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Ein Intellektueller in Zeiten des Umbruchs

Das "ausgekühlte Politikpathos des Friedrich Gentz" gehöre zum besten Bestand unserer demokratischen Tradition, schreibt Harro Zimmermann im Vorwort seiner Gentz-Biografie. Er bringt dem Leser einen Theoretiker und Beamten des 19. Jahrhunderts nahe, einen Mitwirkenden des Wiener Kongresses.

Von Günter Müchler | 14.01.2013
    Um den Beifall der Ende des 19. Jahrhunderts tonangebenden nationalistischen Geschichtswissenschaft zu finden, waren mindestens zwei Bedingungen zu erfüllen: Erstens musste man kräftig ins teutomanische Horn gestoßen, zweitens durfte man niemals Metternich gedient haben.

    Als Anti-Preuße und Anti-Liberaler fand Friedrich von Gentz deshalb nirgendwo Schonung. Der Schriftsteller-Politiker hatte beim Wiener Kongress die legendäre Rolle des "Sekretärs von Europa" gespielt und später das Karlsbader Zensurregime gerechtfertigt. Zeitgenossen nannten ihn deshalb "Deutschlands erste Feder". Erst Golo Mann ließ Gentz Gerechtigkeit widerfahren.

    Der Publizist Harro Zimmermann knüpft mit seiner Gentz-Biografie an Golo Manns 1947 erschienenem Erstlingswerk an. Akribisch zeichnet er den philosophisch-politischen Lebensweg des 1764 in Breslau geborenen Mannes nach.

    Es ist der Lebensweg eines Intellektuellen in der Zeit des großen Umbruchs. Vorbereitet von der Aufklärung, fegt in Frankreich die Revolution Königtum und Standesschranken hinweg. Es folgt ein fast 25-jähriger Krieg zwischen neuer Zeit und ancien régime, der mit der Niederlage Napoleons und dem Sieg des Legitimismus endet.

    Gentz, Sohn aus gutbürgerlichem Haus, Student bei Immanuel Kant, sucht nach der Aufnahme in den preußischen Staatsdienst die besten Treffpunkte der Berliner Geistesgrößen auf; er frequentiert die Salons der Schriftstellerin Rahel Varnhagen und der Kunstmäzenin Henriette Hertz, vernetzt sich mit dem preußischen Reformbeamtentum, schließt Freundschaft mit Wilhelm von Humboldt, gemeinsame Bordellbesuche inbegriffen.

    Gentz beobachtet das Welttheater, das in Paris aufgeführt wird, wie die meisten Intellektuellen Deutschlands zunächst mit warmer Anteilnahme, dann mit immer größerer Distanz. Wichtig für ihn wird die Begegnung mit Edmunds Burkes "Reflections on the Revolution in France"; er übersetzt den antirevolutionären Bestseller des irisch-britischen Staatsphilosophen und Whig-Politikers ins Deutsche.

    Zum Vorbild wird Burke, der zu den Konservativen überwechselt, in einer weiteren Hinsicht. Harro Zimmermann beschreibt das sehr gut. Wie Burke möchte Gentz "philosopher in action" sein. Er will nicht bloß über Gesetze schreiben, er will Gesetze machen, und er stellt sich vor, dass die Chancen dafür im Habsburgerreich größer sind als in Preußen, von dem er sich innerlich mehr und mehr abwendet, nicht zuletzt aufgrund der preußischen Neutralitätspolitik.

    1802 folgt Gentz einem Ruf nach Wien. Es beginnt seine publizistische Indienststellung und, wie er hofft, auch sein Glück, wie Zimmermann Gentz in seinen eigenen Worten zitiert:

    Das Glück, in einer großen Sphäre thätig zu seyn, das Glück, Gesetze zu geben, und zu regieren, der selige Genuß, auf einem großen und freien Schauplatz durch Einsichten, oder Beredsamkeit zu glänzen.

    In der Welt der Handelnden will Gentz mittun. Er ist keineswegs der Einzige in dieser Zeit, den die Macht magisch anzieht. Die Schriftsteller Germaine de Stael und Benjamin Constant drängen sich sogar den Mächtigen in peinlicher Weise auf.

