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Ein gläubiger Häretiker
Pier Paolo Pasolini - unkonventionell religiös

Zeit seines Lebens rang der Filmregisseur Pier Paolo Pasolini um angemessene und zeitgemäße religiöse Darstellungsformen – trotz aller tiefgründigen Zweifel, mit denen der italienische Katholik zu kämpfen hatte.

Von Klaus Englert | 09.09.2015
    Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini bei Dreharbeiten 1962 in Rom
    Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini bei Dreharbeiten 1962 in Rom (dpa / picture alliance / UPI)
    "Ich möchte mit diesem Film meinen innerlichen, archaischen Katholizismus ausdrücken."
    Der Filmregisseur Pier Paolo Pasolini lässt dieses Selbstbekenntnis den berühmten Kollegen Orson Welles zitieren. In La Ricotta spielt der Amerikaner einen Regisseur, der in Italien einen Christus-Film drehen soll.
    Der außergewöhnlichen Filmproduktion merkt man schnell an, dass Pasolini bemüht war, neue ästhetische Maßstäbe für den religiösen Film zu erfinden und das Kino zu revolutionieren. Zeit seines Lebens rang Pasolini um angemessene und zeitgemäße religiöse Darstellungsformen – trotz aller tiefgründigen Zweifel, mit denen der italienische Katholik zu kämpfen hatte.
    In La Ricotta sitzt Orson Welles auf einem Regiestuhl und erwartet die Fragen eines einfältigen Reporters. Am Ende des kurzen Interviews entlässt er den verdutzten Journalisten, doch bevor dieser den Set verlässt, zieht er plötzlich das Buch "Mamma Roma" aus der Tasche. Und er liest dem Reporter eine Passage daraus vor:
    "Das ist ein Gedicht. Im ersten Teil beschreibt der Dichter künstliche Ruinen, deren Geschichte und Baustil niemand mehr versteht, danach grauenvolle moderne Architektur, die jeder versteht. Zusammenfassend sagt der Dichter: 'Ich bin eine Kraft aus der Vergangenheit. Meine Liebe gehört einzig der Tradition. Ich komme von den Ruinen, den Kirchen, den Altären, ich stamme aus vergessenen Apennin-Dörfern und von den Gebirgshängen der Alpen, wo unsere Brüder leben. Auf dem Tuskanischen Weg wandle ich wie ein Verrückter, auf dem Apennin-Weg wie ein herrenloser Hund. Ich sehe das Gegenlicht, die Morgendämmerung über Rom, über der Ciociaria und der Erde wie die ersten Akte nach unserer Geschichte, der ich beiwohne, weil mir das Privileg zukommt, aus dem entlegensten Winkel eines untergegangenen Zeitalters zu stammen. Wie ein Monster wird der Mensch aus den Eingeweiden einer toten Frau geboren. Und ich, ein toter Fötus, wandle, moderner als jeder andere Moderne, auf der Suche nach Brüdern, die es nicht mehr gibt.'"
    Von der tiefen Verzweiflung des Poeten
    La Ricotta handelt nicht nur von der tiefen Verzweiflung des Poeten. Im Grunde zielt der Film auf die Schwierigkeit, sich dieser Verzweiflung zu entledigen. Denn die läge, so legt es der Film nahe, in einer religiösen Erfahrung, die aus dem Volk kommt. Dem Schwanken zwischen Fatalismus und Hoffnung, zwischen Demut und Armut. La Ricotta offenbart die Fallstricke, die überwiegend darin bestehen, einen Christusfilm drehen zu wollen. Dabei stellt der Kurzfilm die Probleme offen dar: Denn er besteht aus zwei völlig disparaten, eigenständigen Sequenzen über den Kreuzestod:
    Der erste Teil spielt in der Romagna mit Figuren aus dem einfachen Volk, mit dem Tagelöhner Stracci als Christus. Die zweite erstarrt in einem unnatürlichen Raum, bevölkert von Darstellern, die wie aus dem Leben gerissen sind. Pasolini versuchte keineswegs, diese getrennten Filmwelten zusammenzufügen. Im Grunde zerbricht La Ricotta in zwei Filme: In einen religiösen Film, der sich an den einfachen Lebensweisen des Volkes ausrichtet, und einen schwülstigen Bibelfilm à la Hollywood.
