besitzen muß, um so viel Leid zu ertragen und dennoch diese Gelassenheit und Großzügigkeit auszustrahlen, von denen jeder Besucher Afrikas schwärmt. Daher muß es in der Seele dieser Menschen etwas ganz Wunderbares und Einzigartiges geben, das sich ungeachtet all dieser Schicksalsschläge immer wieder durchsetzt. Wer Afrika verstehen will, muß die Geduld aufbringen, nicht immer nur auf das Sensationelle zu starren, sondern auch das Unsichtbare wahrzunehmen - die gewöhnlichen, alltäglichen Dinge. Und genau das ist eine Rolle des Schriftstellers - zu zeigen, daß Afrika viel nuancenreicher ist als das Schwarzweißbild, das die Medien von diesem Kontinent im Westen verbreiten. In Afrika wird nicht nur gelitten, sondern auch getanzt und gefeiert, die Menschen dort kennen nicht nur passive Verzweiflung, sondern besitzen auch einen ausgeprägten Sinn für Logik und das praktisch Machbare. Afrika ist keine monolithische Einheit, dort leben sehr unterschiedliche Kulturen zusammen. Daher wage ich die Voraussage, daß Afrika die Welt noch überraschen wird. Nur leider werden die Leute, die heute Afrikas Untergang prophezeien, dann nicht mehr am Leben sein. Denn diese Überraschung wird sich im verborgenen vollziehen, so wie das Gras Tag für Tag wächst oder kranke Bäume aus sich heraus und fast unmerklich gesunden. Von außen wird man diesen Heilungsprozeß, das Nachwachsen neuer Äste an Stelle der alten, nicht bemerken, weil man nicht die nötige Geduld aufbringen wird, um diese lautlose Regeneration wahrzunehmen. Welche Rolle die Schriftsteller dabei spielen werden, liegt ganz an ihnen selbst. Meine Rolle ist die eines Heilers, eines Träumers, eines Zauberers und eines Menschen, der sämtliche Interpretationen des afrikanischen Geists immer wieder neu in Frage stellt.

    SCHECK: In Ihrem Roman lassen Sie Ihren Helden Azaro sagen: "Manchmal schien ich mehrere Leben gleichzeitig zu leben". Dies trifft in besonderer Weise auch auf Sie selbst zu: Sie wurden 1959 in Nigeria geboren, verbrachten Ihre ersten Lebensjahre aber in England, wo ihr Vater studierte. Danach kehrten Sie mit Ihrer Familie nach Nigeria zurück und besuchten dort die Schule. Zum Studium gingen Sie dann wieder nach England, heute leben Sie in London. Führen Sie eine Doppelexistenz wie Azaro, Ihr Ich-Erzähler?

    OKRI: Es ist mehr als ein Doppelleben, ich führe mindestens drei oder vier Leben. Ich sage das mit einer gewissen Bedrücktheit und nicht ohne eine Spur von Bedauern. Manchmal sehnt man sich nach der etwas größeren Freiheit, die man früher besaß. Ich lebe ständig in einer Welt, die zwar noch nicht existiert, die aber durchaus vorstellbar ist. Diese Welt erfordert keine großen Revolutionen, keine massiven Umwälzungen im Denken der Menschen, keine neuen Landkarten, keine Völkerwanderungen oder Veränderungen im Nationalcharakter dieser Völker. Diese Welt ist durchaus erreichbar, dazu bedarf es nur einiger kleiner Änderungen hier und dort, eines Wandels unserer Wahrnehmungsweisen. Zum allergrößten Teil halte ich mich schon in dieser anderen Welt auf, aber ich muß natürlich dennoch in unserer jetzigen Welt leben, die so viele Beschränkungen und so viele Vorurteile kennt, in der die Sichtweisen der Menschen so begrenzt sind. Und was noch schlimmer ist, in einer Welt, die von Menschen bevölkert ist, deren Bild von sich und ihren Mitmenschen viel zu häßlich und verzerrt ist. Gegen dieses Bild kämpfe ich an, es fällt mir schwer, mich damit abzufinden. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir viel besser sein können. Wann immer ich von einem neuen Krieg höre, von neuen rassistischen Überfällen, von neuen Vorurteilen der Menschen wegen ihrer Religion oder ihres sozialen Stands, dann sage ich mir: wir sind besser als das. Und das sind wir auch. In Wirklichkeit müßte sich gar nicht so viel ändern. Aber uns lähmt unser mieses Selbstwertgefühl, dieses häßliche Bild, das wir von uns haben. Faulkner hat einmal gesagt, es liegt nur an unserer übermächtigen Angst, daß wir in so beengten geistigen Räumen leben und uns das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Ich lebe also in einer Welt, die nicht existiert, und meist schreibe ich auch von dieser Welt aus.

