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Ein Hirn und eine Seele

Seit dem Jahr 2000 möchten Forscher unter dem Dach der "Neuropsychoanalyse" zusammenbringen, was auf den ersten Blick kaum zusammenpasst: die kühle Mechanik des Gehirns und die konfliktbehaftete Psyche, die weitgehend von unbewussten Trieben, Wünschen und Gefühlen bestimmt wird.

Von Martin Hubert | 03.07.2011
    Laura Viviana Strauss: "Kommen sie herein. Setzen Sie sich. In den Sessel."

    Die Begrüßung ist nur kurz. Der Besucher sitzt jetzt in dem Raum, der sein Leben ändern soll. An der Wand, bedeckt mit weichen Kissen und warmen Decken: die braunrote Couch. Hier wird er künftig schweigen und frei assoziieren, von seinen Ängsten, Träumen und Erinnerungen erzählen. Laura Viviana Strauss, seine aus Argentinien stammende Psychoanalytikerin wird zuhören, mitassoziieren und ihm Deutungen über das anbieten, was ihn umtreibt. So wollen sich beide dem unbewussten Konflikt nähern, der den Besucher dazu brachte, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. Drei bis vier Mal in der Woche wird er kommen, mindestens mehrere Monate, wenn nötig einige Jahre lang. Strauss:

    "Das sind die Behandlungen, die eigentlich am ehesten ermöglichen eine richtige Verständnisarbeit des menschlichen Verhaltens."

    Und seines Kontrollorgans

    "Des Gehirns."

    Der Raum, in dem Psychoanalytiker heute versuchen, die Psyche zu verstehen, hat sich beträchtlich erweitert. Inzwischen meinen viele Experten, die Zeit sei reif, um ein altes Projekt Sigmund Freuds fortzuführen: die Seele mit Hilfe neurologischer Befunde zu erkunden. Im Jahr 2000 fand in London der erste internationale Kongress für Neuropsychoanalyse statt. Dort verkündete der heute in Kapstadt lehrende Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms:

    "In der Hirnforschung möchten wir verstehen, wie der Geist funktioniert. Genau das will aber seit mehr als einem Jahrhundert auch die Psychoanalyse. Da beide Gebiete den gleichen Gegenstand behandeln, muss es möglich sein, sie miteinander zu verknüpfen. Es gibt dazu keine Alternative."

    Alternativlos scheint das zunächst für die Psychoanalyse zu sein. Denn schon Sigmund Freuds Werk war nicht frei von Widersprüchen, seine Begriffe schillerten oft vieldeutig. Das hat dazu geführt, dass heute zahlreiche psychoanalytische Schulen existieren, die sich teilweise heftig befehden. Mark Solms ist fest davon überzeugt: Der Blick aufs Gehirn kann helfen, den Kern der psychoanalytischen Theorie neu zu begründen. Umgekehrt gibt es aber auch für Hirnforscher Gründe, sich auf die Psychoanalyse einzulassen. So meint der arrivierte Neurowissenschaftler Jaak Panksepp von der Bowling Green State University in Ohio:

    "Die psychoanalytische Tradition ist immer nahe am wirklichen, komplexen Leben des Menschen geblieben. Und solange wir uns nicht mit dieser ganzen Komplexität des menschlichen Verhaltens beschäftigen, können wir das Gehirn auf keinen Fall vollständig verstehen."

    Die Psychoanalyse betrachtet den Menschen als ganzheitliches, wenn auch konfliktträchtiges Wesen. Nach Freud tobt ein permanenten Kampf zwischen dem vernünftigen Ich und dem Reich des Unbewussten, dem triebhaften Es. Wie passt dieses Modell zum Wissen über Hormone, Botenstoffe, Hirnareale, das die Neurowissenschaftler zusammengetragen haben? Mark Solms und seine Mitstreiter haben eine große Suchbewegung eingeleitet. Und blicken inzwischen zufrieden auf die ersten zehn Jahre dieser Bewegung.

    "Unser erstes Ziel, dieses neue Forschungsprogramm auf die Beine zu stellen, haben wir längst erreicht. Wir haben ein eigenes Journal, einen jährlichen Kongress, eine Gesellschaft, die Literatur über das Gebiet wächst ständig an. Wir sind ein normaler Teil des wissenschaftlichen Betriebs geworden."

