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Ein Halleluja als seliges Lallen

Arnold Mendelssohn stand stets im Schatten seines Onkels Felix, nach seinem Tod 1933 fiel sein Werk der Ächtung durch Nazi-Deutschland anheim. Kein Zweifel: Die Musikwelt hat etwas gutzumachen an diesem Komponisten. Diese Einspielung mag ein Anfang sein.

Von Johannes Jansen |
    Arnold Mendelssohn: Motetten zur Weihnacht und Deutsche Messe
    SWR Music/Hänssler Classics SCM (LC 10622)
    Best.nr. 4010276025238, Prod. 2012 [SACD])


    Wie einem zumute ist, "wenn er immer einen Riesen hinter sich marschieren hört", wusste er wahrscheinlich ebenso gut wie Johannes Brahms, mit dem Unterschied nur, dass dieser Riese für ihn nicht Beethoven hieß, sondern Mendelssohn und zudem ein Onkel zweiten Grades war. Komponist zu werden, war vor diesem Familienhintergrund für Arnold Mendelssohn eine mutige Entscheidung. Die Mutter drängte ihn, es lieber mit der Juristerei zu versuchen. Doch schon im ersten Semester schmiss er hin, um in Berlin ein Kirchenmusikstudium zu beginnen. Es war der Grundstein einer soliden Karriere als Organist, Chorleiter, Dirigent und schließlich Kirchenmusikmeister der Hessischen Landeskirche in Darmstadt. Arnold Mendelssohns Choral- und Orgelsätze zum Evangelischen Gesangbuch sind noch nicht ganz außer Gebrauch, das meiste andere aber ist gründlich vergessen, darunter Opern, Sinfonien, Streichquartette, ein Violinkonzert und eine Vielzahl von Liedern.

    In den Umrissen ähnelt dieses Œuvre demjenigen des Onkels, und auch im Einsatz für Komponisten der Vergangenheit liegt eine Parallele: Der ältere machte sich um Johann Sebastian Bach verdient, der jüngere um Heinrich Schütz, dessen "Geistliche Chormusik" Arnold Mendelssohns Motettensammlung op. 90 ihren Namen gab. Auch über sie ist Zeit hinweggegangen, obwohl sie es verdient hätte, als eines der gewichtigsten Werke evangelischer Kirchenmusik im 20. Jahrhundert dazustehen. Das beweist eine mustergültige Neueinspielung durch das SWR-Vokalensemble Stuttgart unter Frieder Bernius.

    "1. MUSIK: Choral "Lobt Gott, ihr Christen" (aus: Motetten, op. 90 Nr. 9), CD-Track 13, Dauer: 1'50"

    Mit einem Halleluja als seliges Lallen, völlig losgelöst vom Choralfundament, beginnt die Weihnachtsmotette "Lobt Gott, ihr Christen". Das klingt jugendlich unbeschwert, beinahe keck. Und auch darin zeigt sich die geballte Professionalität des SWR-Vokalensembles, das sonst eher in der Neuen Musik zu Hause und berühmt ist für die souveräne Bewältigung auch der kniffligsten Partituren. Hier haben sich die Stuttgarter mit Frieder Bernius zusammengetan, der sich diesen Motetten gewissermaßen von der anderen Seite nähert. Eigentlich ist er ja Chef des benachbarten Stuttgarter Kammerchores und wandelt gern auf Seitenpfaden des vorromantischen Repertoires, wie es auch Arnold Mendelssohn häufiger getan hat. Archaisierende Tendenzen gehen Hand in Hand mit einer schon weit über den spätromantischen Horizont hinausweisenden Tonalität. Totaler Stil-Beliebigkeit jedoch ist ein Riegel vorgeschoben, insofern die formalen Konturen alter Kirchenmusik und buchstäblich kreuzbrave Kadenzfloskeln erhalten bleiben. Beispielhaft in ihrer Traditionsgebundenheit und zugleich stark verdichteten Chromatik ist die Kyrie-Fuge der 1923 – unmittelbar vor den Motetten – als op. 89 im Druck erschienenen Deutschen Messe.