    Pasolini drehte La Ricotta 1962 für eine Serienproduktion, an der sich Jean-Luc Godard, Roberto Rossellini und Ugo Gregoretti beteiligten. Als der 40-jährige Pier Paolo Pasolini den Episodenfilm drehte, war er in seiner Heimat kein Unbekannter mehr. Denn in den fünfziger Jahren erlangte der Dichter und Schriftsteller durch die Romane "Ragazzi di vita" und "Una vita violenta" nationale Bekanntheit.
    Sein älterer Schriftsteller-Kollege Alberto Moravia berichtet, wie Pasolini in seiner Heimat im Friaul zum Dichter des bäuerlichen Lebens wurde. Und später, als Lehrer in einer römischen Privatschule, zum Poeten des subproletarischen Milieus.
    "Neben der Liebe gab es am Anfang die Armut. Pasolini war aus dem Norden nach Rom emigriert, wohnte in einer bescheidenen Unterkunft am Stadtrand und verdiente seinen Lebensunterhalt als Mittelschullehrer in den Vororten. In jene Zeit fällt seine große Entdeckung des Subproletariats als revolutionäre Gegengesellschaft, vergleichbar der frühchristlichen Gesellschaft, das heißt als Vermittlerin einer unbewussten Botschaft der Demut und Armut im Gegensatz zum hedonistischen Nihilismus der Bourgeoisie."
    Weg jenseits der katholischen Kirche
    Das Leben in den römischen Vorstädten verstärkt in Pasolini das Bedürfnis, einen Weg jenseits von katholischer Kirche und dogmatischem Kommunismus zu suchen. Das Fundament des neuen Glaubens fand er – wie Moravia bestätigt – in einer säkularen, diesseitigen Religion:
    "Die Entdeckung des Subproletariats verwandelt seinen bis dahin wahrscheinlich orthodoxen Kommunismus zutiefst. Sein Kommunismus kann also kein aufklärerischer und noch weniger ein wissenschaftlicher sein. Es kann also kein marxistischer Kommunismus sein, sondern ein populistischer und romantischer, ein von nationalem Mitgefühl, sprachlicher Nostalgie und anthropologischer Reflexion stimulierter, der in der archaischsten Tradition wurzelt und gleichzeitig in die abstrakteste Utopie sich verlängert. Es erübrigt sich hinzufügen, dass ein derartiger Kommunismus zutiefst emotional war im Sinne einer existenziellen, kreatürlichen, irrationalen Erfahrung."
    Diese Lebenserfahrung, die Pasolini als junger Lehrer und in seinen homosexuellen Liebesbeziehungen machte, prägte auch seine Dichtkunst.
    Pasolinis frühe Lyrik orientierte sich am Leben der Menschen, die die Felder des Friaul bewirtschafteten. Und die die Sprache der Politiker und Wirtschaftsbosse nicht verstanden. Seine Sprache änderte sich kaum, als er in die Vororte Roms eintauchte: Sie war riskant, intim und sinnlich. Von den artistischen Sprachspielereien des "l'art pour l'art", die man in der Kunst-Metropolen zelebrierte, distanzierte er sich. In einem Interview setzte Pasolini das proletarisch-vorkatholische Rom gegen das bürgerlich-katholische ab:
    "Rom ist alles Mögliche, nur keine katholische Stadt. Es ist eine vorkatholische Stadt von epikureischer und stoischer Prägung. Von einem jungen Römer der proletarischen Schicht wird die Realität durch die stoische und epikureische Erlebnisweise erfahren. Ihr 'Witz' drückt sich innerhalb ihrer Realität aus. Es gibt keine andere für sie."
    An anderer Stelle bekennt Pasolini über die Menschen, die in Accatone und Mamma Roma die römischen Vororte bevölkern:
    "Dieses Volk ist bewaffnet nur mit seinen Sinnen, seinem Glück und seiner tierischen Freude. Es ist umso heiliger je animalischer es ist."
    Diese Menschen partizipieren nicht an der bürgerlichen Selbstgenügsamkeit. Pasolinis Empathie gilt der Welt der Ausgestoßenen. Deswegen identifiziert er sich in seiner Verfilmung des Matthäus-Evangeliums mit Jesus.
