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Ein Glücksfall

Jette Steckel, Jahrgang 1982, ist die Tochter des Theaterregisseurs und einstigen Bochumer Intendanten Frank-Patrick Steckel. Sie hat Inszenierungen vorgelegt, die jugendliche Unverfrorenheit bereits mit klugen, abgeklärte Recherchen und Spielideen verbinden. Für die "Othello"-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin allerdings hat sie den Vater um Unterstützung gebeten.

Von Michael Laages |
    Einer der Hauptdarsteller steht gar nicht auf der Bühne, und er holt sich am Schluss auch keinen Beifall ab - Frank-Patrick Steckel hat die von Tochter Jette und der Dramaturgie erarbeitete Fassung des Shakespeares-Klassikers derart furios übersetzt, dass auch Kennern schier die Ohren klingeln. Worte kommen darin vor wie "Remmidemmi" und "Bordsteinschwalbe"; aber nicht einen Moment lang in etwas mehr als zwei pausenlosen Stunden erweckt der Text den Eindruck, er wolle nun forciert modern und von hier und heute sein.

    Stattdessen wird die blanke Lust hör- und spürbar, den an sich ganz klar und konventionell grundierten "Sound" des Textes akkurat im richtigen Augenblick aufzubrechen mit Formulierungen, die dem bearbeitenden Übersetzer in diesem Moment genau so und nicht anders in die Fantasie geschossen sind. Wie sagt Jette Steckel über den Vater im Programmheft: "Papa ist der Beste." Wo sie recht hat, hat sie recht.

    Sie hat auch sonst ziemlich oft recht an diesem weithin hinreißenden Premierenabend - in den Grundentscheidungen, mit denen und von denen aus sie den bekannten Stoff einleuchtend und überzeugend erzählt. Wenn auch nicht unbedingt neu - auch schon in Köln und Hannover kamen Regisseure auf die Idee, aus Othello OthellA zu machen, den doppelt tödlich von Eifersucht zerfressenen Kriegsherrn und "Mohren" von Venedig mit einer Frau zu besetzen. Das reduzierte halt immer die vordergründig erotische Komponente der Figurenkonstellation, und ließ die Außenseiterschaft von Othello (oder eben Othella) stets eher aus anderen als privaten, sondern grundsätzlich gesellschaftlichen Motiven erwachsen.

    Steckel geht noch einen Schritt weiter - die beiden Frauen, Othella und Desdemona, sitzen lieblich knutschend in der zweiten Reihe; und sie mögen einander so heftig, dass das Publikum (hier in Gestalt eines gewesenen Chefs einer gewesenen Fernseh-Kultursendung) fast peinlich pikiert neben den Liebenden hockt. Rodrigo, der arme Hund im Stück, der für die Hoffnung auf die venezianische Patriziertochter Desdemona den Intriganten Jago aufstachelt und dabei Hab und Gut dran gibt (und am Schluss sogar erst ein fremdes und dann das eigene Leben), dieser Rodrigo filmt das Frauenpaar beim Liebesspiel mit der Videokamera; und der ganze erste Akt (in dem der Feldherr von der Regierung in Venedig den Kriegseinsatzbefehl erhält und die Liebe zu Desdemona erfolgreich gegen den Vater verteidigt) findet komplett im Zuschauerraum statt. Auch das ist nicht neu – aber selten, vielleicht noch nie so klug, rabiat und direkt gespielt wie hier.

    Überhaupt setzt die junge Steckel auf starke Emotion; während ihr der alte im Text kluges intellektuelles Unterfutter liefert. Hier wird (speziell vom knallhart-coolen, jungen Ole Lagerpusch als Jago) kräftig zur Sache gegangen, gern abstrakt überhöht – die Intrige etwa, dem Othellas Favorit Cassio (hier offenbar ein fast trockener Trinker) zum Opfer fällt, ist ein ziemlich musikalisches Sauf- und Raufgelage; dank eines Human-BeatBox-Sprechers am Mikrofon. Das sind, vor allem in der Rap-Musik, Stimmakrobaten, die mit Mund und Rachen wirklich alles imitieren können – hier ist der Effekt vielleicht gelegentlich ein wenig zu fett gesetzt, um komödiantische, ja Clowns-Effekte zu erfinden.

    Aber im Übrigen funktioniert Othello als Othella prächtig – Susanne Wolff, die stärkste Schauspiel-Kraft aus Hamburger Thalia-Beständen, die Ulrich Khuon bislang in Berlin präsentiert hat, erzählt so selbstverständlich wie nur irgendwas ihre Liebes- und Eifersuchtsgeschichte mit der jungen Meike Droste als Desdemona, die bis kurz vor Exitus lust- und liebesfroh und heiter und immer ein Sonnenscheinchen bleibt. Othella muss auch nie schwarz sein – im Gegenteil: Als endgültig der Hass aus Eifersucht von ihr Besitz ergreift, schminkt sie sich extra weiß; um dann allerdings (wie zuvor schon mal die geliebte Desdemona) in ein schwarzes Gorilla-Kostüm zu schlüpfen. Kurz vor dem Morden ist sie dann aber auch noch mal "grand dame”, mit Blond-Perücke und knallrotem Party-Kleid, nachdem sie zuvor als Feldherr mit jungenhaft kurzem und nur als Liebende und Mörderin mit offen-langem Haar zu sehen war – derart zerrissen und aufgelöst in der Persönlichkeit war lange kein Othello. Und selbst der Selbstmord zum Schluss ist wie ein mababer-lustvolles Spiel für ihn.

    Zugegeben: Speziell die optischen Verwandlungen und akustischen Sound-Tricks sind gewöhnungsbedürftig und wirken ein wenig wie auf Effekt gesetzt. Der Grundbehauptung vom immer wieder anderen, letztlich unerkennbar-undurchschaubaren Ich im Zustand von Verführung und Raserei schaden die Effekte aber nicht, die Aufführung hat außerordentlich sicheres Tempo und Timing und erlaubt sich nur ganz wenige Atempausen. Und wo sie szenisch mal Luft holen muss, steht schon die Übersetzung parat – und stärkt den Rücken.

    Keine Ahnung (und im übrigen auch egal), ob Vater und Tochter immer zufrieden miteinander waren – an diesem Abend jedenfalls dürfen wir uns die Steckels als glückliche Familie vorstellen. Was ja was heißen will, nicht nur im Theater.