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Ein Großer der deutschen Publizistik

Als Sebastian Haffner 1999 starb, da war er fast vergessen. Doch dann wurde posthum seine "Geschichte eines Deutschen" zu einem sensationellen Erfolg. Jürgen Peter Schmied ist nun eine Biografie Haffners gelungen, die klug die Balance zwischen einfühlender Nähe und kritischer Distanz hält.

Von Volker Ullrich |
    Jürgen Peter Schmied hat als Erster den umfangreichen Nachlass Haffners im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde ausgewertet und dabei sind ihm manche Entdeckungen gelungen. Zu den spektakulärsten gehört ein Tagebuch, das der junge Raimund Pretzel, wie Haffner damals noch hieß, zwischen 1919 und 1927, also von seinem zwölften bis zum 20. Lebensjahr, geführt hat. Sie zeigen den Sohn eines liberalen preußischen Schulrektors als einen erstaunlich belesenen, kulturell vielseitig interessierten, aber auch etwas altklug-überspannten Gymnasiasten, der schon früh von einer Karriere als Schriftsteller träumte.

    Ich glaube an meine Pflichten. Ich glaube an mein Werk, notierte der Dreizehnjährige im August 1921, nachdem er sich vorgenommen hatte, eine Geschichte des Gallischen Krieges zu schreiben. Angesichts solch hochfliegender Pläne konnten Enttäuschungen nicht ausbleiben.

    Mit 16 wollte ich die Welt ändern, mit 18 eine große Biografie haben, mit 20 werde ich zufrieden sein, wenn ich Stellung und Geld für ein amüsantes Leben haben werde; mit 22 bin ich dann wahrscheinlich reif für den Amtsrichter in Oberschlesien.

    So klagte er im September 1927, nachdem er sich auf Wunsch des Vaters entschlossen hatte, ein Jurastudium zu beginnen. "Amtsrichter in Oberschlesien" wurde Raimund Pretzel dann doch nicht. Denn nach 1933 kam für ihn ein Posten im Staatsdienst nicht mehr infrage. Dass er im Unterschied zu vielen seiner Altersgenossen aus bildungsbürgerlichem Milieu gegen die Verführung Hitlers gefeit war, führt Schmied zum einen zurück auf das hoch entwickelte ästhetische Empfinden des dandyhaften jungen Mannes, dem die Vulgarität der Nationalsozialisten zutiefst zuwider war, zum anderen auf seinen eingefleischten Widerspruchsgeist, der sich durch den totalen Herrschaftsanspruch der neuen Machthaber herausgefordert fühlte. Eindrucksvoll wird beschrieben, wie sich der gelernte Jurist in den ersten Jahren des "Dritten Reiches" als Journalist in einer Nischenexistenz einrichtete, ohne sich politisch zu kompromittieren. In den Feuilletons, die er vorwiegend für Unterhaltungsblätter des Ullstein Verlages schrieb, verstand er es immer wieder geschickt, durch versteckte Anspielungen und verschlüsselte Botschaften seine Ablehnung des Regimes zum Ausdruck zu bringen. Noch höher rechnet ihm Schmied an, dass er seiner jüdischen Freundin und späteren Frau Erika Schmidt-Landry, die von ihm schwanger war, im August 1938 ins englische Exil folgte.

    "Rasante Karriere" ist das Kapitel über die Jahre der Emigration überschrieben. Bei Kriegsende war aus dem Nobody, der die englische Sprache noch kaum beherrschte, einer der einflussreichsten politischen Journalisten Großbritanniens geworden. Ausschlaggebend für diese ungewöhnliche Erfolgsgeschichte war, wie der Autor hervorhebt, nicht nur das große Talent, sondern auch der enorme Fleiß des Emigranten. Seine "Geschichte eines Deutschen" brachte er in wenigen Monaten zu Papier, ebenso das anschließende Manuskript über die inneren Verhältnisse in Nazi-Deutschland, das unter dem Titel "Germany: Jekyll and Hyde" im Mai 1940 erschien. In beiden Frühwerken erkennt Schmied bereits Elemente, die den späteren politischen Journalisten und historischen Essayisten auszeichnen sollten: eine pointenreiche, zupackende Sprache, kombiniert mit psychologischem Scharfsinn und dem Mut zu originellen Thesen auf der einen, den Hang zur überschießenden Polemik, zu einseitigen Urteilen und allzu einfachen Problemlösungen auf der anderen Seite. So beendete er sein zweites Buch mit der Forderung, Deutschland in acht Teilstaaten aufzulösen:

    Die Deutschen müssen bis zu jenem Punkt zurückgehen, wo sie den falschen Weg eingeschlagen haben – bis zum Jahr 1866.
    "Germany: Jekyll and Hyde" öffnete Sebastian Haffner, wie er sich nun nannte, die Tür zur angesehenen britischen Sonntagszeitung, dem "Observer". Jürgen Peter Schmied hat intensiv auch in englischen Archiven und Privatnachlässen geforscht. So kann er viel Neues berichten über die Atmosphäre in der "Observer"-Redaktion, vor allem aber über die Freundschaft Haffners zu David Astor, dem Sohn des Eigentümers, der in allen Konflikten die Hand über seinen Schützling hielt. Aufmerksamen Lesern seiner Artikel fiel freilich bald eine gewisse Sprunghaftigkeit auf.