    "Wahrlich ich sage Euch, bevor Ihr ins Reich Gottes eingeht, kommen die Dirnen und Zöllner hinein. Kam doch Johannes zu Euch auf dem Weg der Gerechtigkeit und Ihr habt nicht auf ihn gehört. Es glaubten ihm aber die Zöllner und Dirnen."
    Pasolini war sich immer bewusst, dass ihn sein bürgerliches Intellektuellen-Dasein von der Welt des Subproletariats, der Tagelöhner, Prostituierten, Diebe und Bettler trennt. Diese Trennung vertiefte sich, als der junge Lehrer durch seine homosexuellen Neigungen nicht nur mit der katholischen Kirche, sondern auch mit der Kommunistischen Partei in Konflikt geriet. Er wurde in einen Sex-Skandal hineingezogen. Nachgewiesen werden konnte ihm nichts. Die Folge: Er wurde von der Kirche bloßgestellt und von der Kommunistischen Partei exkommuniziert.
    "Man könnte denken, dass der einzige Ausweg für einen bürgerlichen Schriftsteller, der nicht mehr katholisch ist und kein Kommunist sein kann in einem heftigen Antikonformismus besteht, dessen Verzweiflung nur Entschädigung findet in der tröstenden Fähigkeit zum Ausdruck, zur Dichtung."
    Aber auch in der Kunst war Pasolini ein Getriebener. Die Dichtung genügte ihm nicht mehr. Jetzt, Anfang der sechziger Jahre, wollte er neue Ausdrucksmöglichkeiten erproben, er fühlte sich berufen, zum Film zu wechseln, ein "Kino der Poesie" zu schaffen. Doch seinen grundlegenden persönlichen Konflikt löste er nicht.
    In La Ricotta ließ er noch Orson Welles sagen: Er – Pier Paolo Pasolini, Dichter und Filmautor - bleibe dem Erbe vergessener Kulturen treu. Doch verkenne er nicht, zur Einsamkeit verdammt zu sein – als "herrenloser Hund" auf der Suche nach den "Brüdern", die es nicht mehr gibt.
    Und der Ausweg: Pasolini fand ihn im Volks-Kommunismus und in der vorkatholischen, urchristlichen Gemeinde. Für ihn waren das zwei Seiten einer Medaille: der mystischen Erfahrung. Alberto Moravia sprach vom "christlichen Kommunismus", der die Wurzel von Pasolinis Dicht- und Filmkunst ausmache. Der umstrittene Regisseur bestätigt Moravias Sichtweise:
    "Ich habe in dem Gedicht 'Una disperata vitalità' geschrieben, dass ich Kommunist bin, weil ich konservativ bin. Ich glaube, wenn ich so sehr auf dem Heimweh nach dem Sakralen insistiere, dann deshalb, weil ich den alten Werten verbunden bleibe. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie das Opfer einer künstlichen beschleunigten Entwicklung sind, eines ungerechtfertigt verfrühten Vergessens".
    "Das Heimweh nach dem Sakralen"
    "Das Heimweh nach dem Sakralen" – das ist die Triebkraft von Pasolinis frühen Filmen Accattone, La Ricotta, Mamma Roma und Das Evangelium nach Matthäus. Diese Filme, die innerhalb weniger Jahre entstanden, beweisen, dass Pasolini aus seinem Konflikt eine unvergleichliche künstlerische Kraft schöpfte.
    Bereits Accattone von 1961 ist ein meisterhaftes Filmdokument, in dem sämtliche Elemente aus dem Pasolinischen Kosmos bereits vollständig erkennbar sind: Laiendarsteller, Außenseiter-Figuren, römische Vororte, vereinsamte "Helden", Leben ohne Hoffnung, Wunsch nach Erlösung. Schweigen. Accattone kam 1963 mit einem Goethe-Vers als Titel "Wer nie sein Brot mit Tränen aß" in die deutschen Kinos. Protagonist ist der Zuhälter Vittorio – genannt Accattone, der "Bettler" –, der zusehends in einen Abwärtsstrudel gerät, entsprechend den Höllenkreisen von Dantes "Divina Commedia".
