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Ein Klangchaos

In der neuen Choreographie erteilt Regisseur Tim Etchells der Deutungsmacht 'Sprache' wieder mal eine Absage. Stattdessen gibt es eine bizarre, sich ständig ändernde Mixtur aus Geräuschen. Doch hin und wieder blitzt auch die bissige Komik des Ensembles auf.

Von Nicole Strecker | 06.09.2013
    Sprachunterricht bei Forced Entertainment. 14 Performer sitzen artig auf Klassenzimmerstühlen und plappern die Aussagen von zwei Kollegen nach im Verfahren der seit der Occupy-Bewegung bekannten Human Microphones. Nur fehlt der verbalisierten Welterklärung hier gänzlich die Konsistenz, sie verkündet gleichermaßen den philosophischen Nihilismus wie den Nonsense.

    Wer Geschichten erzählen will, braucht Worte. Er braucht Aussagen, Ideen, Bedeutungen. Aber so richtig reibungslos hat das Geschichtenerzählen ja noch nie geklappt bei Forced Entertainment. Mal uferte die Erzählstunde aus zum Märchenmarathon, mal fehlte sämtlichen Geschichten auf der Bühne der Schluss. In ihren "Last Adventures" nun verliert sich der Text gleich ganz in der Kakophonie. In einer Ecke der Spielfläche beginnt nach einer Weile der Musiker Tarek Atoui hinter seinem Mischpult zu zappeln. Seine Körperbewegungen erzeugen wie bei einem Theremin Sounds - allerdings keine langgezogenen Geistertöne, sondern eine bizarre, sich ständig ändernde Mixtur aus Geräuschen: elektronisches Fiepen, ein asiatisches Zupfinstrument, eine einsame Trompete, Senderstörung. Ein Klangchaos, das die Sätze der Performer unter sich begräbt.

    Regisseur Tim Etchells erteilt der Deutungsmacht 'Sprache' wieder mal eine Absage, wie überhaupt alles, was an diesem Abend irgendetwas aussagen, meinen oder bedeuten könnte, im nächsten Moment ad absurdum geführt wird. Das hat die populäre Gruppe aus Großbritannien eigentlich schon immer getan, nur diesmal ist es dem Ensemble offenbar ziemlich ernst mit dem Zerfall von Sinn und Ziel - und Forced Entertainment ist irgendwie das Entertainment im Anti-Repräsentationstheater verloren gegangen. In allzu lang geratenen Passagen tragen die Akteure Kulissenteile durch die stilvoll verwitterte Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck. Laubsägearbeiten in Wölkchen-, Wald- und Wellenform, die dank der Bewegungen der Performer in wohlorganisierten Gruppenarrangements im Raum tänzeln und Schatten an die Wand werfen wie Mobiles im Kinderzimmer.

    Ein poetisches Bild, aber auch wieder nicht so bewegend, dass man lange über die Erkenntnis, "ein Wölkchen ist ein Wölkchen ist ein Wölkchen" grübeln möchte. Wirklich gelungen ist der Abend deshalb nur im Mittelteil, wenn Etchells sich im Figurenfundus der Fiktionen bedient und einen Clash der Illusionen inszeniert. Dann kramen die Performer Requisiten und Plunder aus zwei Kisten am Spielfeldrand. Sie verwandeln sich in zerfledderte Feen und Könige, in silber-glitzernde Pappschachtel-Roboter und zerlumpte Soldaten mit Blechkochtöpfen als Helmen auf dem Kopf. Es entsteht ein wunderbar verschrobenes Wimmelbild über die prominente Darstellung von Krieg, Gewalt und Grauen in Märchen, Fantasy oder Science Fiction.

    Und hier blitzt auch die bissige Komik des Ensembles wieder auf, wenn ein paar Performer in den schon von früheren Forced-Entertainment-Produktionen bekannten Skelettkostümen ratlos herumstehen als personifizierter Tod, der angesichts der metzelnden Meute niemanden mehr holen muss. Der Mensch - er schafft sich seine eigenen Höllen.


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