    "2. MUSIK: Kyrie ("Herr, erbarme dich") der Deutschen Messe, op. 89, CD-Track 1, Dauer: 3'00 (Ausschnitt)"

    Die Aufgliederung in Teilchöre und ihre Gegenüberstellung in Arnold Mendelssohns Deutscher Messe erinnert an Musizierformen der Schütz-Zeit und korrespondiert mit mal flächigen, mal sich verknäuelnden harmonischen Verläufen in einem Prozess permanenter klangräumlicher Umgestaltung. Das wirkt jeder Übersteigerung entgegen und hebt sich sympathisch ab von vielen anderen, oft allzu einseitig auf Monumentalisierung und grelle Effekte abzielenden Chorwerken der klassischen Moderne.

    "3. MUSIK: Gloria ("Ehre sei Gott") der Deutschen Messe, op. 89, CD-Track 2, Dauer: 4'15 (Ausschnitt ab 1'40 ["Herr, du eingeborner Sohn"])"

    Überall dort, wo es solistisch agieren kann, spielt das SWR-Vokalensemble seine Stärken aus, ohne den Eindruck besonderer Anstrengung zu vermitteln. Alles klingt recht entspannt, jedenfalls nicht nach überharter Disziplin, wie man sie dem hier als Gastdirigenten tätigen Bernius gern unterstellt. "Mag sein, dass ich der Felix Magath der Chorszene bin", sagte er diesen Sommer von sich selbst in einem Zeitungsinterview anlässlich seines 65. Geburtstages. Wohltuend unforciert wirken auch die großen klangmalerischen Chorstrecken, nie allzu weit entfernt vom Ideal eines gut trainierten Knabenchors, wie es dem Komponisten Arnold Mendelssohn zumindest im Falle der "14 Motetten für das ganze Kirchenjahr" vorschwebte. Entstanden sind sie ja auf Anregung Karl Straubes für die Leipziger Thomaner. Der Thomaskantor und auch jüngere Komponisten wie Günter Raphael und Paul Hindemith, der seinem ehemaligen Lehrer Mendelssohn das Bratschenkonzert op. 36/4 verehrte, gehörten zu seinen Bewunderern. Auch an öffentlicher Anerkennung hat es nicht gemangelt. Er war Mitglied der Berliner Akademie der Künste, die Tübinger Universität, an der er einst sein Jurastudium abgebrochen hatte, verlieh ihm die Ehrendoktorwürde, Darmstadt machte ihn zum Ehrenbürger.

    Bestand hatte nichts davon. Nach seinem Tod im Februar 1933 verfielen Komponist und Werk der Ächtung durch die Nationalsozialisten. Die nach dem Krieg einsetzende Mendelssohn-Renaissance galt allein seinem Onkel Felix. Kaum Beachtung fand der unter dem Titel "Gott, Welt und Kunst" posthum veröffentlichte Aphorismenband mit philosophischen Betrachtungen des – wie es in einer Rezension aus dem Jahr 1950 heißt – "rechtzeitig Verstorbenen". Ohne größeres Echo blieb auch der 150. Geburtstag im Jahr 2005. Kein Zweifel, die Musikwelt hat etwas gutzumachen an diesem Komponisten. Die Einspielung dreier Weihnachtsmotetten und der Deutschen Messe mag ein Anfang sein. Viel Hoffnung freilich, dass sie im Repertoire professioneller Chöre jemals einen festen Platz einnehmen, wird man sich nicht machen dürfen. Ein wirkliches Zuhause hat diese Musik weder innerhalb noch außerhalb der Kirche je gefunden, auch wenn die Gründe dafür heute sicher anders liegen als Ende der zwanziger Jahre. Damals schrieb Arnold Mendelssohn:

    "Nun sind die Stücke unseren Kirchenchören mit ein paar Ausnahmen zu schwer, auch zu vornehm, daher sie Vielen missfallen, die das übliche Musikzuckerwasser in der Kirche zu schmecken begehren."

    "4. MUSIK: "Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren" (aus: "Finsternis decket das Erdreich", op. 90 Nr. 10), CD-Track 20, Dauer: 4'06"

    Das war die Neue Platte im Deutschlandfunk. Heute mit der Deutschen Messe, op. 89 und Weihnachtsmotetten von Arnold Mendelssohn in einer bei Hänssler Classics erschienenen Neueinspielung mit dem SWR-Vokalensemble unter der Leitung von Frieder Bernius.
    Am Mikrofon verabschiedet sich, mit Dank für Zuhören, Johannes Jansen.