    SCHECK: Wenn meine Informationen richtig sind, haben Sie bereits als 17jähriger einen Roman geschrieben. Auf englisch liegen von Ihnen zwei Sammlungen mit Erzählungen, ein Band mit Gedichten sowie ein kürzlich veröffentlichter Roman vor, der die Geschichte aus >>Die hungrige Straße << fortführt. Wie sahen die Stationen Ihres literarischen Werdegangs aus? Wann stand für Sie fest, daß Sie Schriftsteller werden?

    OKRI: Der große Goethe, vor dem ich mich verneige und dessen Geist ich anrufe, denn ich befinde mich in seinem Land und bewege mich in seinem gewaltigen Traum, der große Goethe sagt irgendwo, daß es drei Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer künstlerischen Sensibilität gibt: Krankheit in der Jugend, frühzeitiges Reisen und eine Krise oder Leid in der Familie. Ich habe über diese Voraussetzungen lange nachgedacht, und ich glaube, daß der große Mann wie meist völlig recht hat. Inwiefern trifft dies nun auf mich zu? Ich habe meine Heimat sehr früh verlassen, mein Vater nahm mich mit nach England, wo er Jura studierte. Bis zu meinem siebten Lebensjahr mußten wir unter Fremden leben, daher konnte ich nie einfach vorgefertigte Denkschablonen übernehmen oder ein bruchloses Selbstbild entwickeln, sondern mußte in meiner Weltanschauung viel flexibler sein. Als mein Vater sein Studium dann beendet hatte und wir nach Nigeria zurückkehrten, brach dort der Bürgerkrieg aus. Dieser Bürgerkrieg traf unsere Familie in besonderer Weise, denn meine Mutter gehört zum Stamm der Ibo, gegen die es zu Pogromen kam. Während der Kriegszeit haben wir viele Freunde und Verwandte verloren und mußten meine Mutter verstecken. Als Kind bekam ich viel Tod und Grausamkeit zu sehen. Ich habe miterlebt, wie Menschen mit unsäglicher Brutalität übereinander herfielen, die vorher friedlich zusammengelebt hatten, die miteinander befreundet gewesen und Mischehen eingegangen waren. Das alles gehört zu meiner Kindheit und bildet die verborgene Basis meines Schreibens. Ich habe die unglaubliche Schönheit des menschlichen Geistes erfahren, aber ich habe auch das unfaßbare Böse erlebt, zu dem der Mensch fähig ist. Ich kann daher nicht einfach pauschale Annahmen über den Menschen treffen. Auch das ist ist eine Grundvoraussetzen zum Schreiben.

    SCHECK: Verstehen Sie sich als afrikanischer Autor, der auf Englisch schreibt, oder als britischer Schriftsteller, der über Afrika schreibt?

    OKRI: Wenn ich mich schon festlegen muß, dann sollte ich lieber vorausschicken, daß das, was ich nun sage, so bescheiden wie nur möglich gemeint ist und nichts mit Arroganz zu tun hat. Mein großer Traum ist jedenfalls, während meines Lebens so gut es nur geht einen Beitrag für die Menschheit zu leisten. Ich verstehe mich als Wundertäter. Aber natürlich meine ich damit nicht mich als Person, sondern ich versuche, durch mein Schreiben Wunder zu vollbringen. Ich weiß nicht, ob mir das je gelingen wird, aber ich werde mich bis zum letzten Tag meines Lebens mit ganzer Kraft darum bemühen. Mit Wörtern unsere Empfänglichkeit für das Wunderbare zu erhöhen, ist ein herrlicher Beruf und lohnt sehr große Opfer. Mit Kategorien wie 'afrikanischer Autor', 'europäischer Autor', 'britischer Autor' fange ich dagegen nichts an, das interessiert mich nicht. Mir geht es darum, während meines Lebens mit den mir verliehenen Talenten so gut es geht einen Beitrag für die Menschheit zu leisten. Darauf richtet sich mein ganzes Interesse, mal abgesehen davon, daß ich ein gutes Leben führen und ein guter Mensch sein will.

    SCHECK: Dennoch ist in Großbritannien unübersehbar die Bedeutung von Autoren, deren Wurzeln in früheren Kolonien liegen. Als Beispiele ließen sich Kazuo Ishiguro, Salman Rushdie oder V.S. Naipaul nennen. Ist Englisch, die Sprache der früheren Kolonialmacht, die neue lingua franca geworden?