    Mit Sigmund Freuds Schrift "Die Traumdeutung" begann im Jahr 1900 der Aufstieg der Psychoanalyse. Seitdem steht der Traum im Zentrum der psychoanalytischen Theorie, er gilt als Tor zum Unbewussten. Vor allem hier müsste sich die Psychoanalyse also im Normalbetrieb der Wissenschaft bewähren.

    Ich bin unterwegs in einer mysteriösen Stadt. Mondäne Wolkenkratzer stehen neben einfachen Holzhäusern, vielspurige Brücken überqueren stille Seen. Ich fühle mich verloren, gehe trotzdem mutig weiter. Mit drei Schritten habe ich vier labyrinthische Stadtviertel hinter mich gebracht. Vor einem winzigen Fachwerkhaus winkt mir eine junge Frau zu. Als ich vor ihr stehe, erkenne ich: Es ist ein muskelbepackter Kerl, der mich grinsend ins Innere stößt

    Nach Freud erfüllen Träume in verdeckter Form vor allem kindliche und libidinöse, also triebhaft-sexuelle Wünsche. Viele dieser Wünsche seien ins Unbewusste abgedrängt worden, weil sie gegen soziale Normen oder Verbote der Eltern verstießen, meinte er. Im Schlaf jedoch drängten wieder nach oben.

    Ich falle in einen langen, tiefschwarzen Tunnel. Vor Angst kann ich nicht laufen, trotzdem bewege ich mich vorwärts. Meine Arme sind Flügel geworden, ich fliege. Dann schwebe ich plötzlich federleicht ganz weit oben, sehe unter mir Ozeane, Kontinente, Schnee und Wüste. Von unten winkt wieder die junge Frau.

    Der Träumer fliegt durch einen bedrohlichen Tunnel ins Weite, weil er sich danach sehnt, etwas völlig Neues zu beginnen. Er möchte die engen Schranken seines bisherigen Lebens überwinden, endlich seine ureigensten Bedürfnisse verwirklichen. – ein Traum, der in bizarrer Weise einen verdrängten Wunsch ausdrücken soll. Neurowissenschaftler hielten solche Deutungen lange Zeit für unsinnige Spekulation. Ihr Befund hieß: Träume werden durch eine uralte Region im Gehirn in Gang gesetzt, die überhaupt nichts mit Gefühlen, Wünschen oder sexuellen Trieben zu tun hat. Doch dann konnte Mark Solms in den 90er Jahren zeigen, dass noch eine andere Hirnregion beteiligt war.

    "Wenn eine Nervenverbindung geschädigt ist, die ein bestimmtes Gebiet im Stirnhirn mit tiefer gelegenen Hirnregionen verknüpft, dann erst sind die Patienten völlig unfähig zu träumen. Diese Nervenverbindung, die mit dem Botenstoff Dopamin arbeitet, hat nur eine Aufgabe: Sie motiviert den Organismus, sie treibt ihn an. Sie sorgt dafür, dass wir uns für Menschen, Dinge, Aktivitäten interessieren, nach etwas suchen, das unseren innersten Bedürfnisse entspricht. Alle unsere instinktiven Bedürfnisse werden über diesen Nervenpfad, dieses Suchsystem angeregt."

    Tatsächlich ist heute weitgehend anerkannt, dass das Dopaminsystem im Gehirn beim Träumen eine wichtige Rolle spielt. Man könnte es als Freudsche "Libido", als sexuell-erotische Körperenergie interpretieren. Mark Solms jedenfalls sieht Freuds Traumtheorie im Großen und Ganzen bestätigt. Seine Kritiker jedoch haben weiterhin Einwände. Seit mehreren Jahren tobt der Streit. Solms weicht dabei keinen Schritt zurück.

    "Hier herrscht große Verwirrung."

