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Ein haptisches Kunstwerk

Sie ist nicht nur Autorin, sondern auch Buchgestalterin - Judith Schalansky. Und das sieht man ihren Werken auch an. Nun hat sie ihren ersten richtigen Roman veröffentlicht, einen Schulroman.

Von Ulrich Rüdenauer | 19.10.2011
    Mit ihm hat sie es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2011 geschafft.

    Wenn das materielle Buch selbst zum Text wird, der gelesen werden will, sehen E-Books ziemlich alt aus. Judith Schalanskys Bücher sind immer auch haptische Kunstwerke. Auf den Kindle runtergeladen, würden sie mindestens eine wichtige Ebene verlieren. Ob der Matrosenroman "Blau steht dir nicht" oder der "Atlas der abgelegenen Inseln" – das sind bibliophile Bände, die man gerne anfasst, in denen man einfach blättern und Bilder betrachten kann, deren Äußeres tatsächlich, frei nach Gérard Genette, wie ein Vestibül ist, das einen verlockt, einzutreten. Auch bei ihrem neuen Roman ist das so: Was man zunächst wahrnimmt, ist ein schlicht anmutender grauer Leineneinband mit eingeprägter Giraffe, und dieser Einband führt ein Eigenleben.

    "Ich wusste, ich wollte auf jeden Fall ein Buch ohne Schutzumschlag. Und ich wollte ein Buch, das auch noch mal zeigt wie die Einbände eigentlich früher aussahen. Heutzutage ist es nämlich so, dass der Schutzumschlag das eigentliche Cover geworden ist. Das war aber niemals so. Es war eben was, was man dann wegwarf. Und dann darunter meistens eine sehr schöne Einbandgestaltung zum Vorschein kam. Das ist ja heute nicht mehr so. Und insofern habe ich praktisch den nackten Einband gleich zur Gestaltungsidee erhoben. Nein, ich mochte Leineneinbände immer, und es sind auch vor allem viele naturwissenschaftliche Werke, die dann eine tolle Tierprägung da drauf haben, eine Grafik. Das bot sich an. Gleichzeitig ist es eine Art Nichtgestaltung. Es ist von der Anmutung her etwas, was jetzt nicht schreit, sondern rein über die Materialität eigentlich geht."

    Vom Cover zur Hauptfigur von Judith Schalanskys neuem Roman "Der Hals der Giraffe" ist es zudem nur ein kleiner Schritt: Die Biologielehrerin Inge Lohmark wirkt zu Beginn des Buches ähnlich spröde wie das graue Leinen.

    "Es hat zunächst erst mal etwas Strenges, Karges auch, aber etwas, wenn man das Buch in die Hand nimmt, was man bei Büchern ja gottseidank macht und auch machen soll, also, mir, dass das Material lebt, denn Bücher sind Gebrauchsgegenstände, das ist mir sehr wichtig. Man soll nicht weiße Handschuhe anziehen, um ein Buch in die Hand zu nehmen. Und wenn man das aber in die Hand nimmt, dann merkt man, dass sich da etwas abwetzt oder dann fühlt man was und fühlt auch das Besondere des Materials, und ich glaube, das ist eigentlich eine gute Entsprechung für die Protagonistin. Zunächst kommt sie sehr streng daher, und dann, beim weiteren Lesen, so hoffe ich doch, merkt man, dass das ein Mensch ist wie wir alle, der eben befühlbar ist und fühlt."

    Zunächst ist Inge Lohmark tatsächlich eine abweisende, kalte, zynische Person, die den Leser an die schlimmsten Lehrergeschöpfe der eigenen Schulzeit erinnert. Sie unterrichtet Sport und Biologie, und die Naturwissenschaften haben auch ihr Weltbild geprägt: Das besteht aus einem synkretistischen Gebilde, einem Konglomerat aus allen möglichen biologistischen Lehren. Im Herzen glaubt sie an Darwin, der ihr zu einem Art Ersatzgott wird. Aber ihr Name Lohmark verweist noch auf einen anderen Säulenheiligen, nämlich den Evolutionstheoretiker Lamarck, den Darwin bekanntlich ablehnte. Der Lamarckismus geht von einer Vererbung erworbener Eigenschaften aus. Der lange Hals der Giraffe, der lamarckistisch gesprochen dadurch entstanden ist, dass sich das Tier im Lauf der Generationen immer mehr in die Höhe recken musste, um an die nahrhaften Blätter in den Baumkronen zu kommen, steht für diesen Theoriestrang. Lohmark, Lamarck und Darwin – da haben sich drei in der ostdeutschen Provinz gefunden. Dass alles bestimmten Naturgesetzen folgt, hilft Inge Lohmark, die zunehmende Unordnung ihrer Welt zu ertragen. Und sie setzt sich immer starrsinniger zur Wehr gegen die Zumutungen ihres Alltags. Sie sieht sich umzingelt von geistig minderbemittelten Kindern und inkompetenten Lehrern, von denen manche sogar noch eine falsche Kumpanei mit ihren "natürlichen Feinden" – den Schülern - anstreben.

