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Ein Hoch auf die "entartete Musik"

Vor 75 Jahren wurde in Düsseldorf die Ausstellung "Entartete Musik" gezeigt. Im Zuge der Nazi-Kulturpolitik wurden Tausende Musiker umgebracht oder mussten das Land verlassen. Bei einem Festival haben nun Musiker und Fans dieser Künstler gedacht. Mit dabei: Die Toten Hosen.

Von Peter Backof | 21.10.2013
    Da! Das ist er doch, der vierte von links! Rempeln sich Düsseldorfer Punker und Tote Hosen Fans an. Sie sitzen direkt in der ersten Reihe in der Tonhalle und wollen: Campino sehen. Zwischen den Stücken skandieren sie schon einmal lautstark: "Nazis raus!" Campino ist einer der fünf Comedian Harmonists, die hier, neu inszeniert mit Sängern der Robert Schuhmann Hochschule, ein fröhliches Liedchen trällern. Campino und die Toten Hosen drängen sich – im ganzen Konzert übrigens – nie in den Vordergrund. Es geht schon darum, der "Entarteten Musik" zu gedenken. Verboten von den Nazis wurden die Comedian Harmonists - diese wohl erste Boy Group der Popmusikgeschichte - nicht der Musik wegen, sondern weil die Hälfte von ihnen Juden waren.

    Schon vor drei Jahren hatte Thomas Leander, Prorektor der Robert Schuhmann Hochschule, die Idee zu einem Gedenkkonzert, das den ausgesprochenen Kunstmusiktempel Tonhalle zum Pop hin öffnet, und er fragte bei den Toten Hosen an.

    "Die haben sofort darauf reagiert: "Wir müssen uns kennen lernen! Und Campino und ich waren uns sehr schnell einig, dass das möglich sein muss. Wir haben ein Programm entworfen – natürlich spielt das Orchester auch allein, das ist klar – aber, ob klassisch, ob Tote Hosen Songs: wir stehen immer gemeinsam auf der Bühne, das ist das tolle, wir vermischen uns."

    Je nachdem, in welche Richtung diese Wippe kippt, hören wir Sinfonischen Punkrock oder Kunstmusik mit der Farbe von Rockgitarren. Breiti und co. müssen freilich auch keine spieltechnischen Raffinessen jenseits der Fähigkeiten von Gitarren-Autodidakten meistern und sich so blamieren: zwei Jahre hat der Probenprozess gedauert: wie und was man zusammen machen kann.

    "Und für mich der absolute Höhepunkt des Abends: dass Campino Arnold Schönberg macht. Da macht er den 'Überlebenden aus Warschau', von Musik begleitete Rezitation."

    Ein Schmerzenswerk von Arnold Schönberg, entstanden im US-Exil in den 1950ern, das die Nazi-Gräuel verdichtet. Schwer anzuhören! Eine Musikwelt, in der nichts mehr schön ist. Gibt es eigentlich irgendeine Begründung, aus Musik selbst heraus, für den Begriff des Entarteten? Musik, die entartet oder – englisch "degenerate" – degeneriert sei?

    "Dann frag ich mich: Wieso haben sie den Herrn Wagner nicht auf ihrer Liste gehabt? Der hat ja eigentlich angefangen, sich von einer Tonalität zu entfernen. Der 'Tristan-Akkord' ist ein sehr gutes Beispiel, das ist ein Quartakkord, also aus lauter Quarten. Und: Der hat keine Tonart."

    Vier Töne, die in vier verschiedene Richtungen streben. Das Fundament einer Grundtonart, also im übertragenen Sinn etwas Artiges, der Boden unter den Füßen, entfällt. Und wir mögen das! Moderne Künstler sollen das ausdrücken, was nicht passt. Interessant, wie dieser Begriff des Entarteten - von Evolutionsbiologen des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen, nachdem sich schon Aristoteles und Cicero mokiert hatten, irgendetwas würde entarten - dann von Nazis in den speziell kulturellen Kontext gezerrt wurde. Bei der Ausstellung "Entartete Musik" vor 75 Jahren im Düsseldorfer Ehrenhof, einen Steinwurf von der Tonhalle entfernt, waren Fotos und Partituren ausgestellt, nebst Plattenspieler-Hörstationen, einer Frühform des Audioguides.

    Alles garniert mit abstrusen Argumentationen. Wer da genau hingeschaut hätte, hätte auch zum Ergebnis kommen müssen: Richard Wagners Musik ist entartet. Noch genauer: Der Begriff des musikalisch Entarteten ist völlig haltlos. Es ging den Nazis nur um Abstammung und Hautfarbe. Die Revue streift durch musikalische Welten. Vom Kinderchor aus dem KZ Theresienstadt, gesungen übrigens von Kindern des Gymnasiums, in dem Campino und Breiti zur Schule gingen, über folkloristische Klezmer-, Sinti- und Roma-Töne, bis zum Protestsong der Toten Hosen gegen die "Das Boot ist voll"-Stimmung der frühen 1990er.

    "Es ist ja keine Musik, die tieftraurig ausschließlich Entsetzen ausdrücken möchte, sondern, wir haben ja gerade den "Seahawk" gehört: was das für eine kraftvolle, unglaublich dynamische Musik ist."

    "The Seahawk" - "Freibeuter der Meere" - mit Errol Flynn. Musik: Erich Korngold. Es mutet wie eine Ironie der Musikgeschichte an: gerade diese Zwangsexilanten wie Erich Korngold, die in den USA Fuß fassen konnten, prägten maßgeblich den Sound Hollywoods in den 1940ern und 1950ern. "Leute, wir wollen hier locker rausgehen", entlässt Campino das stehend applaudierende Publikum am Premierenabend nach etlichen Song-Zugaben. Das ist der Moment, in dem sich plötzlich alle einig sind: "Gedenkkonzert – Entartete Musik"? Wir wollen und müssen etwas machen gegen Nazis und Neo-Nazis. Und genau so kann man das machen.