    Stein des Anstoßes ist vor allem die so genannte "Traumzensur". Freud hatte von einer Zensurinstanz im Traumschlaf gesprochen, die verhindere, dass verdrängte Gefühle direkt zum Vorschein kämen. Die verdrängten Gefühle tarnten sich daher im Traum und würden bizarr und rätselhaft. Derart verhüllt regten sie den Träumer auch nicht mehr übermäßig auf. Nur deshalb könne er ruhig weiterschlafen. Freud sprach vom Traum als "Hüter des Schlafs". Das könne so nicht stimmen, sagen die Gegner der psychoanalytischen Traumtheorie. So eine Zensurinstanz müsste im Stirnhirn über den Augen sitzen, denn hier würden Antriebe und Gefühle kontrolliert. Das Stirnhirn sei aber im Schlaf kaum aktiv, die These von der Traumzensur mithin hinfällig. Mark Solms hebt die Stimme, wenn er dieses Argument hört.:

    "Freud behauptete ja gar nicht, dass während des Traums eine mächtige Zensuragentur erwacht. Vielmehr sagte er, eine solche Zensur gebe es immer, sie werde aber während des Schlafes herabgesetzt und dadurch würden Träume erst möglich. Man würde also nach Freud erwarten, dass die zensierenden und kontrollierenden Stirnhirnregionen im Traum deutlich vermindert arbeiten. Und genau das ist der Fall!"

    Die Traum – ist er also doch der Hüter des Schlafs? Mark Solms konnte erste Belege sammeln.

    "Unser Ausgangspunkt war: Wenn das dopamingetriebene Nervensystem im Gehirn intakt ist, aber jemand dessen Impulse nicht mehr in Traumbilder umsetzen kann, dann sollte er aufwachen. Um das zu testen, haben wir zwei Patientengruppen miteinander verglichen. Die einen hatten Schädigungen am Sehkortex, der auch die inneren Traumbilder erzeugt. Diese Patienten träumten noch. Bei den anderen war der Sehkortex stark gestört: Sie konnten nicht mehr träumen. Nach unserer These müssten diese Patienten schlechter schlafen. Die Studie ist noch nicht völlig beendet, aber das vorläufige Ergebnis ist hoch interessant: Die traumlosen Versuchspersonen können kaum durchschlafen. Sie wachen viel zu früh auf und haben große Probleme, wieder einzuschlafen. Die letzte Patientin, die wir untersucht haben, wachte in einer einzigen Nacht 210 Mal auf!"

    Mit ihren Deutungen sorgt die Neuropsychoanalyse dafür, dass die Freudsche Traumtheorie im wissenschaftlichen Konkurrenzkampf weiterhin eine Chance besitzt. Allerdings werden die Träume längst nicht mehr wie bei Freud ausschließlich durch infantile oder sexuelle Wünsche motiviert. An deren Stelle tritt ein allgemeineres, dopamingetriebenes Such- und Bedürfnissystem.

    In der Wiege des Kinderzimmers ist jemand aufgewacht. Das Kleine brabbelt, fuchtelt und strampelt mit Armen und Beinen. Die Mutter beugt sich über ihr Baby, lächelt und streckt die Zunge heraus. Das Kleine macht es ihr nach. Die Mutter formt einen Kussmund. Auch das Baby versucht, seinen Mund nach vorne zu stülpen. Die Mutter sagt "Aaaah", das Baby brabbelt zurück – und strahlt.

    Schon in den ersten Lebensmonaten fangen Babys an, Bewegungen, Mienenspiel und Laute ihrer ersten Bezugspersonen zu imitieren. Viele Säuglings- und Kleinkindforscher interpretieren dieses Verhalten als einen angeborenen Drang, soziale Bindung herzustellen, als ein instinktives Bedürfnis nach Kommunikation. Das scheint aber nicht zur klassischen Freudschen Trieblehre zu passen. Denn Freud führte alle Triebe auf zwei Grundtriebe zurück. Auf die erotisch-sexuell gefärbte Libido und auf den Aggressions- oder Destruktionstrieb. Für einen Bindungstrieb scheint da kein Platz zu sein. Von seinem Standort an der Universität Kapstadt aus bereist Mark Solms regelmäßig London, New York oder Bangor, besucht Arbeitsgruppen, mit denen er kooperiert, und diskutiert Konzepte. Ein Punkt in diesem globalen Forschungsnetz betrifft die Frage: Wie lässt sich die Freudsche Auffassung vom Trieb auf den neuesten Stand bringen?