    Nach und nach verlassen ihn Frau und engste Verwandte, schließlich die einzige Prostituierte, die ihn später an die Polizei verrät. Zwar verliebt sich Accattone in die junge Stella, drängt sie aber dennoch zur Prostitution. Seinen kleinen Sohn bestiehlt er, um ihr passende Kleider fürs Gewerbe kaufen zu können. Schließlich, nachdem Stella seinen Verrat bemerkt hat, sagt er ihr:
    "Lass Deine Seele zu Hause. Da hilft keine Hölle mehr und kein Himmel."
    Sein Lebenspessimismus hilft Accattone jedoch nicht, die früh sichtbaren Anzeichen, die auf seinen Absturz hindeuten, wahrzunehmen. Ein Freund, der sich als Prophet ausgibt, weissagt ihm in biblischer Diktion:
    "Accattone, hör auf den Propheten. Heute verkaufst Du den Ring, morgen das Amulett und das Kettchen. Bevor sieben Tage vergangen sind, wirst Du die Uhr verkaufen, und in 77 Tagen wird nichts mehr übrig sein, nicht einmal die Augen, um zu weinen."
    Tatsächlich ist Accattones Weg in Vereinsamung und Tod vorgezeichnet. Doch sehenden Auges ignoriert er die Zeichen. Kurz vor dem Ende seines Leidenswegs bemerkt er auf der Straße einen Leichenzug, dem er sich anschließt. Als die Trauergemeinde den Friedhof erreicht, stellt sich der Wärter ihm entgegen und verschließt das Tor. Accattone sieht, ohne wirklich zu sehen.
    An anderer Stelle variiert Pasolini die Szene des blind in sein Schicksal laufenden Helden: Als er Tage zuvor eine breite Ausfallstraße in seinem Wohnviertel entlang geht, überquert plötzlich eine Trauerprozession die Straße. Die Einstellungssequenz besitzt keine Tonspur, so als wolle Pasolini auf die Sprach- und Verständnislosigkeit Accattones hinweisen.
    Das Ende des Films schweißt die Schicksalsgestalten aus Accattone, La Ricotta, Mamma Roma und Il vangelo secondo Matteo zusammen. Accattone findet Erlösung im Tod, den er nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei.
    Christologische Motive
    Christologische Motive setzt Pasolini an den Schluss von Mamma Roma: Ettore, Sohn der Prostituierten Mamma Roma, zerbricht an der Lebensweise der Mutter, driftet ab in die Kriminalität, wird verhaftet und landet schließlich in der Psychiatrie, wo er auf einer "Besserungsbank" festgeschnallt wird.
    Die Kamera zeigt den auf der Pritsche gefesselten Ettore in frappanter Untersicht - ein filmisches Zitat von Mantegnas "Cristo morto", das den aufgebahrten Christus ebenfalls in starker Untersicht zeigt. In der dramatischen Schluss-Sequenz, in der Ettore die Haltung des Gekreuzigten annimmt, ruft er aus:
    "Mamma, warum tun die mir das an?"
    Zwei Jahre nach Mamma Roma dreht Pasolini die Kreuzigungsszene aus dem Matthäus-Evangelium. Pasolini, der sich exakt an den Evangeliums-Text hält, lässt Jesus am Kreuz rufen:
    "Mein Vater, warum hast Du mich verlassen?"
    Ettore, der Sohn einer Hure, bleibt der ewige Außenseiter. Jesus, der Sohn des Zimmermanns, ist für die jüdische Oberschicht der Verräter an der Religion. Beide Figuren lässt Pasolini am Kreuz sterben.
    Pasolinis Kameraführung ist parteiisch und einfühlsam. Die Kamera mischt sich unter die Jünger und unters Volk, aus der Distanz wohnt sie dem Verhör Jesu bei. Nicht die Hohenpriester, nicht Pilatus, auch nicht Jesus stehen im Mittelpunkt, sondern das namenlose Volk, für das Jesus seine Opfer bringt. Für den Autor der "Ketzererfahrungen" ist der Gekreuzigte ein Mann aus dem einfachen Volk, ein Ketzer aus Palästina. Ein Aufwiegler gegen jüdische Orthodoxie und das Kastenwesen der Religionshüter. Aber auch ein Religionsstifter, der kämpferisch für den neuen Glauben eintritt.
    Als Mitte der sechziger Jahre Il vangelo secondo Matteo in die Kinos kam, bekannte der marxistische Atheist Ernst Bloch:
    "Das Beste an der Religion ist, dass sie Ketzer schafft. Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein."