    "Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus."

    Judith Schalansky hat eine wunderbar-grausame und mindestens ebenso bemitleidenswerte und anrührende Figur geschaffen. Sie hat dafür eine grandiose, eindrückliche Stimme entwickelt, die sarkastisch ist und für den Leser zugleich sehr lustig und einem nicht mehr so schnell aus dem Ohr geht. Ganz stringent und konsequent offenbart Schalansky nach und nach den Charakter von Inge Lohmark, in einem Hin und Her zwischen Interaktion und Kommentierung dessen, was sie in der Schule auf- und wahrnimmt. In drei Kapiteln, die den Unterrichtseinheiten für das Fach Biologie in der neunten Klasse entsprechen, lässt Judith Schalansky ihre Protagonistin gegen die Verblödung ihrer Umwelt ankämpfen: "Naturhaushalte", "Vererbungsvorgänge" und "Entwicklunsgslehre". Gekleidet ist das in eine Suada aus lauter kurzen Hauptsätzen. Letzten Sätzen. Lehrsätzen, die zuweilen zu richtig leeren Sätzen werden: "Nichts ist sicher. Sicher ist nichts" – das ist ein wiederkehrendes Mantra der Lehrerin. Inge Lohmarks Verbitterung bekommt so eine Form; ihre zunächst nur verächtlichen Gedanken laufen permanent als Tonspur mit.

    "Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quantitative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz."

    "Man muss es irgendwie noch mal eine Spur weitertreiben und dann gab’s eben die nächste Phase, die mir dann wirklich Spaß gemacht hat, zu sehen, wie findet man noch mal einen Dreh weiter, wo kann man sie auch wieder verstehen und wo ist es dann auch wieder so absurd, dass es dann schon wieder originell oder geradezu witzig ist."

    Bei Inge Lohmark läuft die Welterklärungsmaschinerie auf Hochtouren. Und sie dreht hohl. Irgendwann fängt die geölte Lohmarksche Weltekel-Produktion auch zu stottern an, gibt es leichte Irritationen. Eine Störung rührt daher, dass sie in der Konfrontation mit einer Schülerin, die sie vielleicht sogar ein wenig anhimmelt, über ihre eigene Tochter nachdenkt. Claudia hat sich aus ihrem Leben davon gemacht, lebt weit weg in den USA, meldet sich kaum und scheint mit ihrer Mutter nur im äußersten Notfall zu kommunizieren. Die Tochter ist ihr abhanden gekommen – eine Kränkung. Sie hat die natürliche Erbfolge gekappt: Nicht einmal eine Enkelin wird Inge Lohmark geschenkt. Wie ein Automatismus läuft dieser Gedanke in ihr ab. Lohmark ist an einem Punkt ihres Lebens, an dem sie eigentlich Bilanz ziehen möchte – aber die geht nicht auf. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt, aber gleichwohl ist sie nicht in der Lage, den Fehler in der biografischen Rechnung zu entdecken. So lebt sie ganz in ihrem eigenen Universum, zu dem kaum jemand Zugang hat.

    "Mich hat eine Frau auch interessiert, die keine Beziehung mehr hat. Sie hat einen Ehemann, und der taucht, von dem ist immer wieder mal die Rede, aber der taucht im ganzen Buch nicht auf. Dieser Ehemann züchtet Strauße, und das wiederum, finde ich, ist ein tolles Bild für das, was eben in Regionen passiert, wo eigentlich alle wegziehen und dann so eine Art Versteppung eigentlich einsetzt und dann dadurch aber ganz absurde Dinge eben wieder angesiedelt werden wie eben Straußenfarmen. Von denen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich einige. Den Tieren bekommt das Klima gut, und das passt natürlich erst einmal zu der Giraffe, aber auch zu diesem seltsamen Bild, dass alles auch auf einmal wieder möglich ist und wie beunruhigend das ist und wie grotesk und komisch auch."