    "Ich werde immer ein bisschen nervös, wenn ich gefragt werde: 'Habt Ihr Neuropsychoanalytiker wieder etwas gefunden, was Freud bestätigt?' Denn natürlich unterstützen nicht alle unsere Entdeckungen seine Theorie. Wir haben zum Beispiel triebähnliche Mechanismen im Gehirn entdeckt, die Freud nicht vorhergesagt hat. Etwa ein 'Trennungsstress-' oder 'Bindungssystem', das Säuglinge dazu bringt, sich ihren Bezugspersonen zu nähern. Und dieses System hat nichts mit Lust oder mit Ernährung zu tun. Dieser Bindungsmechanismus wird durch ein Opiatsystem im Gehirn gesteuert. Wenn man diese Botenstoffe durch andere Substanzen anregt oder blockiert, werden die Betreffenden zutraulicher oder weniger zutraulich. Das bestätigt, dass es sich um ein eigenständiges System handelt."

    Für Mark Solms existiert ein eigener Bindungstrieb des Menschen. Solms möchte aber noch einen Schritt weiter gehen.

    "Wir müssen hier begrifflich klar unterscheiden: Zunächst gibt es den Trieb im Sinne einer körperliche Energie. Da geht es darum, elementare körperliche Bedürfnisse wie Hunger oder Durst zu befriedigen. Davon abgrenzen muss man stereotype Verhaltensmuster, die wesentlich komplexer sind. Wir bezeichnen sie üblicherweise als Instinkte und sie sind auf einer höheren Organisationsebene des Gehirns angesiedelt. Wenn Freud vom Trieb sprach, meinte er meist elementare körperliche Regulierungsmechanismen, er beschäftigte sich wenig mit Instinkten. Aber wir finden heute im Gehirn mehrere klar unterscheidbare instinktähnliche Systeme."

    Mark Solms bezieht sich hier vor allem auf die Arbeiten seines amerikanischen Mitstreiters Jaak Panksepp. Dieser gehört zu den Gründervätern der so genannten "affektiven Neurowissenschaft", die sich mit den Grundlagen des Gefühlslebens befasst. Nach seiner Lehre gibt es sieben elementare Instinkt- oder Gefühlssysteme im menschlichen Gehirn. Neben dem dopamingetriebenen Suchsystem, das immer aktiv ist, existierten noch Systeme für Wut, Angst, Spiel, Lust und Fürsorge. Und eben das Trennungsstress- oder Bindungssystem, das eine Brücke zur modernen Psychoanalyse schlägt, zum Beispiel zu den so genannten Bindungs-, Objektbeziehungs-, oder Intersubjektivitätstheorien. Sie untersuchen, wie die frühen Beziehungserfahrungen, die ein Kleinkind mit seinen Bezugspersonen gemacht hat, seine Persönlichkeit lebenslang beeinflussen.

    Das Baby lächelt, fuchtelt und strampelt mit Armen und Beinen. Zwei, vier, sechs, zehn Minuten lang. Aber die Mutter ignoriert es. Das Baby beginnt zu schreien, lauter und lauter, sein Gesicht läuft rot an. Die Mutter scheint es gar nicht wahrzunehmen. Nach einer Weile hört das Baby zu schreien auf. Es strampelt nicht mehr, erstarrt und stiert still vor sich hin.

    "Das muss sich wie eine Depression anfühlen, wenn man alle Hoffnung und jedes Interesse verliert, da sich nichts so entwickelt, wie man das möchte. Wir arbeiten deshalb gerade an der Hypothese, dass dieser opiatgesteuerte Bindungsmechanismus im Gehirn mit der Depression zu tun hat. Wir möchten herausfinden, ob man depressive Zustände verstärken oder abschwächen kann, indem man dieses Opiatsystem beeinflusst - zuerst in Tierversuchen, dann aber auch beim Menschen."

    Mark Solms, Jaak Panksepp und einige andere Forscher glauben: Wenn die Kontaktversuche eines Kleinkinds unbeantwortet bleiben, wird auch sein Opiatsystem im Gehirn nur unzureichend entwickelt. Das Kind wird dann auch im späteren Leben Schwierigkeiten haben Beziehungen aufzubauen und an Depressionen leiden. Mit solchen Thesen erweitern die Neuropsychoanalytiker nicht nur das klassische Triebmodell der Psychoanalyse. Sie betreten auch Neuland im Bereich der Psychiatrie. Zum Beispiel gehen sie der Vermutung nach, dass Angststörungen und Panikattacken stärker als bisher voneinander unterschieden werden müssen. Die Hypothese: Sie überaktivieren unterschiedliche Instinktsysteme, im einen Fall das Furchtsystem, im anderen das Bindungssystem.

    Mark Solms ist nicht nur Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler, er ist auch an neurologischen Krankheiten interessiert. Die Wurzeln dafür liegen in seiner Kindheit. Mit drei Jahren musste er mit ansehen, wie sein ältere Bruder vom Dach des Elternhauses fiel und schwere Hirnverletzung davontrug. Als der Bruder dann nach mehreren Monaten aus dem Krankenhaus zurückkam, war der Bruder war ein anderer geworden. Seitdem, sagt Mark Solms, treibt ihn die Frage um, wie ein Hirnschaden einen Menschen so verändern kann:

    Im Speisesaal einer Klinik wird Essen gereicht. Alle greifen zum Besteck. Der linke Arm eines Patienten hängt schlaff herunter. Er ist gelähmt. Der ältere Herr isst daher, indem er virtuos mit seiner rechten Hand mal das Messer, mal die Gabel benutzt. Merkwürdigerweise zeichnet sich auf seinem Teller allmählich eine exakte Linie ab. Der Mann isst nur die rechte Seite seines Tellers leer, die linke bleibt völlig unberührt. Fragt man ihn, warum er denn seinen Teller nicht leer gegessen habe, antwortet er erstaunt., dass doch nichts mehr übrig sei. Und auf die Frage, warum sein Arm gelähmt sei, erwidert er: der sei nicht gelähmt, er würde ihn nur ein bisschen entspannen.

    Patienten mit einem Schlaganfall in der rechten Hirnhälfte nehmen oft die linke Seite ihres Gesichtsfelds nicht mehr wahr. Die Störung heißt "Neglect". Nicht selten leugnen Patienten sogar, dass eines ihrer Körperteile gelähmt ist, wenn sie ausdrücklich darauf hingewiesen werden. Dann spricht man von "Anosognosie". Für Neurologen sind die Symptome direkte Folgen des Hirndefekts. Da Hirngebiete für die Raumwahrnehmung geschädigt wurden, könnten die Patienten einfach nicht mehr wahrnehmen, dass ihnen etwas fehlt. Nach neurologischer Standardauffassung leiden sie deshalb auch nicht unter ihrem Verlust. Mark Solms jedoch machte andere Erfahrungen.

    "Wenn wir diese Patienten psychoanalytisch behandeln, stellen wir fest, dass solche negativen Gefühle über ihre Störung tief in ihrem Inneren verborgen sind. Sie haben sie offenbar nur verdrängt. Wir können diese negativen Emotionen durch geduldiges Assoziieren zum Vorschein bringen. Dann trauern und klagen diese Patienten ausdrücklich über ihren Wahrnehmungsverlust und die damit verbundenen Einschränkungen."

    Mehrere neuropsychologische Studien belegen, wie Verdrängung funktioniert: wenn Menschen bestimmte Wörter oder Situationen intensiv vergessen möchten, dann verliert ihr bewusstes Gedächtnissystem tatsächlich den Zugriff. Mark Solms Erfahrungen zeigen nun, dass auch Schäden am eigenen Körper verdrängt werden können. Mehrere Forschungsgruppen haben die Beobachtungen inzwischen bestätigen können. Auch eine deutsche Gruppe um den Kölner Psychoanalytiker Klaus Röckerath fand bei neun Patienten, dass Verdrängung vorlag.

    "Es ist das Bemühen des Patienten, sein altes Selbst wiederherzustellen über eine, man könnte sagen, illusionäre Verkennung der Wirklichkeit. Er macht eine Realitätsverkennung, um sich selbst als Ganzes fühlen zu können."