    Auch Friedrich Nietzsche war ein gläubiger Häretiker, ein Zweifelnder und Suchender, der gegen eine formelhafte, unlebendige Religion polemisierte. Ebenso wie Pasolini verteidigte der Italien-Liebhaber und Bibel-Kenner Nietzsche den rebellischen, für den neuen Glauben streitenden Jesus:
    "Der Aufstand gegen die jüdische Kirche war ein Aufstand gegen die Kaste, das Privilegium, die Ordnung, die Formel. Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßenen und 'Sünder', die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief war ein politischer Verbrecher."
    Der deutsche Philosoph gesteht, dass ihn Heiligen-Legenden immer langweilten. Diese Abneigung teilt auch Pasolini:
    "Vielleicht hätte ich eine positivistische oder marxistische Rekonstruktion zustande gebracht und dabei höchstens ein Leben erzählen können, wie es einer der 5000 oder 6000 Heiligen geführt hat, die seinerzeit in Palästina gepredigt haben. Ich wollte das nicht machen, weil ich nicht an Entweihungen interessiert bin. Wenn ich die Geschichte Christi erzähle, dann habe ich nicht Christus rekonstruiert, wie er wirklich war. Wenn ich diese Geschichte wirklich rekonstruiert hätte, dann hätte ich keinen religiösen Film gemacht. Denn ich bin kein gläubiger Mensch."
    Pier Paolo Pasolini bekannte, angetrieben habe ihn das "Heimweh nach dem Sakralen", nach einer christlichen Volksreligion, nach einem archaischen Verständnis von Mythos.
    Die Dinge re-mythologisieren
    Diese Haltung zeigt sich in Il vangelo secondo Matteo an der sehr einfachen Filmsprache – dem Schwarz-Weiß-Material, langsamen Kamerafahrten und der betont gestischen Sprache, die zumeist ohne Worte auskommt, dem langen Schweigen. Natürlich gehören zum mythologischen Pasolini-Kosmos auch die zahlreichen Laiendarsteller, die aus Apulien, Lukanien und Kalabrien stammen:
    "Ich möchte den Dingen – so weit wie möglich – wieder ihre Weihe geben, sie re-mythologisieren. Ich wollte nicht zeigen, wie das Leben Christi wirklich war. Mir lag an seiner Geschichte und ihrer 2000-jährigen christlichen Übersetzung, weil es diese 2000 Jahre Christentum sind, die seine Biographie mythologisiert haben, die sonst fast unbedeutend gewesen wäre. Das Leben Christi aus 2000 Jahren über das Leben Christi – das ist mein Film."
    Als Il vangelo secondo Matteo erstmalig in Venedig gezeigt wurde, löste er heftige Kontroversen aus. Neofaschistische Randalierer warfen dem Regisseur vor, "eine Quelle des christlichen Abendlandes zu beschmutzen". Linke Kritiker sahen in der Matthäus-Verfilmung einen "konformistischen Film", der "nicht radikal genug mit der traditionellen Bibelexegese gebrochen" habe.
    Trotz aller Kontroversen überrascht es, dass die katholische Kirche den Film allgemein wohlwollend aufnahm. Man erkannte in ihm die spirituelle Tradition des italienischen Katholizismus.
    Produzent Alfredo Bini berichtete, für römische Konzilsväter sei eigens eine Sondervorstellung organisiert worden. Selbstverständlich war es auch in der Kirche bekannt, dass Pasolini ein kommunistischer Homosexueller war. Trotzdem ließen sich etwa hundert kirchliche Würdenträger in Taxis zur Filmvorstellung chauffieren. Am Ende gab es sogar 20 Minuten lang standing ovation.
    Die Kirchenmänner waren beeindruckt, als sie im Vorspann die Widmung an Papst Johannes XXIII. lasen. Der reformorientierte und volkstümliche Papst war während der Dreharbeiten zu Il vangelo secondo Matteo gestorben.
    Pasolini sympathisierte mit Johannes XXIII., der das II. Vatikanische Konzil einberufen hatte und eine Erneuerung der katholischen Kirche einleitete. Der kommunistische Regisseur hatte die Hoffnung, dass dieser Papst beabsichtigte, die Kirche noch unten und nach links zu öffnen.
    "Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein."