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Ein Kapitel gelebter Völkerverständigung

Was sich in den kulturellen Beziehungen nach 1945 zwischen Deutschland und seinem einst als "Erbfeind" geschmähtem Nachbarn entwickelt hat, ist bemerkenswert. Die wichtigsten Etappen von A wie Abibac bis hin zu V wie Vergangenheitsaufarbeitung bereitet das Lexikon in 200 Stichworten und neun Essays auf.

Von Ursula Welter |
    Noch ein deutsch-französischer Wälzer, möchte man meinen. Mehr als 500 Seiten. Das "Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945" würde im gut gefüllten Regal mit den Festschriften zum Jubiläumsjahr 2013 verschwinden, steckte nicht mehr dahinter.

    Sicher, kulturelle Verflechtungen zwischen den Nachbarländern hat es historisch schon immer gegeben.

    Schreibt Michael Werner, Professor für Europäische Kulturgeschichte, in einer der Analysen, die dem eigentlichen Lexikon vorangestellt sind.

    Aber ihre Intensität hat seit den 1950er-Jahren in einem Maße zugenommen, dass man wohl von einem qualitativen Sprung sprechen kann. Das betrifft Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung wie Jugendkultur, Theater, Medien, Stadtplanung, Berufsorganisationen, Tourismus, Landwirtschaft, Unternehmenskultur und viele andere Bereiche.

    Werner ist einer von 50 Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, die sich hier ans Werk gemacht haben. Auch die Herausgeber sind namhaft, Ulrich Pfeil, Germanist und Historiker aus Metz, ausgewiesen für das Verhältnis DDR-Frankreich; Corine Defrance hat nicht zuletzt über die Besatzungsgeschichte Frankreichs in Deutschland nach 1945 geforscht; Nicole Colin, Universität Amsterdam mit Lehrauftrag an der Sorbonne ist Philosophin, Germanistin und Theaterwissenschaftlerin, und schließlich Joachim Umlauf, Romanist, Germanist und Chef des Pariser Goethe-Instituts:

    "Um ein solches Werk herauszugeben, muss man auf jeden Fall sich auch verstehen. Zum Zweiten ist wichtig, dass – wenn man eine Herausgebergruppe bildet – darauf achten, dass die verschiedenen Disziplinen vertreten sind. - Alle wird man nicht vertreten können, aber doch die Wichtigsten - und gleichzeitig Wissenschaftler, die in Frankreich tätig sind, und andere, die in Deutschland tätig sind."

    Wer im Dickicht der Kulturbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland eine Orientierung sucht, ist mit dem Handbuch gut ausgestattet. Zwar wird der Laie die Theorie-lastige Auseinandersetzung zu Beginn mit der Fragestellung "Was sind Kulturen, wie breiten sie sich aus, wie beeinflussen sie einander" eher überblättern wollen. Der Fachmann wird sie indes reizvoll finden. Für beide Leserkreise wird deutlich: Kultur ist keine nationale Kategorie mehr, der Kulturtransfer über Jahrzehnte hat die Standpunkte verschoben. Bevor es in die mehr als 200 Stichworte des lexikalischen Teils geht, wird der Leser vorbereitet. Erfährt, wie steinig der Weg des kulturellen Austauschs in den Zwischenkriegsjahren war, liest vom bildungsbürgerlichen Fundament der Kulturbeziehungen, von den Vereinigungen, vom Engagement einzelner Persönlichkeiten. Kann sich die kulturpolitischen Motive der Nazi-Besatzer nochmals vor Augen führen, um dann einzutauchen in die Nachkriegszeit mit ihren ungezählten Initiativen, der "sozio-kulturellen Annäherung und Aussöhnung von unten", wie es die Corine Defrance formuliert. Mit Rückschlägen, wie sie etwa der Vertrag über das deutsch-französische Kulturabkommen erfuhr:

    Noch bevor er ratifiziert wurde, war er bereits seines Sinnes beraubt, als die bundesdeutschen Ministerpräsidenten in Düsseldorf im Februar 1955 beschlossen, dem Englischen den Vorzug vor dem Französischen als erste Fremdsprache in den Schulen zu geben.

    Eine von ungezählten Etappen der Kultur-Beziehungen, die mehr sind als offizielle Abkommen. Warum ein Lexikon?

    Joachim Umlauf: "Man muss sich eher umgekehrt die Frage stellen, ob ein solches Lexikon zwischen zwei anderen Nationen möglich gewesen wäre und die Antwort wäre vermutlich "Nein", bzw. zwischen zwei anderen Nationen wäre es sehr viel dünner ausgefallen, als es zwischen Deutschland und Frankreich ist."

    Die "Wiederversöhnung" im kulturellen Bereich festzuhalten, zu archivieren, sagt Umlauf, das war die Idee für das Handbuch. Jeder Eintrag wird von Literatur- und Lesehinweisen begleitet, das umfangreiche Stichwort- und Namensregister tut ein Übriges, die Bausteine sind gut vernetzt, so blättert man von einem Aspekt zum anderen, eine Entdeckungsreise durch die Kulturbeziehungen – die hier einem sehr breiten Kulturbegriff unterzogen wurden. Von A wie Abibac, über E wie Existentialismus, J wie Jugendkultur bis hin zu V wie Vergangenheitsaufarbeitung.

    Joachim Umlauf: "Wir haben versucht, Kultur im breiten Sinne zur Geltung kommen zu lassen. Sie haben die Institutionen, dazu Preise, Stichworte und natürlich Personen, die durch ihr Engagement die deutsch-französischen Kulturbeziehungen geprägt haben."

    Unter D findet sich das reizvolle Stichwort DDR. Ulrich Pfeil skizziert in seinem einleitenden Text in Bezug auf Ostdeutschland das "zweifache deutsche Frankreichbild", in dem die DDR-Oberen das Frankreich der Brigitte Bardot und der France Galle als "erogene Zone der westlichen Gesellschaft" betrachteten, während sich die Intellektuellen durch Sartre und Camus gestärkt sahen.

    Joachim Umlauf: "Wie überhaupt natürlich die ganze politische Auseinandersetzung zwischen links und rechts zwischen einem stark kommunistisch geprägten Frankreich, das sich teils der DDR verwandter fühlte als der neuen westdeutschen Bundesrepublik, eine große Rolle spielt."

    Einordnung in den politischen, gesellschaftlichen Rahmen; wissenschaftliche Unterfütterung, ein Nachschlagewerk – all das steckt im" Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945". Dass auch das aktuelle Aufflammen antideutscher Stereotypen in Frankreich nicht unterschlagen wird, zeigt: Es lohnt sich mehr denn je, nachzuschlagen. Das Lexikon führt, mitten in der europäischen Sinnkrise, vor Augen, was geleistet ist und was auf dem Spiel steht.

    Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf (Hg): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945.
    Verlag Gunter Narr, 512 Seiten, 49 Euro
    ISBN: 978-3-823-36693-5