    Röckerath stellte außerdem fest, dass sich der Neglect bei den Patienten eng mit früheren Lebenserfahrungen verknüpfte. Die argentinische Psychoanalytikerin Laura Viviana Strauss erlebte das in ihrer Düsseldorfer Praxis zum Beispiel bei einer älteren Schlaganfallpatientin:

    "Wir haben gemerkt, dass der Neglect und die Anosognosie sich verändert innerhalb einer Sitzung je nachdem, wie die affektive Verfassung der Patientin ist. Zum Beispiel eine Patientin, die ich behandelt hatte, hatte verschiedene Reaktionen, je nachdem, ob sie wahrnahm traurige Aspekte von ihrem vergangenen Leben - da war sie mehr aufmerksam, dass sie einen Neglect hatte – als wenn sie in anderen Situationen sich befand, wo sie Trauer oder Schwierigkeiten in ihrem vergangenen Leben verleugnete oder nicht präsent hatte. Und deswegen denke ich, dass eine klassische Psychoanalyse hilfreich sein kann."

    Ein Gehirn und eine Seele. Hirnschädigungen können die gesamte Psyche eines Menschen beeinflussen und von dieser beeinflusst werden. Psychoanalytiker beginnen gerade damit, auch neurologische Patienten zu behandeln. Sie können ihnen offenbar helfen, indem sie die ganze Persönlichkeit und die Lebensgeschichte mit einbeziehen. Neuropsychoanalytiker verfeinern die Theorie des Traums und des Triebes und sie erweitern den Blick auf neurologische Störungen. Die größte Herausforderung besteht jedoch darin, ein Gesamtbild von Psyche und Gehirn zu erstellen. Das Problem, wie sich die Wechselbeziehung zwischen Unbewusstem und Bewusstem in ein Modell gießen läßt, scheint vorerst kaum lösbar zu sein. Aber es gibt erste, vielversprechende Schritte.

    Zwei Männer sitzen sich im Besprechungszimmer einer neurologischen Praxis gegenüber. Drei Mal hat der Arzt seinen älteren Besucher schon gefragt, welcher Tag gestern und welcher vorgestern war. Beide Male konnte er es nicht sagen. Stattdessen beginnt er fröhlich zu erzählen. Er hätte gestern wieder Fußball gespielt und drei Tore geschossen. Und gleich müsse er an die Universität, seine Arbeitsgruppe sei offenbar weitergekommen, außerdem wären ein paar Prüfungen abzunehmen. Und abends werde er sich mit Maria verloben. Alle, die den Mann kennen, wissen genau: Er ist zu alt und zu gebrechlich, um Fußball zu spielen oder Heiratsanträge zu machen. Und er hat nie eine akademische Ausbildung genossen.

    "Konfabulation" tritt auf, wenn das Gedächtnissystems im Gehirn geschädigt ist. Die Patienten haben einen großen Teil ihrer Erinnerungen verloren, erfinden dafür aber andere Geschichten, an die sie felsenfest glauben. Mark Solms:

    "Die Konfabulationen dieser Patienten erzeugen meistens eine Wunschwelt. Studien zeigen, dass sie die Dinge fast immer beschönigen.Wir sagen daher: Bei diesen Patienten wird ein vorher unterdrücktes 'primärprozesshaftes Denken' enthemmt. So nannte Freud ein unbewusstes Denken, das allein dem Lustprinzip gehorcht."

    Für Sigmund Freud gehörte dieses primärprozesshafte Denken zum so genannten "Es". Das "Es" arbeitet unbewusst: Hier wuchern Triebe, Wünsche und Bedürfnisse, die direkt nach Befriedigung streben. Als zweiter wesentlicher Teil der Psyche galt ihm das "Ich". Das Ich hat die Aufgabe, die Triebe und Wünsche des Es mit der Realität abzugleichen und es zu kontrollieren. Hier wirkt der so genannte Sekundärprozess, das logische, bewusste, verbale Denken. Ist das Ich nicht mehr in der Lage, das Es zu kontrollieren, kann es zum Beispiel zu Konfabulationen wie bei dem älteren Patienten kommen. Sein "Es" fabuliert sich ungehemmt eine Wunschwelt zusammen, in der er jung und verliebt ist. Wo aber findet sich diese Beziehung zwischen unbewusstem Es und kontrollierendem Ich im Gehirn?

    "Den Durchbruch haben wir geschafft, wenn wir dynamische psychische Vorgänge auch auf ein gleichermaßen dynamisches Hirnmodell abbilden können. Und ich bin davon überzeugt, dass die Hirnforschung dafür reif ist."

