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Ein Hohelied aufs Lebendige

Wenn über Krankheit und Altern gesprochen wird, fehlt selten der euphemistische Hinweis darauf, was für wichtige Erfahrungen doch mit beidem zu machen seien, wie man daran wachse und reife - ganz anders als etwa der Familienhund, der so alt und krank geworden sei, dass man ihn unlängst habe einschläfern lassen, damit das arme Tier nicht leiden müsse. Der verräterische Zusatz zeigt: So kommt man auf den Hund als schmerzgeplagtes Menschentier.

Von Sabine Peters | 09.05.2007
    Auf den Hund gekommen ist auch das "Ich" in Hermann Kinders neuem Buch "Mein Melaten": Ein Miesepeter, ein maulfauler sauertöpfischer Hagestolz - so heißt es zumindest von ihm. Obendrein ist dieser Konstanzer Amtmann an einem Lungenemphysem erkrankt und steht kurz vor der Frühpensionierung; die Kollegen machen ihm rücksichtslos klar, dass er nicht mehr gebraucht wird. Seine Frau hat eine Arbeitsstelle in Köln bekommen, so dass die beiden einstweilen zu einem Pendlerdasein gezwungen sind. - Einsamkeit, Krankheit und Altern: Ein düsterer Roman? Nein. Zu der besonderen Qualität Hermann Kinders gehört die Vielstimmigkeit seiner Texte und ihr ständiger Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Ja, hier geht es um Peinsamkeiten, Schmerzen, Traurigkeiten. Und der einsame Amtmann ist keineswegs allein mit seinen Nöten. In Konstanz, auf dem Kölner Friedhof Melaten und in der von ihm als Vielfahrer leidenschaftlich geschmähten Bundesbahn trifft er Zeitgenossen mit vergleichbaren Schwierigkeiten. Da sitzen sie, beäugen sachkundig ihre jeweiligen Gebrechen, träumen jungen Frauen nach, werden von rollstuhlschiebenden Pflegerinnen verachtet und sinnen auf Gerechtigkeit - oder auf Rache gegenüber einer altenfeindlichen Gesellschaft. Dabei entsteht unter anderem folgender Wunschtraum: Kopfstützen in die Theater, falls man dort einschläft! Heizsonnen an die zugigen Bushaltestellen! Eine Seniorenpolizei, die es streng ahndet, wenn Jugendliche Kaugummi auf die Gehsteige spucken! Umgekehrt werden die Alten selbst Kaugummi mit Ausrutschmittel spucken!

    Solche so aufgeräumten wie aufsässigen Phantasien muntern auf in einer Gegenwart, die für Hermann Kinders Helden alltäglich schwer zu bewältigen ist. Schwierig ist nicht nur die eigene Schwäche, sondern auch die Angst um den geliebten Mensch, der zu weit entfernt ist, dem man nicht helfen kann. Was, wenn der Amtmann und seine Frau Birga gleichzeitig in Konstanz beziehungsweise Köln ins Krankenhaus müssen? Die Telefonverbindung ist kaum ein Trost. Denn die Liebe kennt auch Schüchternheit, sie scheut sich, schon tausendmal gesagte hilflose gute Wünsche zu wiederholen. Und doch ist "Mein Melaten" eben nicht auf Schmerz und Vermissung zu reduzieren, denn die Figur der Abwesenheit enthält ja ihrerseits auch die der Sehnsucht. Die Liebe hat aus langer geteilter Geschichte ihre Geheimsprache. So wissen der Amtmann und seine Birga, was mit dem "feurigen Andalusier" gemeint ist, Birgas Schlafanzug. Die Liebe hat ihre Zeichen; so kann, was für andere Plunder ist, dem Liebespaar einen unvergesslichen Wert bedeuten. Die Liebe ist so großzügig und umfassend, dass selbst die von Konstanz aus gesehen grässliche Stadt Köln schließlich gnadenvoll ein Daseinsrecht erhält, denn immerhin kann man Köln, sagt sich der Amtmann, auch "Birgas Birga" nennen. Und, endlich mit seiner Frau zusammen, verkörpert auch er selbst nicht weniger als "die Welt".

    Man hätte es kaum mit einem Buch von Hermann Kinder zu tun, wenn dieses Glück nicht alsbald in seiner Fragilität gezeigt und bespöttelt würde: Gleichzeitig mit dem Glücksgefühl machen den Amtmann die ununterdrückbaren Geräusche in seinem Bauch darauf aufmerksam, was er auch ist: Ein "Selbstkoloß mit tönendem Darm". Die Versehrtheit des Menschen und seine Endlichkeit - eines der großen Themen der Literaur - haben Hermann Kinder schon in vorausgehenden Romanen beschäftigt, so etwa in den beiden Büchern "Die böhmischen Schwestern" und "Um Leben und Tod", die aus unterschiedlichen Perspektiven gängige Glücks- und Gesundheitsdiktate kritisch befragten. Aber auch andere Motive aus Kinders bisherigem Werk werden in "Mein Melaten" wieder aufgegriffen und vorangetrieben.

    So führt das neue Buch, das doch mit dem Prozess des Alterns eigentlich auf Verengung hinauslaufen müsste, auf erstaunliche Weise ins Offene. "Mein Melaten" ist nicht zuletzt auch ein Liebeslied, ein Hohelied aufs Lebendige, auf die Welt. Der vermeintliche Griesgram und sein Autor sind in einem Grade fähig, die Schönheit von "Welt" wahrzunehmen, wie man das nur selten liest. Was hier artikuliert wird, ist weit mehr als bloße Abbildung: Kinder schafft eine unverwechselbar eigene, virtuose Sprachwelt. Seine Literatur macht buchstäblich hellhörig, sofern sie der Musik verwandt ist: Hier ist es nicht allein die Handlung, die einen bewegt, sondern in hohem Maß das Wie, der Rhythmus, die Melodie, die kunstvoll-komplizierte Harmonie dieses Textes.

    Damit ragt "mein Melaten" weit hinaus über die oft geführten Debatten über "alternde Gesellschaften". Natürlich geht es hier inhaltlich auch um eine Kritik an der gnadenlos flexiblen Gesellschaft und darum, was deren Strukturen im Individuum anrichten. Aber die Sprache Hermann Kinders weist auf Dimensionen hin, die in den Diskursen von Wissenschaft, Feuilleton und Wirtschaft undenkbar sind. Dimensionen, die in den Werbeverheißungen nur noch verzerrt auftauchen; sie heißen Freiheit und Glück. Da ist ein Witwer, ein Pflegefall in einem Heim, der nachts den Kontinent seiner Erinnerungen betritt, wo er auch seine verstorbene Frau trifft und wieder mit ihr durch die Lande zieht. Dieser Witwer ist noch im Schnarchen seines Zimmernachbarn in der Lage, vier Wörter zu denken: "Ich liebe, ich danke". Diese vier Wörter werden im Textverlauf sagbar, ohne versöhnlerisch zu wirken, eben weil die vielfältigen Beschädigungen und Verletzungen im Wortsinn wahr-genommen werden. - Ein bettlägriger Alter, der Erinnerungen herbeibeschwört: Darf man da von "Freiheit und Glück" sprechen? Nicht zuletzt sind es dieser Art Denkanstöße, die Kinder einem gibt.

    Hermann Kinder: Mein Melaten. Der MethusalemRoman
    Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 12,90 Euro