    Und der Diplomat François-René de Chateaubriand, der Schweizer Geschichtsschreiber Johannes von Müller - oder auch Wilhelm von Humboldt agieren ähnlich: Immer ist die Verbindung gefährlich, oft endet sie jämmerlich. Zimmermanns Protagonist Friedrich von Gentz hält sich in dieser Konkurrenz vergleichsweise gut. Das hat auch mit Metternich zu tun.

    Österreichs Politiklenker ist von Gentz amüsiert, er schätzt ihn und weiß seine Fähigkeiten zu nutzen. Umgekehrt fühlt sich Gentz geehrt. Harro Zimmermann betont zu Recht, dass er seinen Einfluss auf den Minister überschätzt, dass stets eine Fuge zwischen den beiden bleibt, die letztlich der Standesunterschied markiert. Bei aller Interaktion lässt sich Gentz vom Politikbetrieb nicht den kritischen Verstand vernebeln, urteilt der Autor:

    Jenes alte kaiserlich-bürokratische Machtkondominat und mit ihm der Staatskanzler sind ihrer Zeit nicht mehr gewachsen, das ist Gentz nur zu bewusst.

    Gentz teilt rückhaltlos Metternichs Überzeugung, dass ein friedliches Zusammenleben der Völker Europas nur auf der Basis des Gleichgewichts möglich ist. Im Einzelfall denkt er weitaus idealistischer als der nüchtern und oft eiskalt kalkulierende Diplomat Metternich. Als Österreich die Selbsterhebung Napoleons zum Kaiser widerspruchslos hinnimmt, fühlt er sich innerlich vernichtet; als Metternich Napoleon hilft, die Prinzessin Marie-Louise zu ehelichen, vergießt er Tränen.

    Diese Intermezzi lassen ganz nebenbei am Untertitel zweifeln, den Zimmermann seinem Buch gegeben hat: "Die Erfindung der Realpolitik". In beiden Fällen lag der Minister den Erfordernissen der Realität näher als sein Chefpublizist.

    Ein besseres Beispiel für Gentz‘ vernunftgesteuertes Politikverständnis bietet der Fall Napoleon. Gentz bekämpft den Kaiser der Franzosen mit der Feder wie kein zweiter, aber nur, solange dieser erobert und als Oberkönig Europas das Gleichgewicht außer Kraft setzt. In der Niederlage ist er bereit, Napoleons Größe anzuerkennen, er wünscht sich Napoleon zurück; für Ludwig XVIII. hat er, wie Zimmermann darlegt, nur Verachtung übrig.

    Schon der Gedanke, der Bewältiger der Revolution und Initiator des "Code Napoleon" solle ernsthaft durch die Insuffizienz eines bourbonischen Greisenregimes ersetzt werden, erscheint Gentz unzulässig.

    Bekanntlich wollte es die Geschichte anders. Es kam die bleierne Zeit. Das "System Metternich", dessen Verteidiger Gentz im Kern war, vermochte Europa zwar für lange Zeit den Frieden zu erhalten, verlor aber den Kampf der Ideen durch sterile Revolutionsangst und Reformfeindschaft. Am Ende hatte die Politik für Gentz ihren Reiz verloren, resümiert der Autor:

    Der Wiener Hofrat ist in seinen letzten Lebensjahren zu einer Art Dissident im System der Wiener Restaurationspolitik geworden, aber das wissen damals nur seine Vertrauten und die Insider der Macht.

    Zimmermanns "Gentz" ist ein instruktives Buch. Hier und da vermisst man den souveränen Erzählstil eines Golo Mann, da und dort wünschte man sich vom Autor etwas mehr Urteilsmut.

    Trotzdem besticht das Porträt durch Quellenreichtum und Überzeugungskraft: Es zeigt Friedrich von Gentz als Klassiker eines Intellektuellen, der leidenschaftlich auf die Gegenwart wirken will und doch schließlich an ihr scheitert.

    Harro Zimmermann: "Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik"
    Ferdinand Schöningh Verlag, 344 Seiten, 39,90 Euro