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Ein hermetisches Gesamtkunstwerk

Vor vier Jahrzehnten war die Poesie Rolf Dieter Brinkmanns Kult: Der mit 35 Jahren in London bei einem Autounfall getötete Lyriker wurde fortdauernd als literarischer Rebell gefeiert. Gestützt auf ausgewählte Gedichte Brinkmanns hat Schorsch Kamerun bei der RuhrTriennale nun die Kreation "Westwärts" in Szene gesetzt. 150 Darsteller trugen zu einer optisch opulenten Kreation bei.

Von Frieder Reininghaus |
    Schorsch Kameruns "Westwärts!" ist ein Gesamtkunstwerk: ein recht hermetisches. Schon der Zugang soll beschwerlich sein. Und tatsächlich lässt sich der Ort des Ereignisses - die ehemalige Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck - nur durch enge Luken betreten. Über eine seitwärtige Treppe und die Einschlüpfschleusen geht es in ein Röhrensystem. Zu unverständlichen Lautsprecherdurchsagen und einem zart zugespielten fernen Klangband entgegen.

    Durch die bedingt durchsichtige Plastikumhüllung eröffnet sich so etwas wie "Gladbeck, Blicke": auf ein Bunker-Szenario, wie es in den späten 60er Jahren hüben wie drüben aufgebaut und einstudiert wurde. Männer vom Technischen Hilfswerk schleppen Margarine-Kartons und große Marmelade-Gebinde oder Dauerkonserven. Dutzende von Feldbetten und Gummistiefelpaare stehen bereit; ein Heer von Zahnbürsten wartet neben einem Waschtrog in der Massenunterkunft. Gartenzwerge werden geschrubbt, auf dass sie dem jüngsten Tag potentiell sauber entgegenwarten können. Das Katastrophenbewältigungspersonal und die ihm anvertrauten Statisten-Rudel üben die Dekontamination. Und für 'unsere kleinen Bunkergäste' gibt es ein Unterhaltungsprogramm.
    Doch all das wirkt unwirklich und merkwürdig entrückt, obwohl es doch ganz nah ist: durch 7 mm physisch undurchdringliche Hartplastik wird die historische "Realität" außerhalb der Zuschauer-Stollen auf Distanz gehalten. Constanze Kümmel konzipierte einen Verdauungstrakt für einen Kulturverdauungsakt: Die geladenen und zahlenden Zuschauer flanieren oder drängeln durch die Röhren, lassen die ganz überwiegend weich mit Musik unterfütterte Poesie Rolf Dieter Brinkmanns über sich ergehen. Von weit her atmet der Streichquintettgeist des schon so jung so späten Franz Schubert - und von noch weiter her das eine oder andere Modell ganz alter, also mittelalterlicher Musik. Erzeugt wird der Sound unter einer durchscheinenden großen Plastik-Käseglocke in der Mitte der atemberaubend teuren Installation.

    Es muss hier nicht erörtert werden, ob diese Lyrik rezeptionsgeschichtlich unter- oder überschätzt wurde und wird. Hier ist sie Background für eine Art Theaterevent. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sandra, die An- und Aufsage-Blondine, rezitiert mit vorwaltend monotoner Stimme. Auch diese Form der Distanzierung ist offensichtlich kunstgewollt. Schorsch Kamerun nutzt die von Verstörungen kündende, meist misslaunige, stets egozentrische Poesie Brinkmanns. Er beutet sie aus, überhöht den wohlfeilen Existentialismus durch Kühlung. Man greift unwillkürlich in die Jackentasche und sucht nach einem Päckchen Gaulloise ohne und dem Sturmfeuerzeug. Aber das soll ja nun nicht mehr sein ...

    Schorsch Kamerun und sein Team haben einen veritablen Kleinkunstabend durch die Bebunkerung der ehemaligen Maschinenhaltung und das zur scheinhaften Teilhabe mobilisierende Zuschauer-Schleussystem immens aufgebläht. Der Verweis auf die Parallelität von Bunkerwahn und Brinkmanntexten ist eine dünne geistige oder dramaturgische Klammer. Aber immerhin überhaupt eine.

    Irgendwann verstummt die Musik. Aber der Abend macht noch eine knappe Stunde weiter. Auf alternative Weise. So kühl, dass es den Füßen sehr kalt wird. Und mit den deutlich moralisierenden Ausrufezeichen: Der Dichter und Denker hat es ja schon gewusst!