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Ein Handwerker des Kinos

"Was würden Sie tun, wenn man Ihnen eine Million Francs gäbe?", wurde er einst gefragt. Regisseur Louis Malle antwortete, er müsse darüber nicht nachdenken, er habe die Million - jetzt und jeder Zeit. Malle stammte aus einer sehr reichen Familie französischer Zuckerfabrikanten. Das Etikett "reicher Sohn" machte ihn nicht nur zum Außenseiter, sondern war auch das Leitmotiv seiner Regisseurkarriere. Es lautete: kein Ausruhen auf dem Erreichten.

Von Katja Nicodemus | 23.11.2005
    Es mag sich nach einem zwiespältigen Kompliment anhören, wenn man von einem Regisseur sagt, dass sich seine Filme nicht als die Werke eines einzelnen Autors erkennen lassen. Ja, dass sie nicht einmal eine Handschrift, einen Stil gemeinsam haben. Aber im Fall von Louis Malle ist diese Feststellung dennoch ein Lob. Keiner seiner Filme gleicht den anderen in Stimmung, Thematik, Form und Dekor. Sie alle scheinen Einzelwerke, Monolithen, und manchmal könnte man sogar annehmen, dass Malle nach einem Film alles daran setzte, danach ein völlig anderes, gegensätzliches Werk zu drehen. Was hat der existenzialistische Thriller "Fahrstuhl zum Schafott" mit der surrealistischen Paris-Revue "Zazie in der Metro" zu tun? Welche Linie führt von "Vie Privée", einem erotisch aufgeladenen Melodram, in dem Brigitte Bardot eine von Paparazzi umlagerte Tänzerin spielt, zu "Le feu Follet", der absolut hermetischen Zustandsbeschreibung eines zum Selbstmord entschlossenen Mannes? Und doch gibt es im Werk von Louis Malle eine Linie: Die Treue zur eigenen Wandlungsfähigkeit und das Bekenntnis zur Unberechenbarkeit, zu den Zufällen des Lebens.

    Schon in seinem 1957 entstandenen Regiedebüt, dem Film Noir "Fahrstuhl zum Schafott" setzt sich die Ironie des Schicksals durch: Ein Mann begeht einen perfekten Mord, wird aber durch einen dummen Zufall für einen anderen Mord verantwortlich gemacht, den er gar nicht begangen hat. Jeanne Moreau und Maurice Ronet spielen die Hauptrollen in diesem dunklen Thriller, dem die Trompete von Miles Davis eine existenzialistische Grundstimmung verleiht. Hier geht alles schief, auch wenn keiner etwas dafür zu können scheint.

    Nicht nur die Drehbuchwendungen, auch Malles Figuren besitzen eine Unberechenbarkeit, die immer wieder zu einer irritierenden moralischen Offenheit führt. In seinem Film "Lacombe Lucien" etwa erzählte er 1973 von der erotischen Beziehung eines Kollaborateurs und einer jungen Jüdin. Vom Denunzianten der jüdischen Familie entwickelt sich der halbwüchsige Bauernbursche Lucien Lacombe plötzlich zum Beschützer der Tochter. Dem Film wurde nicht nur seine negative Zeichnung der Résistance vorgeworfen, sondern auch latenter Antisemitismus. "Lacombe Lucien" war Louis Malles Versuch, die Thematik von Widerstand und Kollaboration ohne nationale Selbstbeweihräucherung, mit allen menschlichen Ambivalenzen zu behandeln. Nicht nur in Bezug auf diesen Film verwahrte sich Malle gegen den Vorwurf der plumpen Provokation:

    "Es ist gar nicht so, dass ich den Skandal mag. Aber ich mag es, feste Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Oder auch Klischees und Tabus. Das habe ich immer gerne gemacht. Ich habe immer gerne die Scheiße aufgewirbelt, wenn ich das mal so sagen darf. Das betraf meine Filme über die Besatzung und die Kollaboration. Mein Film "Lacombe Lucien" zum Beispiel hat mir viel Ärger und kontroverse Diskussionen eingebracht. Oder auch mein Film, "Das Verhängnis" über eine sexuelle Obsession. Ich habe diese Filme gemacht, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Ich fühle mich nämlich nicht dazu verpflichtet, alles zu glauben, was man mir erzählt."

    Mit seinem thematischen und formalen Eklektizismus wirkte Louis Malle auch innerhalb der Nouvelle Vague wie ein Fremdkörper. Anders als seine Kollegen Jean-Luc Godard, Francois Truffaut und Claude Chabrol, die von der Filmkritik zum Kino kamen, verstand sich Malle stets als Handwerker. Er lernte das Filmen von der Pike auf - als Kameramann und Cutter des Unterwasserfilmers Jacques-Yves Cousteau. Mit diesem eher pragmatischen Zugang zum Medium mag es zusammenhängen, dass Malle auch die moralischen Standpunkte seiner Figuren völlig unvoreingenommen und untheoretisch betrachten konnte. "Ich liebe es, Filme über Menschen zu machen, die ich nicht verstehe", ist ein für ihn typischer Satz.

    Aus dieser inneren Freiheit heraus erklärt sich auch Louis Malles Vorliebe für so genannte "unmögliche Paare". Ob Jeanne Moreau in "Die Liebenden" von 1958 Ehebruch begeht und ihr Kind zurück lässt, ob Mutter und Sohn 1970 in "Herzflimmern" Inzest begehen oder Susan Sarandon 1977 in "Pretty Baby" ihre zwölfjährige Film-Tochter Brooke Shields in einem Bordell versteigert - in Malles Kino haben all diese Konstellationen eine innere Logik jenseits des Skandals.

    Im Grunde gab es im Leben von Louis Malle, der am 23. November 1995 im Alter von 63 Jahren starb, nur einen einzigen Vorfall, den er selbst als Skandal, als Katastrophe und wirkliches Trauma erfuhr. Dieser Vorfall ereignete sich im Jahre 1944 in Malles französischer Jesuitenschule. Mehr als vier Jahrzehnte später erzählte er in seinem Film "Auf Wiedersehen Kinder" von der Denunziation und Deportation eines jüdischen Mitschülers.

    In "Auf Wiedersehen Kinder" stellte sich Louis Malle der Banalität, aber auch der Logik und Psychologie des Bösen. Er versucht den Verrat, die Denunziation als den Racheakt eines von allen gehänselten Mitschülers zu erklären. Aber er entschuldigt nichts. Vielleicht liegt in dieser mitgehenden, aber nicht mitfühlenden Haltung, die all seine Filmen auszeichnet, dann doch eine Art Leitmotiv. Louis Malle wühlte den moralischen Schlamassel des Lebens auf, stellte die Widersprüche aus, mutete uns, den Zuschauern, seine Außenseiter zu - aber letztlich ließ er uns damit auf durchaus mutige Weise stets allein.