    Unsere Unterlagen zu Raimund Pretzel sind bemerkenswert für ihre Unstimmigkeit über seine politischen Ansichten, zitiert der Autor aus einer Akte des britischen Inlandsgeheimdienstes von 1946. Die häufigen Positionswechsel des Journalisten sind in der Tat das irritierendste Phänomen der Haffnerschen Biografie, und ihnen widmet Schmied denn auch zu Recht ein Hauptaugenmerk. Trat Haffner nach 1945 zunächst für eine Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion ein, so warb er nach seiner Rückkehr als "Observer"-Korrespondent nach Berlin Anfang 1954 für Entspannung, schwenkte nach dem Berlin-Ultimatum Nikita Chrutschtschows vom November 1958 wieder auf eine harte Linie um. Mit der "Spiegel"-Affäre vom Herbst 1962 folgte ein abermaliger abrupter Wechsel. Haffner ging von Springers "Welt" zur Illustrierten "Stern" und mauserte sich hier zu einem leidenschaftlichen Verfechter einer "Neuen Ostpolitik". Und als immerhin schon 60-Jähriger entdeckte er sein Herz für die rebellierenden Studenten.

    Haffners Gegner haben ihm immer wieder Opportunismus vorgeworfen. Dem widerspricht Schmied entschieden. Haffner habe, wenn er anderer Meinung war, keinen Konflikt mit seinen Arbeitgebern gescheut und dabei auch berufliche Nachteile in Kauf genommen. Die Ursache für die rasanten Rochaden seines Protagonisten sieht er in dessen Persönlichkeit begründet, vor allem in der spielerischen Veranlagung seines Intellekts und seiner unbändigen Lust an der Provokation.

    Am Donnerstag musste ich einen Knallfrosch abliefern. Das tat ich ganz gerne, das muss ich zugeben, hat er rückblickend seine Kolumnistentätigkeit für den "Stern" beschrieben. Dass er, um seine Artikel mit maximaler Durchschlagskraft auszustatten, immer wieder kräftig überzog, registriert sein Biograf mal humorvoll, mal ironisch, manchmal aber auch, wenn das Pendel allzu sehr ins Extrem ausschlug, mit scharfem Tadel.

    War Haffner ein Liberaler, ein Konservativer, zeitweilig gar ein Linker? Schmied hält gar nichts von solchen Etikettierungen. In erster Linie sei Haffner ein Bürger gewesen, der auch in seiner linken Phase das Erbe seiner Herkunft, etwa was seinen eher altmodischen Literatur- und Musikgeschmack anging, nicht habe verleugnen können. Den letzten Rollenwechsel seit Anfang der 70er-Jahre stellt der Autor unter das Signum der "Aussöhnung mit der Wirklichkeit". In der sozialliberalen Ära fand Haffner an der der Bundesrepublik nicht mehr viel auszusetzen. Auch in den historisch-politischen Büchern, die er nach seinem Ausscheiden beim "Stern" 1975 schrieb, gab er sich nun erstaunlich gelassen, ja geradezu altersmilde.

    Schmied stellt das Spätwerk – allen voran die "Anmerkungen zu Hitler" von 1978 – mit seinen Vorzügen und Schwächen ausführlich vor und erörtert zugleich die zeitgenössische Rezeption. Für seine Arbeiten erntete Haffner viel Lob und Anerkennung. Nur die Universitätshistoriker lehnten sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als unseriös ab. Umgekehrt hatte aber auch Haffner von den deutschen Historikern keine hohe Meinung. Sie würden, klagte er einmal, fast nur "überdokumentierte, unlesbare Wälzer" produzieren.

    Jürgen Peter Schmieds Biografie ist, trotz ihres beträchtlichen Umfangs, alles andere als unlesbar. Sie ist glänzend geschrieben, in einer eleganten, variantenreichen Sprache, und im historischen Urteil stets reflektiert und abwägend. Weder wird Haffner heroisiert, noch verdammt, sondern so gezeigt, wie er war: mit seinen Widersprüchen und Irrtümern, aber auch mit seinen Verdiensten um die Streitkultur und die historische Aufklärung in unserem Land. Mit dieser faszinierenden Darstellung hat einer der Großen der deutschen Publizistik im 20. Jahrhundert eine angemessene Würdigung erfahren.

    Jürgen Peter Schmied: Sebastian Haffner. Eine Biografie. Das Buch erscheint, wie gesagt, am kommenden Mittwoch bei C.H. Beck, die 683 Seiten kosten 29 Euro 95, ISBN: 978-3-406-60585-7. Volker Ullrich hat das Buch für uns gelesen.