Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Ein Jahr nach dem Merah-Attentat von Toulouse

Vor einem Jahr erschoss der islamistische Terrorist Mohammed Merah an einer jüdischen Schule in Toulouse kaltblütig fünf Menschen. Die Tat hat bis heute Spuren unter den jüdischen Bürgern hinterlassen: Die einen versuchen, ihr Judentum zu verstecken, andere verlassen Frankreich.

Von Birgit Kaspar | 18.03.2013
    Sie treffen sich jeden Donnerstag in einem alten Haus, das der Stadt Toulouse gehört. Die 15 Mitglieder des Chores Rénanim-Toulouse – überwiegend Juden - singen jüdische Lieder: religiöse wie populäre, auf Hebräisch, Jiddisch oder Ladino.

    Marie-Claude Bibas, selbst Christin, leitet die Toulouser Gruppe dieser europäischen Rénanim-Chor-Bewegung. Für sie ist der Gesang Lebenselexier:

    "Es ist ein Ausdruck von Glück, von Lebensfreude und die hebräische Musik ist so schön, man möchte immer gleich tanzen wenn man singt."

    Doch diese jüdische Lebensfreude blüht im Verborgenen – insbesondere seit dem Attentat des islamistischen Terroristen Mohammed Merah auf die Schule Ozar Hatorah vor einem Jahr:

    "Wir sind hier in dem Viertel, in dem Merah lebte, um uns herum wohnen vor allem Maghrebiner. Bei unseren Chorproben öffnen wir deshalb nie die Fenster oder die Läden. Selbst im Sommer nicht. Wir machen nicht auf uns aufmerksam. Wir machen uns ganz klein. Eine Vorsichtsmaßnahme."

    Das Leben der rund 20.000 Juden in Toulouse habe sich seit dem Attentat verändert, sagt die Sopranistin Josette Guedj:

    "Meine Enkel gehen auf die jüdische Schule Gan Rachi. Wir haben große Angst um sie. Mein Sohn verlässt Toulouse, er wandert in die USA aus. Wir sind alle furchtsamer geworden."

    Die Schule, in deren Eingangsbereich am Morgen des 19. März 2012 ein Rabbi, und drei Kinder getötet wurden, liegt in einem ruhigen Wohnviertel. Sie ist von hohen Mauern umgeben, auf denen Überwachungskameras angebracht sind. Zwei Polizisten im Einsatzwagen bewachen morgens und abends den durch ein schweres, grünes Eisentor gesicherten Eingang:

    "Sowohl die jungen als auch die älteren Schüler reagieren heute sehr sensibel auf Nachrichten, die mit Gewalt zu tun haben. Sie haben viele Fragen, Albträume und sehr düstere Gedanken."

    Nicole Yardeni, Präsidentin des CRIF, des Rates der jüdischen Institutionen in der Region Midi-Pyrenäen, wurde von der Schule als Sprecherin gegenüber den Medien auserkoren. Die Schule selbst umgibt sich mit einer Mauer des Schweigens.

    Der Antisemitismus habe im vergangenen Jahr in Frankreich dramatisch zugenommen, heißt es im Jahresbericht des Dienstes zum Schutz der jüdischen Gemeinde SPCJ. Zahlreiche Taten seien durch die Gewalt Merahs inspiriert. Das sei keineswegs übertrieben, betont Claude Allenou, pensionierte Lehrerin und Altistin im Rénanim-Chor. Antisemitismus habe es jedoch in Frankreich immer gegeben:

    "Mich haben Kollegen mitten im Lehrerzimmer als dreckige Jüdin beschimpft. Kein anderer hat einen Finger gerührt. Ich war baff."

    Viele Chormitglieder haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Der emeritierte Psycholinguistik-Professor Jaques Fijalkow sagt, er vermeide seit dem Merah-Attentat Symbole zu zeigen, die ihn als Juden auswiesen.

    Die einen versuchen ihr Jüdischsein zu verstecken, andere verlassen Frankreich. Mehrere Dutzend Toulouser sind es nach Angaben des CRIF. Diejenigen, die blieben, versuchten so normal wie möglich weiter zu leben, betont Josette Guedj:

    "Wir sind und bleiben Franzosen. Wir sind Teil der Gesellschaft, auch wenn etwas zerbrochen ist."

    Die Gemeinschaft der Rénanim-Bewegung hilft den Freizeit-Sängern dabei. Rénanim-Begründer Avner Soudry will weiterhin mit der Musik Brücken bauen:

    "Dies ist eine Begegnungsstätte rund um das große Thema Judaismus, das wir mit Nicht-Juden teilen wollen. Jenseits von Religion und Politik, rein kulturell."