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Ein kleiner Junge und die Welt der Bücher

Die spanische Autorin Almudena Grandes setzt sich in ihren Romanen häufig mit den Folgen des Spanischen Bürgerkriegs und der Diktatur Francos auseinander. Sie will die Erinnerung daran wach halten. In ihrem neuen Buch steht ein zehnjähriger Junge im Mittelpunkt, dessen Vater ein Anhänger Francos ist.

Von Cornelia Staudacher | 16.07.2013
    Der neue Roman spielt in den Jahren zwischen 1947 und 1949 in Fuensanta de Martos, einem andalusischen Dorf zwischen Granada und Madrid. Seine Hauptperson ist Nino, ein zehnjähriger Junge. Er wohnt mit seinen Eltern in einer Polizeikaserne. Als Polizist bei der Guardia Civil ist sein Vater ein Gefolgsmann Francos und der Falange. Obwohl der Krieg seit acht Jahren beendet ist, werden die Gegner des Regimes - Republikaner, Kommunisten, Partisanen - noch immer mit äußerster Brutalität verfolgt. Sie werden geprügelt, gefoltert oder hinterrücks erschossen. Die Schreie der Gefangenen und Gefolterten, die tags wie nachts durch das Polizeigebäude hallen, machen dem Knaben, der ein aufmerksamer Beobachter ist, Angst. Und die schwarzen Stofffetzen, die als Ausdruck der Trauer der Dorfbewohner auf den Terrassen der Häuser hängen, bringt er in unmittelbaren Zusammenhang zu den von seinem Vater verübten Gräueltaten. Sein Leben, so heißt es einmal, war "ein zäher, rötlicher Albtraum, gespickt mit Schreien, Schlägen und Blut."

    "Die Eltern sind wichtig für Nino wie für jedes Kind. Besonders die Mutter, sie ist wichtig als eine Art Erdung, denn sie schenkt den Dingen Beachtung, sie erkennt die Realität, und durch sie lernt auch der Junge, die Realität wahrzunehmen. Der Vater ist Polizist, seine Welt ist die Uniform, sind die Waffen, aber die Mutter ist Teil des Dorfes und das ist für Nino sehr wichtig. Wenn Nino nicht das Kind eines Guardia Civil gewesen wäre, wäre ihm ja all das nicht passiert. Aber er lebt in einem Haus, in dem die bedingungslose Unterwerfung unter die Autorität wie selbstverständlich zum Alltag gehört. Was ihm fehlt, hat mit Freiheit zu tun. Nino lebt wie in einem Käfig."

    Aus diesem Käfig befreit ihn die Bekanntschaft mit Dona Elena, durch die er die Welt der Bücher kennenlernt, in denen von Freiheit und Abenteuern die Rede ist, und Pepe, ein geheimnisvoller Fremder – er stammt aus Portugal -, der sich in der abgelegenen Mühle einquartiert hat und sein Freund und Vorbild wird. Durch ihn erfährt er auch von den Partisanen, die sich in den Bergen versteckt halten und nachts manchmal ins Dorf kommen, um ihre Frauen zu besuchen, und am Morgen wieder verschwunden sind. In der Vorstellung des Jungen verbinden sich diese Helden mit denen der Abenteuerromane von Jules Verne und Stevenson. "El lector de Julio Verne", der Leser von Jules Verne ist der Originaltitel des Romans.

    "Nino hat Pech und lebt in einer unglückseligen Zeit. Bevor er die Bibliothek von Dona Elena entdeckte, lebte er in einer Welt, die ihm kein Mittel an die Hand gab, sich selbst zu behaupten und eine Wahrheit für sich zu finden, die anders ist als die vorgegebene Brutalität. Bis er plötzlich das Haus mit den vielen Hundert Büchern entdeckt, unter ihnen viele Abenteuerbücher, und die Frau kennenlernt, Dona Elena, die diese Bücher verleiht. Die Bücher erscheinen ihm wie eine Waffe; durch sie fühlt er sich stark und fähig, an einem anderen Ort zu leben, sie sind eine Möglichkeit zu entkommen, von hier fortzugehen und an einem anderen Ort glücklicher zu werden, ein interessanteres Leben zu führen und andere Formen zu finden, die Welt zu begreifen. Die Literatur ist von nun ein Teil seiner Welt."

    Die Geschichte seiner Adoleszenz in dramatischen Zeiten geht zurück auf die Berichte eines Freundes von Almudena Grandes, der ihr von seiner Kindheit und Jugend als Sohn eines Polizisten in den 40er-Jahren in einem andalusischen Dorf erzählte. Aber die Entscheidung, einen zehnjährigen Jungen in den Mittelpunkt des Romans zu stellen, hat gleichzeitig eine poetologische Konsequenz für die Erzählweise und Atmosphäre des Romans.

    "Zunächst einmal hat der Roman einen biografischen Hintergrund eines Freundes von mir. Dessen Kindheit hat mir den Weg zu dem Roman eröffnet. Und außerdem würde ich den Roman aus der Perspektive eines Erwachsenen erzählen, wäre er viel furchtbarer und blutrünstiger, voller Tod und Gewalt. Weil jedoch der Erzähler ein Junge ist und die Welt durch seine Augen gesehen wird, kann der Schmerz dargestellt werden, ohne dass es allzu gewaltsam und unangenehm ist. Das ist sehr wichtig für mich."

    So wird Ninos Dorf, beschrieben aus seiner Perspektive, zum Mikrokosmos der zwiegespaltenen Gesellschaft des franquistischen Spanien. Mit eindringlicher Bildhaftigkeit, in einem überbordenden, gelegentlich pathetischen Stil schildert Almudena Grandes die zur Alltäglichkeit gewordene Gewalt auf der einen und die Normalität des Dorflebens auf der anderen Seite: Jene "dämlichen Nachmittage", wie sie sie nennt, an denen sich die Männer, vor ihrer Bar sitzend, untermalt vom Klackern der Absätze der hochhackigen Schuhe der jungen Frauen auf dem Straßenpflaster, die Zeit mit Boshaftigkeiten vertreiben, ebenso wie die redseligen Gespräche der Frauen auf dem Marktplatz oder beim Waschen der Wäsche im Bach.

    Der Roman ist eine Mischung aus Realität und Fiktion, eine Art Geschichtsschreibung auf der Basis persönlicher Erlebnisse und Empfindungen. Über die affektive Ebene zeichnet Almudena Grandes ein Bild der damaligen Zeit, wobei sie sich ihrer Subjektivität und eindeutigen Parteilichkeit nicht enthält. So wie sie auch in Interviews stets für die Opfer der Diktatur Partei ergreift. Ihre besondere Aufmerksamkeit und Sympathie aber gilt Nino, diesem offenen, neugierigen, manchmal vorwitzigen Jungen, in dem schon der widerständige Kämpfer und Antifaschist zu erkennen ist, der später einmal bereit sein wird, im Namen der Menschlichkeit der Barbarei den Kampf anzusagen.


    Almudena Grandes: "Der Feind meines Vaters", Roman. Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda, Hanser Verlag, München 2013, 400 Seiten, 19,90 Euro