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Ein Jahr nach dem Anschlag von Pittsburgh
"Als Juden sind wir aufgefordert zu handeln"

Ein Jahr nachdem ein Rechtsextremist bei einem Anschlag in der "Tree of Life"-Synagoge von Pittsburgh elf Menschen erschoss, ist das Trauma in der jüdischen Gemeinde noch immer spürbar. Die politischen Konsequenzen dagegen bleiben weiter aus - auch deshalb wollen die Betroffenen nicht schweigen.

Von Rita Schwarzer | 25.10.2019
Ein Mann steht am 31.10.2018 trauernd vor der Tree of Life Synagoge in Pittsburgh, an der sich das antisemitische Attentat ereignete.
Ein Mann steht am 31.10.2018 trauernd vor der Tree of Life Synagoge in Pittsburgh, an der sich das antisemitische Attentat ereignete. (picture alliance / dpa / Kyodo)
Es sind höchst emotionale Stunden, in denen Überlebende des "Tree of Life"-Massakers auf das vergangene Jahr zurückblicken. Sie tun es im geschützten Rahmen einer Medienorientierung der "Jewish Federation of Greater Pittsburgh". Rabbiner Jonathan Perlman sitzt gebeugt neben Vertretern der anderen beiden Kongregationen, die beim Anschlag Mitglieder verloren haben.
Als der Attentäter das Feuer eröffnete, gelang es Perlman, sich und drei weitere Gläubige in einen großen Lagerraum zu retten. Einer der drei, ein 87-jähriger Mann, war auf beiden Ohren taub und konnte die Schüsse nicht hören. Verwirrt verließ er das Versteck - und lief direkt ins Visier des Mörders. Immer wieder spielt der Rabbiner in seinem Kopf dieselbe Szene durch. Wie andere Überlebende, wirft er sich vor, nicht genug getan zu haben, um andere zu retten. "Das ist Teil des Traumas", sagt er den Tränen nahe. "Das ist menschlich".
Hassverbrechen in der Idylle
Die "Tree of Life"-Synagoge steht in Squirrel Hill, einem sanft hügeligen Wohnquartier mit malerischen Seitenstrassen und historischen Backsteinhäusern. Ein traditionell jüdisches Viertel, das aber stets offen blieb für Neuzuwanderer aus anderen Kulturen und Kontinenten. Als Donald Trump nach seinem rassistischen Wahlkampf ins Weiße Haus einzog, stellten etliche Bewohner des Quartiers demonstrativ Schilder in ihre Vorgärten: "Egal, woher Sie kommen, wir sind froh, Sie zum Nachbarn zu haben", grüßen seither bunte Tafeln in Spanisch, Englisch und in arabischer Schrift.
In diese Idylle schlug das Hassverbrechen des weißen Rechtsextremisten und Antisemiten ein wie ein Blitz.
"Der Anschlag, nur hundert Meter von meinem Zuhause entfernt, kam völlig unerwartet", erinnert sich Michael Bernstein. "Dennoch hielt ich stets alles für möglich in einem Land wie dem unseren, in dem die Rhetorik immer hasserfüllter wird und es so viele Waffen gibt."
"Rechtsextreme Gewalt hat mich schon immer tief erschüttert", sagt Rachel Kranson, Professorin für religiöse Studien an der Universitity of Pittsburgh. "Doch diese Attacke hier fühlte sich sehr persönlich an. Sie veränderte mich fundamental. Ich bin heute ein anderer Mensch."
Gemeinsam durch den Heilungsprozess
Angst, Verunsicherung und Trauer über die kaltmütige Ermordung geliebter Menschen: Squirrel Hills jüdische Bevölkerung ist noch immer dabei, die Tragödie vom 27. Oktober des letzten Jahres zu verarbeiten. Ein schmerzhafter, langwieriger Prozess. Allein schon deshalb, weil rechter Terror in den USA seit 2015 alarmierend zunimmt - vor Pittsburgh Charleston und Charlottesville, nach Pittsburgh San Diego, El Paso.
"Jedes neue Attentat birgt das Risiko, dass Menschen, die sich gerade von einer solchen Katastrophe erholen, erneut traumatisiert werden", weiß Jordan Golin, Leiter des JFCS, des "Jewish Family and Community Services", im Zentrum von Squirrel Hill. "Und genau diese Retraumatisierung sehen wir jetzt auch hier."
Gemeinschaften reagieren auf schwere Krisen ähnlich wie Familien, erklärt Golin: Entweder sie brechen auseinander, oder sie wachsen näher zusammen. Der Psychologe und sein Team, setzen deshalb alles daran, Squirrel Hills Juden gemeinsam durch den Heilungsprozess zu bringen.
Eine erste, positive Zwischenbilanz zieht Michele Rosenthal, die beim Attentat beide Brüder verlor. "Der Terrorakt sollte uns auseinanderreißen. Stattdessen hat er uns näher zusammengebracht. Nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern ganz Pittsburgh", sagt sie an der eingangs erwähnten Pressekonferenz.
Charleston, Quebec, Christchurch
Schon kurz nach Bekanntwerden der monströsen Tat, eilten Menschen jeder Religion, Herkunft und Hautfarbe nach Squirrel Hill, um ihren jüdischen Mitbürgern beizustehen. Das Islamic Center of Pittsburgh rief die muslimische Gemeinschaft umgehend zu einer Spenden für Hinterbliebene und Verwundete auf und sammelte binnen kurzer Zeit rund 250.000 Dollar.
In den folgenden Wochen und Monaten strömten Überlebende früherer rechtsextremistischer Hassverbrechen aus allen Himmelsrichtungen nach Pittsburgh. Zum Beispiel aus Charleston, wo ein Neonazi 2015 acht afroamerikanische Gläubige und ihren Pastor erschossen hatte. Oder aus dem kanadischen Quebec, wo ein islamophober Täter 2017 sechs Muslime während des Freitaggebets ermordet hatte.
Im Gegenzug reiste eine jüdische Delegation aus Squirrel Hill im Januar nach Charleston und marschierte Arm in Arm mit der afroamerikanischen Bevölkerung in der Martin-Luther-King-Parade. Nach dem Attentat auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch im März, bildeten jüdische Gemeindemitglieder spontan eine lange Menschenkette entlang der Strasse zum Islamischen Zentrum von Pittsburgh:
"Eine Gruppe kam sogar jeden Freitag, während Monaten. Um uns zu zeigen, dass wir unterstützt und geliebt sind", erinnert sich Wasi Mohamed, bis vor kurzem Leiter des Islamic Center: "Wir stehen uns hier seit vielen Jahren nahe. Wir sind eine Familie. Wir haben etwas geschaffen, das Bestand hat."
"Bleibt nicht stumm"
Nur politisch hat sich in Pittsburgh seit dem 27. Oktober 2018 kaum etwas verbessert. Eine von der demokratischen Stadtregierung beschlossene Verschärfung der Waffengesetze ist auf Betreiben republikanischer Waffenfreunde voerst gerichtlich blockiert. Und in Washington nimmt man den Terror von Rechts noch immer nicht gleich ernst wie den Terror von Islamisten. - Kritische Stimmen glauben, das liegt auch daran, dass im Weißen Haus ein Präsident sitzt, der an der Bekämpfung der Rechtsextremen nicht sonderlich interessiert ist, weil sie Teil seiner Wählerbasis sind.
Ellen Surloffs kurze Rede an der Pressekonferenz jedenfalls, ist ein klarer Appell: "Es reicht. Das muss aufhören", fordert die ehemalige Präsidentin der zweiten von drei Kongregationen, die sich das Gebäude der "Tree of Life" teilten. "Was vor einem Jahr geschehen ist, kann sich überall und jederzeit wiederholen. – "Als Juden sind wir aufgefordert zu handeln", sagt die Anwältin. "Es ist ein moralischer Imperativ in einer zunehmend gespaltenen Welt, in der Menschen entmenschlicht werden, seien es Juden, Menschen dunkler Hautfarbe, Immigranten oder jede andere marginalisierte Gruppe. – Bleibt nicht stumm. Tut, was Ihr könnt, um dies zu stoppen."