    Die Versteppung, von der Judith Schalansky spricht, ist die Folge einer wirtschaftlichen Katastrophe: Es gibt keine Arbeit, die jungen Menschen ziehen weg, vor allem jene, die noch anderswo Arbeit finden können. In dieser verblühenden Landschaft überleben tatsächlich nur Tiere, denen die Kargheit nichts ausmacht. Das gilt nicht zuletzt auch für die Menschen, die hier ausharren. Die Kinder dieser Menschen allerdings besuchen eher selten das Gymnasium. Auch die Schule ist Teil der Verfallsgeschichte. Weil die Schülerzahlen sinken, steht sie kurz vor dem Aus. Inge Lohmark unterrichtet eine neunte Klasse. Es ist die letzte. In vier Jahren ist Schluss, dann wird die Schule abgewickelt. Das aber lässt sich ebenfalls – wenn auch auf widersprüchliche Weise – in Inge Lohmarks Weltbild integrieren, das auch ein sozialdarwinistisches ist: Aus Inge Lohmark, in der DDR sozialisiert und letztlich eine Verliererin des neuen Systems, spricht der Geist des Neoliberalismus. Die evolutionäre Auslese kann man leicht auf die soziale übertragen. Freilich ist das eine große Vermeidungsstrategie. Auf diese Weise muss man sich weniger mit dem eigenen Leben auseinandersetzen und schon gar nicht mit Sinnfragen.

    "Der Mensch war ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis. Ein zugegeben recht erstaunliches Tier, das diesen Planeten für kurze Zeit befallen hatte und schließlich, genau wie ein paar andere wundersame Wesen, wieder verschwinden würde. Von Würmern, Pilzen und Mikroben zersetzt."

    "Wir sehen eigentlich einem Menschen die ganze Zeit dabei zu, wie er die ganze Zeit behauptet, er braucht keinen Gott und auch keine Kultur, das geht ja für sie in die gleiche Richtung, Kreativität ist nichts anderes als Gott. Wenn einer versagt, dann war er wenigstens kreativ oder so."

    Bildungsroman nennt Judith Schalansky ihr Buch im Untertitel. Das ist natürlich auch ironisch gemeint – denn eine Entwicklung macht die Figur nur in sehr beschränktem Maße durch. Gehandelt wird von einer Frau, die am Ende ihrer Bildungskarriere und buchstäblich am Ende ihrer Schulzeit angekommen ist. Und auch ihres Lateins. Denn mit ihren erlernten, vorgeformten Lerneinheiten im Kopf, kommt sie zumindest in ihrem eigenen Leben nicht weiter. Sie versucht ihr Weltbild zu bewahren; zugleich schafft sie es nicht einmal, es auf ihre engste Umgebung anzuwenden. Den fortwährenden Wandel, die Veränderungen ihrer Schüler, die Ideen ihrer Mit-Lehrer kann sie nur als Endspiel wahrnehmen. Sie predigt Anpassung und kommt selber mit ihrer neuen Umwelt nicht zurecht. Wie ein Tier, das nach langer Gefangenschaft wieder in seiner angestammten Landschaft ausgesetzt wurde und fast alle Instinkte verloren hat. Dabei aber spürt man immer wieder den Ansatz von Leidenschaft oder zumindest Anteilnahme, der zumindest bei Inge Lohmark im Biotop Schule nicht recht gedeihen kann.

    "Ich wollte wahnsinnig gerne einen Schulroman machen, wahnsinnig gern was über eine Lehrerin, also insofern arbeite ich tatsächlich meine Obsessionen ab. Und das habe ich jetzt hiermit getan. Und natürlich war das auch die Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte, einen richtigen Roman zu schreiben, mit allem, was dazu gehört. Manche sagen, das ist ziemlich handlungsarm, aber das gehört ja gottseidank nicht zu den Grundsätzen des Romans, dass man unbedingt ganz viel Handlung haben muss. Ja, ich hab jetzt einen echten Roman."

    Judith Schalanskys "Der Hals der Giraffe" ist nicht nur ein "echter Roman". Sondern zudem noch einer der besten, witzigsten, abgründigsten und gewagtesten, den dieser Bücherherbst zu bieten hat.

    Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe", Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
    224 Seiten, 21,90 Euro.