    Der junge Neuropsychopharmakologe Robin Carhart-Harris vom Londoner University College hat ein eigenes Modell veröffentlicht, gemeinsam mit dem renommierten Neurowissenschaftler Karl Friston vom Londoner Wellcome Institute for Neuroimaging. Carhart-Harris arbeitet mit den so genannten Ruhezustandssysteme des Gehirns, die erst vor einigen Jahren entdeckt wurden. Das sind Hirnnetzwerke, die genau dann hoch aktiv sind, wenn jemand nichts tut, zum Beispiel entspannt aus dem Fenster schaut. Das so genannte Default Mode Netzwerk ist dann trotzdem hoch aktiv, es überwacht die Umwelt und löst selbstbezogene Gedanken und Erinnerungen aus: Was habe ich gestern erlebt, was möchte ich morgen machen? Für Robin Carhart-Harris repräsentiert es das Freudsche "Ich" im Gehirn.

    "Das Default Mode Netzwerk bildet aber nicht allein das Ich, sondern arbeitet mit anderen großen Nervennetzwerken im Gehirn zusammen. Zum Beispiel mit dem Aufmerksamkeitssystem, mit dessen Hilfe bestimmte Ereignisse gezielt unter die Lupe genommen werden. Beide Systeme sind nach dem Yin-Yang-Prinzip miteinander verbunden.Wenn das Default-Netzwerk schwächer wird, wird das Aufmerksamkeitsnetzwerk stärker und umgekehrt."

    So kann sich das neuronale Ichsystem mal stärker nach innen und mal stärker nach außen wenden. Es kann einerseits die Ziele und Handlungen des Ichs planen und andererseits die Realität zur Kenntnis nehmen. Solange die Ruhezustandssysteme gut funktionieren, hemmt das Ich die Erregung niedrigerer Hirnsysteme. Tauchen aber Probleme oder innere Konflikte auf, dann gerät das Ich-System in Unordnung. Es verliert die Kontrolle über das "Es", sagt Robin Carhart-Harris, über unbewusste Wünsche und hervorbrechende Instinkte. Robin Carhart-Harris räumt ein, dass dieses Modell natürlich nur ein erster Versuch sei, Seele und Hirn ineinander überzuführen. Aber es gebe einige Indizien, die für den Versuch sprechen.

    "Zum Beispiel entwickeln und verstärken sich die Verbindungen innerhalb des Default-Netzwerks in der Kindheit und Jugend in dem Maße, wie auch dass Ichgefühl der Persönlichkeit ausreift. Das ist einer der Gründe, warum wir dieses Modell vorschlagen."

    Auch der in Ottawa lehrende deutsche Neuropsychiater Georg Northoff will das Seelenleben mit Hilfe der Ruhezustandssysteme verstehen. Denn sie enthalten gewissermaßen die Grundverfassung, von der aus ein Gehirn auf Reize und Anforderungen reagiert.

    "Wie kommen diese Affektmuster zustande? Dadurch, dass das Gehirn ständig in Auseinandersetzung mit der Umwelt steht. Nicht nur, dass das Gehirn ein bisschen die Umwelt moduliert, sondern es ist auch abhängig von der Umwelt selber. Und das ist zum Beispiel sehr nahe wiederum bei Freud, was er mit Struktur, Organisation beschrieben hat."

    Freud interessierte sich als Therapeut vor allem für die Konflikte, die die innere Organisation der Psyche durcheinanderbringen. Dabei ging er davon aus, dass diese Konflikte entstehen, wenn die inneren Wünsche und Bedürfnisse auf Widerstände in der Realität stoßen. Northoff:

    "Das heißt, durch gewisse Lebensereignisse kann diese Struktur und Organisation sehr schwach werden, stärker werden, prononciert werden, et cetera, et cetera. Und dann ist es ein Frage des Kontextes."

    Ähnlich wie Robin Carhart-Harris bastelt auch Georg Northoff erst an den Grundlagen für ein neuropsychoanalytisches Gesamtmodell. Die Tatsache jedoch, dass solche Modelle inzwischen ernsthaft getestet und weiterentwickelt werden, bestätigt Mark Solms Behauptung: dass die neuropsychoanalytische Bewegung inzwischen Eingang gefunden hat in den normalen Wissenschaftsbetrieb.

    "Ich habe keine Armee unter mir, deren Truppen ich dirigieren könnte. Jeder Wissenschaftler macht, was er will."