    OKRI: Ich glaube nicht, daß die Sprache das Denken bestimmt. Wenn es so wäre, hätte sich die Sprache nie weiterentwickeln können. Es kommt auf das Denken an, nicht darauf, in welcher Sprache sich dieses Denken manifestiert, denn Sprachen lassen sich erweitern. Es scheint nur so, als ob die Schriftsteller aus den ehemaligen britischen Kolonien nun in den Vordergrund treten. Dieser Eindruck ist entstanden, weil der Westen ein ernstes Verbrechen begangen hat, nämlich das Verbrechen, nicht die Berechtigung der geistigen, ästhetischen, künstlerischen und psychischen Ausdrucksformen aller Völker dieser Welt anzuerkennen. Aber wo immer Menschen leben, sind auch Träume lebendig, wo Menschen leben, sind in irgendeiner Form auch Kunst und einzigartige Sichtweisen der Welt lebendig. Wir müssen allen diesen Menschen und Ausdrucksformen ihre Berechtigung zugestehen. Dazu bedarf es nicht mehr, als daß wir unsere Augen aufmachen. In dem Moment, wo man mit offenen Augen und Ohren an diese Orte geht, findet man dort ein außergewöhnliches Leben. Es ist einfach so, daß der Westen heute zum alleresten Mal diesen einzigartigen Träumen aus Afrika, Indien, China, Japan und verschiedenen anderen Ländern der Welt Beachtung schenkt.

    SCHECK: Sehen Sie sich als Vertreter einer neuen "Weltliteratur", Weltliteratur in dem Sinne, daß deren Repräsentanten in der Regel mindestens zwei Kulturen aus eigener Anschauung kennengelernt haben und aus diesen Perspektiven schreiben?

    OKRI: So etwas hat sich in der Geschichte der Menschheit schon seit langer Zeit ereignet, und in gewisser Weise hängt Kreativität sogar von einem solchen Zusammenfließen unterschiedlicher Strömungen ab. Die Entstehung einer neuen Art von Weltliteratur ist in meinen Augen ganz unvermeidlich. Die Welt wird nämlich Gott sei Dank immer kleiner. Heute sind zwar mitunter mehr Visa als früher nötig, um von einem Land zum anderen zu reisen, aber der Visumzwang für das Hin- und Herreisen zwischen den Ländern der Gedanken ist zum Glück endgültig abgeschafft. Gedanken überschreiten Grenzen mit atemberaubender Geschwindigkeit. Jeder, der sich heute hinsetzt und einen Roman schreibt, ohne die neuesten Entwicklungen und Tendenzen in dieser Prosaform zu kennen, ist entweder ein Ignorant oder ein ausgemachter Narr. Wenn ich zum Beispiel in ein Land wie Deutschland komme, dann frage ich sofort jeden Literaturinteressierten, was machen eure Schriftsteller? Über welche Autoren spricht man, wer versetzt das Land in Erstaunen? Ich will diese Autoren kennenlernen, ich will sie lesen. Das ist die Pflicht des Schriftstellers. Wir können es schließlich nicht nur den Naturwissenschaften überlassen, unsere materielle Welt immer stärker zu verändern und die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, immer weiter zu steigern. Auch wir Künstler haben die Pflicht, Veränderungen im Geist der Menschen und im Wesen der Kunst herbeizuführen. Während wir dem 21. Jahrhundert entgegenspurten, wird es auch zu einer Beschleunigung im künstlerischen Bewußtsein kommen, zu einer globalen Ausweitung dieses Bewußtseins. Und das ist gut so. Unser Jahrhundert mitsamt seinen Vorurteilen und seiner Engstirnigkeit nähert sich dem Ende. Ich zumindest weine dem 20. Jahrhundert keine Träne nach. Ich wage die Voraussage, daß man im 21. Jahrhundert über Bücher und künstlerische Leistungen, über die Schönheiten der Literatur und Kunst nicht in nationalen Begriffen sprechen wird. Wir werden diese Begriffe als zu beengend und zu langweilig empfinden. An ihre Stelle werden Wahlverwandtschaften treten, wir werden von Büchern reden, die einen Reigen tanzen, die in Harmonie zueinander stehen, die zur selben Ideenfamilie gehören, so wie Wole Soyinka und Goethe und vielleicht Sophokles. Wir werden neue Traditionslinien entdecken und neue Möglichkeiten, über Literatur zu sprechen. Von Kurt Vonnegut stammt die Idee, daß jeder Mensch zwei Arten von Familien hat: die eine, in die man hineingeboren ist, und die andere, die man sich in der Welt selbst suchen muß. Dasselbe gilt für Bücher. Ich sage dies, weil ich glaube, daß wir die alten Kategorien zerstören und neue Kategorien schaffen sollten. Erst dann werden die Bücher, die wir bisher mit solch mattem Blick und so geringer Aufmerksamkeit gelesen haben, plötzlich auch wieder von den Dingen zu uns sprechen, die zu wissen lebensnotwendig für uns ist.